Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Man hat die Antike eine Kultur des Leibes, die nordische eine Kultur des Geistes genannt, nicht ohne den Hintergedanken, damit die eine zugunsten der andern zu entwerten. So trivial der im Renaissancegeschmack gehaltene Gegensatz von antik und modern, heidnisch und christlich zumeist gemeint ist, so hätte er doch zu entscheidenden Aufschlüssen führen können, vorausgesetzt, daß man hinter der Formel ihren Ursprung zu finden verstand.

Ist die Umwelt des Menschen, gleichviel was sie sonst noch sein mag, ein Makrokosmos in bezug auf einen Mikrokosmos, ein ungeheurer Inbegriff von Symbolen, so mußte auch der Mensch selbst, soweit er dem Gewebe des Wirklichen angehört, soweit er Erscheinung ist, von dieser Symbolik ergriffen werden. Was war es aber, das am Eindruck des Menschen auf seinesgleichen den Rang eines Symbols beanspruchen, sein Wesen und den Sinn seines Daseins in sich sammeln und greifbar vor Augen stellen durfte? Die Antwort gibt die Kunst.

Aber die Antwort mußte in jeder Kultur eine andre sein. Jede hat einen andern Eindruck vom Leben, weil jede anders lebt. Es ist für das Bild des Menschlichen, das metaphysische wie das ethische und künstlerische, schlechthin entscheidend, ob der Einzelne sich als Körper unter Körpern oder als Mitte eines unendlichen Raumes fühlt, ob er grübelnd die Einsamkeit seines Ich oder dessen substanzielle Teilhaberschaft am allgemeinen Consensus erkennt, ob er durch den Takt und Gang seines Lebens das Gerichtetsein betont oder verleugnet. In alledem kommt das Ursymbol der großen Kulturen zum Vorschein. Es sind Weltgefühle, aber die Lebensideale stimmen mit ihnen überein. Aus dem antiken Ideal folgte die rückhaltlose Hinnahme des sinnlichen Augenscheins, aus dem abendländischen dessen ebenso leidenschaftliche Überwindung. Die apollinische Seele, euklidisch, punktförmig, empfand den empirischen, sichtbaren Leib als den vollkommenen Ausdruck ihrer Art, zu sein; die faustische, in alle Fernen schweifend, fand diesen Ausdruck nicht in der Person, dem soma, sondern in der Persönlichkeit, dem Charakter oder wie man es nennen will. »Seele« – das war für den echten Hellenen zuletzt die Form seines Leibes. So hat Aristoteles sie definiert. »Leib« – das war für den faustischen Menschen das Gefäß der Seele. So empfand Goethe.

Aber daraus ergibt sich nun die Wahl und Ausgestaltung sehr verschiedener menschenbildender Künste. Wenn Gluck den Schmerz der Armida durch eine Melodie und den trostlos nagenden Ton der begleitenden Instrumente ausdrückt, so geschieht das bei den pergamenischen Skulpturen durch die Sprache der gesamten Muskulatur. Die hellenistischen Bildnisse suchen durch den Bau des Kopfes einen geistigen Typus zu zeichnen. In China geben die Köpfe der Heiligen von Ling-yän-si durch den Blick und das Spiel der Mundwinkel Kunde von einem ganz persönlichen Innenleben.

Der antike Hang, den Leib allein reden zu lassen, folgt durchaus nicht aus einem Überschwang der Rasse. Es ist nicht die Weihe des Blutes – das der Mensch der σωφροσυνη nicht zu verschwenden hatteMan braucht da nur griechische Künstler neben Rubens und Rabelais zu stellen. –, nicht, wie Nietzsche meinte, die orgiastische Freude an ungebändigter Energie und überschäumender Leidenschaft. Das alles würde eher zu den Idealen des germanisch-katholischen und indischen Rittertums gehören. Was der apollinische Mensch und seine Kunst für sich allein in Anspruch nehmen dürfen, ist lediglich die Apotheose der leiblichen Erscheinung im wörtlichen Sinne, das rhythmische Ebenmaß des Gliederbaus und die harmonische Ausbildung der Muskulatur. Das ist nicht heidnisch im Gegensatz zum Christentum. Das ist attisch im Gegensatz zum Barock. Erst der Mensch des Barock, mochte er Christ oder Heide, Rationalist oder Mönch sein, stand diesem Kultus des betastbaren soma fern bis zur äußersten körperlichen Unreinlichkeit, wie sie in der Umgebung Ludwigs XIV.Von dem eine seiner Geliebten klagte, qu'il puait comme une charogne. Übrigens haben gerade Musiker immer im Rufe der Unreinlichkeit gestanden. herrschte, deren Kostüm von der Allongeperücke bis zu den Spitzenmanschetten und Schnallenschuhen den Körper mit einem ornamentalen Gespinst ganz überzog.

Und so entwickelte sich die antike Plastik, nachdem sie die Gestalt von der gesehenen oder gefühlten Wand abgelöst und frei, beziehungslos auf die Ebene gestellt hatte, wo sie als Körper unter Körpern allseitig betrachtet werden durfte, folgerichtig weiter bis zur ausschließlichen Darstellung des nackten Leibes. Und zwar, im Gegensatz zu jeder andern Art von Plastik der gesamten Kunstgeschichte, durch die anatomisch überzeugende Behandlung seiner Grenzflächen. Damit ist das euklidische Weltprinzip bis zum äußersten getrieben. Jede Hülle hätte noch einen leisen Widerspruch gegen die apollinische Erscheinung, eine wenn auch noch so zaghafte Andeutung des umgebenden Raumes enthalten.

Das Ornamentale im großen Sinne liegt ganz in den Proportionen des AufbausVom feierlichen Kanon des Polyklet bis zum eleganten des Lysipp vollzieht sich dieselbe Entlastung des Aufbaus wie in dem Fortschreiten von der dorischen zur korinthischen Säulenordnung. Das euklidische Gefühl beginnt sich zu lösen. und dem Ausgleich der Achsen nach Stütze und Last. Der stehende, sitzende, liegende, jedenfalls in sich gefestigte Leib besitzt ebenso wie der Peripteros kein Innen, das heißt keine »Seele«. Die ringsum geschlossene Säulenstellung bedeutet dasselbe wie das allseitig durchgebildete Muskelrelief: beide enthalten die ganze Formensprache des Werks.

Es ist ein streng metaphysischer Grund, das Bedürfnis nach einem Lebenssymbol ersten Ranges, das die Hellenen der Spätzeit zu dieser Kunst führte, deren Enge allein durch die Meisterschaft ihrer Leistungen verdeckt worden ist. Denn es ist nicht wahr, daß diese Sprache der Außenfläche die vollkommenste, natürlichste oder auch nur nächstliegende der Menschendarstellung sei. Das Gegenteil ist der Fall. Hätte nicht die Renaissance mit dem vollen Pathos ihrer Theorie und einer gewaltigen Täuschung über ihre eignen Tendenzen unser Urteil bis heute beherrscht, während uns die Plastik selbst innerlich ganz fremd geworden war, so hätten wir das Absonderliche des attischen Stils längst bemerkt. Der ägyptische und chinesische Bildhauer dachten gar nicht daran, den anatomischen Außenbau zur Grundlage des von ihnen gewollten Ausdrucks zu machen. Für gotische Bildwerke endlich kommt die Sprache der Muskeln nirgends in Frage. Dies menschliche Rankenwerk, das in unzähligen Statuen und Reliefgestalten – an der Kathedrale von Chartres sind es mehr als zehntausend – das gewaltige Steingefüge umspinnt, ist nicht nur Ornament; es dient schon gegen 1200 zum Ausdruck von Entwürfen, vor denen selbst das Größte verschwindet, was die antike Plastik geschaffen hat. Denn diese Scharen von Wesen bilden eine tragische Einheit. Hier hat, noch vor Dante, der Norden das historische Gefühl der faustischen Seele, wie es im Ursakrament der BußeVgl. Bd. II, S. 918f. den geistigen Ausdruck und zugleich – in der Beichte – die große Schule findet, zu einem Weltendrama verdichtet. Was Joachim von Floris eben jetzt in seinem apulischen Kloster schaute: das Bild der Welt nicht als Kosmos, sondern als Heilsgeschichte in der Folge von drei Weltaltern, das entstand in Chartres, Reims, Amiens und Paris als Bilderfolge vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht. Jede der Szenen und der großen symbolischen Gestalten erhielt ihren bedeutsamen Platz an dem heiligen Bau. Jede spielte ihre Rolle in dem ungeheuren Weltgedicht. Und ebenso empfand nun jeder einzelne Mensch, wie sein Lebenslauf als Ornament dem Plan der Heilsgeschichte eingefügt war, und er erlebte diesen persönlichen Zusammenhang in den Formen der Buße und Beichte. Deshalb standen diese Körper aus Stein nicht nur im Dienste der Architektur; sie bedeuteten noch etwas Tiefes und Einziges für sich selbst, das auch die Grabdenkmäler seit den Königsgräbern von St. Denis mit immer wachsender Innerlichkeit zum Ausdruck bringen: sie reden von einer Persönlichkeit. Was dem antiken Menschen die vollkommene Durchbildung der körperlichen Oberfläche bedeutete – denn das ist der letzte Sinn allen anatomischen Ehrgeizes der griechischen Künstler: das Wesen der lebendigen Erscheinung durch die Gestaltung ihrer Grenzflächen zu erschöpfen –, das wurde für den faustischen Menschen folgerichtig das Porträt, der eigentlichste und einzig erschöpfende Ausdruck seines Lebensgefühls. Die hellenische Behandlung des Nackten ist der große Ausnahmefall, und sie hat nur dieses eine Mal zu einer Kunst von hohem Range geführt.In andern Landschaften wie Altägypten oder Japan – um eine besonders törichte und flache Begründung vorwegzunehmen – war der Anblick nackter Menschen viel alltäglicher als gerade in Athen, aber der heutige japanische Kunstkenner empfindet die betonte Darstellung des Nackten als lächerlich und banal. Der Akt kommt vor, wie er in der Darstellung von Adam und Eva auch schon am Bamberger Dom vorkommt, aber als Gegenstand ohne irgendwie bedeutende Möglichkeiten.

Man hat beides, Akt und Porträt, noch nie als Gegensatz empfunden und deshalb beide noch nie in der ganzen Tiefe ihrer kunstgeschichtlichen Erscheinung aufgefaßt. Und trotzdem offenbart sich der volle Gegensatz zweier Welten erst im Widerstreit dieser Formideale. Dort wird in der Haltung des Außenbaus ein Wesen zur Schau gestellt. Hier redet der menschliche Innenbau, die Seele, wie das Innere eines Doms durch die Fassade, das »Gesicht« zu uns. Eine Moschee hat kein Gesicht und deshalb mußte der Bildersturm der Moslime und christlichen Paulikianer, der unter Leo III. auch über Byzanz dahinfuhr, das Bildnishafte aus der bildenden Kunst vertreiben, die von da an einen festen Schatz menschlicher Arabesken besaß. In Ägypten gleicht das Gesicht der Statue dem Pylon als dem Antlitz der Tempelanlage, ein mächtiges Aufragen aus der Steinmasse des Leibes, wie es die »Hyksossphinx von Tanis«, das Porträt Amenemhets III., zeigt. In China gleicht das Gesicht einer Landschaft voller Runzeln und kleiner Merkmale, die etwas bedeuten. Für uns aber ist das Bildnis Musik. Der Blick, das Spiel des Mundes, die Haltung des Kopfes, die Hände – das ist eine Fuge von zartester Bedeutung, die dem verstehenden Betrachter vielstimmig entgegen klingt.

Um aber die Bedeutung des abendländischen Porträts selbst noch im Gegensatz zum ägyptischen und chinesischen zu erkennen, muß man eine tiefe Wandlung in den Sprachen des Abendlandes betrachten, die seit der Merowingerzeit die Heraufkunft eines neuen Lebensgefühls ankündigt. Sie erstreckt sich gleichmäßig auf das Altgermanische und das Vulgärlatein, für beide aber nur auf die Sprachen innerhalb der Mutterlandschaft der nahenden Kultur, also auf Norwegisch und Spanisch, aber nicht auf das Rumänische. Aus dem Geist der Sprachen und der »Einwirkung« der einen auf die andre kann das nicht erklärt werden, nur aus dem Geist des Menschentums, das den Wortgebrauch zum Symbol erhebt. Statt sum, gotisch im, sagt man: ich bin, I am, je suis; statt fecisti heißt es: tu habes factum, tu as fait, du habes gitân, und weiterhin: daz wîp, un homme, man hat. Das war bis jetzt ein Rätsel,Kluge, Deutsche Sprachgeschichte (1920), S. 202 ff. weil man Sprachfamilien als Wesen ansah. Es verliert das Geheimnisvolle, wenn man im Satzbau das Abbild einer Seele entdeckt. Hier beginnt die faustische Seele grammatische Zustände verschiedenster Herkunft für sich umzuprägen. Dies hervortretende »Ich« enthält die erste Morgenröte jener Idee der Persönlichkeit, die viel später das Sakrament der Buße und persönlichen Lossprechung schuf. Dieses » ego habeo factum«, die Einschaltung der Hilfszeitwörter haben und sein zwischen einen Täter und eine Tat an Stelle des feci, eines bewegten Leibes, ersetzt die Welt von Körpern durch eine solche von Funktionen zwischen Kraftmittelpunkten, die Statik des Satzes durch Dynamik. Und dieses »Ich« und »Du« löst das Geheimnis des gotischen Porträts. Ein hellenistisches Bildnis ist der Typus einer Haltung, kein »Du«, keine Beichte vor dem, der es schafft oder versteht. Unsre Bildnisse schildern etwas Einzigartiges, das einmal war und nie wiederkehrt, eine Lebensgeschichte im Ausdruck eines Augenblicks, eine Weltmitte, für die alles andre ihre Welt ist, so wie das »Ich« zur Kraftmitte des faustischen Satzes wird.

Es war gezeigt worden, wie das Erlebnis des Ausgedehnten seinen Ursprung in der lebendigen Richtung, der Zeit, dem Schicksal hat. Im vollendeten Sein des freistehenden nackten Körpers wird das Tiefenerlebnis abgeschnitten; der »Blick« eines Bildnisses leitet es ins Übersinnlich-Unendliche. Deshalb ist die antike Plastik eine Kunst der Nähe, des Betastbaren, des Zeitlosen. Deshalb liebt sie Motive der kurzen, allerkürzesten Ruhe zwischen zwei Bewegungen, den letzten Augenblick vor dem Wurf des Diskos, den ersten nach dem Flug der Nike des Paionios, wo der Schwung des Leibes zu Ende ist und die wehenden Gewänder noch nicht fallen, eine Haltung, die gleichweit von Dauer und Richtung entfernt ist, abgesetzt gegen Zukunft und Vergangenheit. Veni, vidi, vici – das ist solch eine Haltung. Ich – kam, ich – sah, ich – siegte: da wird etwas noch einmal im Aufbau des Satzes.

Das Tiefenerlebnis ist ein Werden und bewirkt ein Gewordenes; es bedeutet Zeit und ruft den Raum hervor; es ist kosmisch und historisch zugleich. Die lebendige Richtung geht zum Horizont wie zur Zukunft. Von Zukunft träumt schon die Madonna der St. Annenpforte von Notre-Dame (1230) und später die »Madonna mit der Erbsenblüte« des Meisters Wilhelm (1400). Über ein Schicksal sinnt, lange vor dem Moses des Michelangelo, der des Klaus Sluter am Brunnen von Dijon (1390), und auch den Sibyllen der sixtinischen Kapelle gehen die des Giovanni Pisano an der Kanzel in Pistoia (1300) vorauf. Und endlich ruhen die Gestalten auf allen Grabdenkmälern der Gotik von einem langen Schicksal aus, ganz im Gegensatz zu dem zeitlosen Ernst und Spiel, wie es die Grabstelen der attischen Friedhöfe schildern.A. Conze, Die attischen Grabreliefs (1893 ff.). Das abendländische Porträt ist unendlich in jedem Sinne, von 1200 an, wo es aus dem Stein erwacht, bis ins 17. Jahrhundert, wo es ganz Musik wird. Es faßt den Menschen nicht nur als Mittelpunkt des natürlichen Weltalls, dessen Erscheinung von seinem Sein Gestalt und Bedeutung empfängt; es faßt ihn vor allem als Mittelpunkt der Welt als Geschichte. Die antike Statue ist ein Stück gegenwärtiger Natur und nichts außerdem. Die antike Dichtung gibt Statuen in Worten. Hier liegt die Wurzel für unser Gefühl, das den Griechen eine reine Hingabe an die Natur zuschreibt. Wir werden uns nie ganz von dem Empfinden befreien, daß der gotische Stil neben dem griechischen Unnatur ist, nämlich mehr als »Natur«. Nur verhehlen wir uns, daß darin das Empfinden eines Mangels bei den Griechen zu Worte kommt. Die abendländische Formensprache ist reicher. Das Porträt gehört der Natur und der Geschichte an. Ein Grabmal der großen Niederländer, die seit 1260 an den Königsgräbern in St. Denis arbeiteten, ein Bildnis von Holbein, Tizian, Rembrandt oder Goya ist eine Biographie; ein Selbstporträt ist eine geschichtliche Beichte. Beichten heißt nicht eine Tat eingestehen, sondern die innere Geschichte dieser Tat dem Richter vorlegen. Die Tat ist offenkundig; ihre Wurzeln sind das persönliche Geheimnis. Wenn der Protestant und der Freigeist sich gegen die Ohrenbeichte auflehnen, so kommt es ihnen nicht zum Bewußtsein, daß sie nicht die Idee, sondern nur ihre äußere Fassung verwerfen. Sie weigern sich, dem Priester zu beichten, aber sie beichten sich selbst, dem Freunde oder der Menge. Die gesamte nordische Poesie ist eine laute Bekenntniskunst. Das Porträt Rembrandts und die Musik Beethovens sind es auch. Was Raffael, Calderon und Haydn dem Priester mitteilten, haben jene in die Sprache ihrer Werke übertragen. Wer schweigen muß, weil ihm die Größe der Form versagt blieb, um auch das letzte aufzunehmen, geht zugrunde wie Hölderlin. Der abendländische Mensch lebt mit dem Bewußtsein des Werdens, mit dem ständigen Blick auf Vergangenheit und Zukunft. Der Grieche lebt punktförmig, unhistorisch, somatisch. Kein Grieche wäre einer echten Selbstkritik fähig gewesen. Auch das liegt in der Erscheinung der nackten Statue, dem vollkommen unhistorischen Abbild eines Menschen. Ein Selbstporträt ist das genaue Seitenstück der Selbstbiographie in der Art des »Werther« und »Tasso«, und das eine der Antike so fremd wie das andre. Es gibt nichts Unpersönlicheres als die griechische Kunst. Daß Skopas oder Lysippos ein Bildnis von sich selbst gemacht hätten, kann man sich gar nicht vorstellen.

Man betrachte bei Phidias, bei Polyklet, bei irgendeinem andern Meister nach den Perserkriegen die Wölbung der Stirn, die Lippen, den Ansatz der Nase, das blind gehaltene Auge – wie das alles der Ausdruck einer ganz unpersönlichen, pflanzenhaften, seelenlosen Lebenshaltung ist. Man frage sich, ob diese Formensprache imstande wäre, ein inneres Erlebnis auch nur anzudeuten. Es gab nie eine Kunst, für welche so ausschließlich nur die mit dem Auge betastbare Oberfläche von Körpern in Betracht kam. Bei Michelangelo, der sich mit seiner ganzen Leidenschaft dem Anatomischen ergab, ist trotzdem die leibliche Erscheinung stets der Ausdruck der Arbeit aller Knochen, Sehnen, Organe des Innern; das Lebendige unter der Haut tritt in Erscheinung, ohne daß es gewollt war. Es ist eine Physiognomik, keine Systematik der Muskulatur, die er ins Leben rief. Aber damit war bereits das persönliche Schicksal, nicht der stoffliche Leib der eigentliche Ausgangspunkt des Formgefühls geworden. Es liegt mehr Psychologie (und weniger »Natur«) im Arm eines seiner Sklaven als im Kopfe des praxitelischen Hermes. Beim Diskobolos des Myron ist die äußere Form ganz für sich da ohne alle Beziehung auf die inneren Organe, geschweige denn die »Seele«. Man vergleiche mit den besten Arbeiten dieser Zeit die altägyptischen Statuen etwa des Dorfschulzen oder des Königs Phiops, oder andrerseits den David des Donatello, und man wird verstehen, was es heißt, einen Körper nur seiner stofflichen Grenze nach anerkennen. Alles, was bei den Griechen den Kopf als den Ausdruck von etwas Innerlichem und Geistigem erscheinen lassen könnte, ist peinlich vermieden. Gerade bei Myron tritt das hervor. Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, so erscheinen die besten Köpfe der Blütezeit, aus der Perspektive unsres gerade entgegengesetzten Weltgefühls betrachtet, nach einer Weile dumm und stumpf. Das Biographische, das Schicksal fehlt ihnen. Nicht umsonst waren ikonische Statuen als Weihgeschenke in dieser Zeit verpönt. Die Siegerstatuen in Olympia sind unpersönliche Darstellungen einer Kampfhaltung gewesen. Es gibt bis auf Lysippos herab nicht einen echten Charakterkopf. Es gibt nur Masken. Oder man betrachte die Gestalt im ganzen: mit welcher Meisterschaft ist da der Eindruck vermieden, als ob der Kopf der bevorzugte Teil des Leibes sei. Deshalb sind diese Köpfe so klein, so unbedeutend in der Haltung, so wenig durchmodelliert. Überall sind sie durchaus als Teil des Körpers, wie Arm und Schenkel, niemals als Sitz und Symbol eines Ich geformt.

Man wird endlich sogar finden, daß der weibliche, selbst weibische Eindruck vieler dieser Köpfe des 5. und mehr noch des 4. JahrhundertsDer Apollo mit der Kithara in München wurde von Winckelmann und seiner Zeit als Muse bewundert und gepriesen. Ein Athenekopf nach Phidias in Bologna galt noch vor kurzem als der eines Feldherrn. In einer physiognomischen Kunst wie der des Barock wären solche Irrungen völlig unmöglich. das allerdings ungewollte Ergebnis der Bestrebung ist, jede persönliche Charakteristik gänzlich auszuschließen. Man ist vielleicht zu dem Schlusse berechtigt, daß der ideale Gesichtstypus dieser Kunst, der sicherlich nicht der des Volkes war, wie die spätere naturalistische Bildnisplastik sofort beweist, als Summe von lauter Verneinungen, des Individuellen und Geschichtlichen nämlich, also aus der Beschränkung der Gesichtsbildung auf das rein Euklidische entstanden ist.

Das Porträt der großen Barockzeit behandelt dagegen mit allen Mitteln des malerischen Kontrapunkts, die wir als Träger räumlicher und historischer Fernen kennen gelernt haben, durch die in Braun getauchte Atmosphäre, die Perspektive, den bewegten Pinselstrich, die zitternden Farbentöne und Lichter den Leib als etwas an sich Unwirkliches, als ausdrucksvolle Hülle eines raumbeherrschenden Ich. (Die Freskotechnik, euklidisch wie sie ist, schließt die Lösung einer solchen Aufgabe vollkommen aus.) Das ganze Gemälde hat nur das eine Thema: Seele. Man achte darauf, wie bei Rembrandt (etwa auf der Radierung des Bürgermeisters Six oder dem Architektenbildnis in Kassel) und zuletzt noch einmal bei Marées und Leibl (auf dem Bildnis der Frau Gedon) die Hände und die Stirn gemalt sind, durchgeistigt bis zur Auflösung der Materie, visionär, voller Lyrik – und vergleiche damit die Hand und die Stirn eines Apollo oder Poseidon aus der Zeit des Perikles.

Deshalb war es ein echtes und tiefes Empfinden der Gotik, den Leib zu verhüllen, nicht des Leibes wegen, sondern um in der Ornamentik der Gewandung eine Formensprache zu entwickeln, die mit der Sprache des Kopfes und der Hände wie eine Fuge des Lebens zusammenklang: ganz so verhielten sich die Stimmen im Kontrapunkt und im Barock der basso continuo zu den Oberstimmen des Orchesters. Bei Rembrandt ist es immer die Baßmelodie des Kostüms, über welcher die Motive des Kopfes spielen.

Die altägyptische Statue verneint wie die gotische Gewandfigur den Eigenwert des Leibes: diese durch die ganz ornamental behandelte Kleidung, deren Physiognomie die Sprache des Antlitzes und der Hände verstärkt, jene, indem sie den Körper – wie die Pyramide, den Obelisken – in einem mathematischen Schema hält und das Persönliche auf den Kopf, mit einer wenigstens in der Skulptur nie wieder erreichten Größe der Auffassung beschränkt. Der Faltenwurf soll in Athen den Sinn des Leibes offenbaren, im Norden ihn auflösen. Das Gewand wird dort zum Körper, hier zur Musik – dies ist der tiefe Gegensatz, der in Werken der Hochrenaissance zu einem schweigenden Kampf zwischen dem gewollten und dem unbewußt hervordringenden Ideal des Künstlers führt, in welchem das erste, antigotische, oft genug auf der Oberfläche, das zweite, von der Gotik zum Barock leitende, immer in der Tiefe siegt.


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