Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Man begreift nun, gerade aus dem Unterschied von Dom und Pyramidentempel trotz aller tief innerlichen Verwandtschaft, das gewaltige Phänomen der faustischen Seele, deren Tiefendrang sich nicht in das Ursymbol des Weges bannen ließ, sondern von den frühesten Anfängen an über alle Grenzen optisch gebundener Sinnlichkeit hinausstrebt. Kann etwas dem Sinne des ägyptischen Staates, dessen Tendenz man als eine erhabene Nüchternheit bezeichnen möchte, fremder sein als der politische Ehrgeiz der großen Sachsen-, Franken- und Staufenkaiser, die am Überfliegen aller staatlichen Wirklichkeiten zugrunde gingen? Die Anerkennung einer Grenze wäre ihnen gleichbedeutend mit der Herabwürdigung der Idee ihres Herrschertums gewesen. Hier tritt der unendliche Raum als Ursymbol in seiner ganzen unbeschreiblichen Macht in den Umkreis tätig-politischen Daseins, und man könnte zu den Gestalten der Ottonen, Konrads II., Heinrichs VI. und Friedrichs II., die Normannen als Eroberer Rußlands, Grönlands, Englands, Siziliens und beinahe auch Konstantinopels, und die großen Päpste Gregor VII. und Innocenz III. fügen, die alle ihre sichtbare Machtsphäre mit der damals bekannten Welt gleichsetzen wollten. Dies unterscheidet die homerischen Helden mit ihrem geographisch so genügsamen Gesichtskreis von den stets im Unendlichen schweifenden Helden der Grals-, Artus- und Siegfriedsage. Dies unterscheidet auch die Kreuzzüge, zu denen die Krieger von den Ufern der Elbe und Loire bis zu den Grenzen der bekannten Welt ausritten, von den geschichtlichen Ereignissen, welche der Ilias zugrunde liegen und auf deren örtliche Enge und Übersehbarkeit man aus dem Stil des antiken Seelentums mit Sicherheit schließen darf.

Die dorische Seele verwirklichte das Symbol des leibhaft gegenwärtigen Einzeldinges, indem sie auf alle großen und weitreichenden Schöpfungen Verzicht leistete. Es hat seinen guten Grund, wenn die erste nachmykenische Zeit unseren Archäologen nichts hinterlassen hat. Ihr endlich erreichter Ausdruck ist der dorische Tempel, der nur nach außen, als massives Gebilde in der Landschaft gelegen, wirkt und den künstlerisch überhaupt unbeachteten Raum in sich als das μη ον, das was gar nicht da sein sollte, verleugnet. Die ägyptische Säulenreihe trug die Decke eines Saales. Der Grieche entlehnte das Motiv und wandte es in seinem Sinne an, indem er den Bautypus wie einen Handschuh umkehrte. Die äußeren Säulenstellungen sind gewissermaßen Reste eines verneinten Innenraums.Es steht wohl außer Zweifel, daß die Griechen, als sie vom Antentempel zum Peripteros kamen, zur selben Zeit, wo die Rundplastik sich ebenfalls an unzweifelhaft ägyptischen Vorbildern vom Reliefmäßigen befreite, das noch den Apollofiguren anhaftet, unter dem mächtigen Eindruck ägyptischer Säulen reihen standen. Das läßt die Tatsache unberührt, daß das Motiv der antiken Säule und die antike Verwendung des Reihenprinzips etwas vollkommen Selbständiges sind.

Demgegenüber ließen die magische und die faustische Seele ihre steinernen Traumgebilde als Überwölbungen bedeutungsvoller Innenräume emporsteigen, deren Struktur den Geist zweier Mathematiken, der Algebra und der Analysis, vorwegnimmt. In der von Burgund und Flandern ausstrahlenden Bauweise bedeuten die Kreuzrippengewölbe mit ihren Stichkappen und Strebepfeilern eine Auflösung des geschlossenen, durch sinnlich-greifbare Grenzflächen bestimmten Raumes überhaupt.Des begrenzten Raumes, nicht des Steins: Dvorák, Histor. Zeitschrift 1918, S. 17 f. Im magischen Innenraum »sind die Fenster lediglich ein negatives Moment, eine in keiner Weise noch zur Kunstform fortgebildete Nutzform, derb ausgedrückt nichts als Löcher in der Wand«.Dehio, Gesch. d. d. Kunst I, S. 16. Wo sie praktisch unentbehrlich waren, wurden sie für den künstlerischen Eindruck durch Emporen verdeckt wie in der morgenländischen Basilika. Die Architektur des Fensters ist eins der bedeutendsten Symbole des faustischen Tiefenerlebnisses und gehört ihm allein. Hier wird der Wille fühlbar, aus dem Innern ins Grenzenlose zu dringen, wie es später die in diesen Wölbungen heimische Musik des Kontrapunktes wollte, deren körperlose Welt immer die der ersten Gotik geblieben ist. Wo auch in späteren Zeiten die polyphone Musik zu ihren höchsten Möglichkeiten emporstieg wie in der Matthäuspassion, der Eroica und Wagners Tristan und Parsifal, wurde sie mit innerster Notwendigkeit domhaft und kehrte zu ihrer Heimat, zur steinernen Sprache der Kreuzzugszeit zurück. Die ganze Wucht einer tiefsinnigen Ornamentik mit ihren seltsam schauerlichen Umbildungen von Pflanzen, Tier- und Menschenleibern (St. Pierre in Moissac), welche die abgrenzende Wirkung des Gesteins leugnet, welche alle Linien in Melodien und Figurationen eines Themas, alle Fassaden in vielstimmige Fugen, die Leiblichkeit der Statuen in Musik der Gewandfaltung auflöst, mußte zu Hilfe kommen, um jeden antiken Hauch von Körperlichem zu bannen. Erst dies gibt den riesigen Glasfenstern der Dome mit ihrer farbigen, durchleuchteten, also völlig stofflosen Malerei – eine Kunst, die sich niemals und nirgends wiederholt und die den stärksten überhaupt denkbaren Gegensatz zum antiken Fresko bildet – ihren tiefen Sinn. Er wird am deutlichsten etwa in der Sainte Chapelle zu Paris, in welcher neben dem leuchtenden Glas der Stein beinahe verschwunden ist. Im Gegensatz zum Fresko, dem mit der Wand körperlich verwachsenen Gemälde, dessen Farben als Materie wirken, finden wir hier Farben von der räumlichen Freiheit der Orgeltöne, völlig vom Medium einer tragenden Fläche gelöst, Gestalten, die frei im Unbegrenzten schweben. Mit dem faustischen Geiste dieser fast wandlosen, hochgewölbten, farbig durchschimmerten, zum Chore strebenden Kirchenschiffe vergleiche man die Wirkung arabischer – also altchristlich-byzantinischer – Kuppelbauten. Auch die über der Basilika oder dem Oktogon scheinbar frei schwebende Hängekuppel bedeutet eine Überwindung des antiken Prinzips der natürlichen Schwere, wie sie das Verhältnis von Säule und Architrav ausdrückt. Auch hier verleugnet sich alles Körperliche im Bau. Es gibt kein »Außen«. Aber um so entschiedener schließt die allseitig dichtgefügte Wand eine Höhle ein, aus der kein Blick, keine Hoffnung hinausdringt. Eine geisterhaft verwirrende Durchdringung der Formen von Kugel und Polygon, eine Last auf einem Steinring gewichtslos über dem Boden schwebend und das Innere dicht verschließend, alle tektonischen Linien verhüllt, kleine Öffnungen im höchsten Gewölbe, durch die ein ungewisses Licht hereinfällt, das die Wandung noch unerbittlicher betont – so stehen die Meisterwerke dieser Kunst, San Vitale in Ravenna, die Hagia Sophia in Byzanz, der Felsendom in Jerusalem vor uns. Statt der ägyptischen Reliefs mit ihrer reinen Flächenbehandlung, die jede in die seitliche Tiefe weisende Verkürzung peinlich meidet, statt der den äußeren Weltraum einbeziehenden Glasgemälde der Dome verkleiden hier flimmernde Mosaiken und Arabesken, in denen der Goldton vorherrscht, alle Wände und versenken die Höhle in einen märchenhaften ungewissen Schein, der in aller maurischen Kunst für den nordischen Menschen immer so verlockend geblieben ist.


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