Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Erst aus dem Urgefühl der Sehnsucht und dessen Verdeutlichung in der Schicksalsidee wird nunmehr das Zeitproblem zugänglich, dessen Gehalt, soweit er das Thema des Buches berührt, kurz umschrieben werden soll. Mit dem Worte Zeit wird immer etwas höchst Persönliches angerufen, das, was anfangs als das Eigne bezeichnet worden war, insofern es mit innerer Gewißheit als Gegensatz zu etwas Fremdem empfunden wird, das in, mit und unter den Eindrücken des Sinnenlebens auf das Einzelwesen eindringt. Das Eigne, das Schicksal, die Zeit sind Wechselworte.

Das Problem der Zeit ist wie das des Schicksals von allen auf die Systematik des Gewordenen eingeschränkten Denkern mit vollkommenem Unverständnis behandelt worden. In Kants berühmter Theorie ist von dem Merkmal des Gerichtetseins mit keinem Wort die Rede. Man hat Äußerungen darüber nicht einmal vermißt. Aber was ist das – Zeit als Strecke, Zeit ohne Richtung? Alles Lebendige besitzt – hier kann man sich nur wiederholen – » Leben«, Richtung, Triebe, Wollen, eine mit Sehnsucht aufs tiefste verwandte Bewegtheit, die mit der »Bewegung« des Physikers nicht das geringste zu tun hat. Das Lebendige ist unteilbar und nicht umkehrbar, einmalig, nie zu wiederholen und in seinem Verlaufe mechanisch völlig unbestimmbar: das alles gehört zur Wesenheit des Schicksals. Und »Zeit« – das, was man beim Klang des Wortes wirklich fühlt, was Musik besser verdeutlichen kann als Worte, Poesie besser als Prosa – hat im Unterschied vom toten Raume diesen organischen Wesenszug. Damit aber verschwindet die von Kant und allen andern geglaubte Möglichkeit, die Zeit neben dem Raum einer gleichartigen erkenntniskritischen Erwägung unterwerfen zu können. Raum ist ein Begriff. Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten, ein Klangsymbol, das man völlig mißversteht, wenn man es ebenfalls als Begriff wissenschaftlich zu behandeln sucht. Selbst das Wort Richtung, das sich nicht ersetzen läßt, ist geeignet, durch seinen optischen Gehalt irrezuführen. Der Vektorbegriff der Physik ist ein Beweis dafür.

Dem Urmenschen kann das Wort »Zeit« nichts bedeuten. Er lebt, ohne es durch den Gegensatz zu etwas anderem nötig zu haben. Er hat Zeit, aber er weiß nichts von ihr. Wir alle werden uns, indem wir wach sind, nur des Raumes, nicht der Zeit bewußt. Er »ist«, nämlich in und mit unsrer Sinnenwelt, und zwar als ein Sichausdehnen, solange wir träumerisch, triebhaft, schauend, »weise« vor uns hin leben, als Raum im strengen Sinne in den Augenblicken gespannter Aufmerksamkeit. »Die Zeit« dagegen ist eine Entdeckung, die wir erst denkend machen; wir erzeugen sie als Vorstellung oder Begriff, und noch viel später ahnen wir, daß wir selbst, insofern wir leben, die Zeit sind.Auch das Sinnenleben und Geistesleben ist Zeit; erst das Sinnen- und Geistes erlebnis, die Welt, ist raumhafter Natur. (Über die größere Nähe des Weiblichen zur Zeit vgl. Bd. II, S. 961 ff.). Erst das Weltverstehen hoher Kulturen entwirft unter dem mechanisierenden Eindruck einer »Natur«, aus dem Bewußtsein eines streng geordneten Räumlichen, Meßbaren, Begrifflichen das raumhafte Bild, das Phantom einer Zeit,Die deutsche Sprache besitzt – wie viele andre – in dem Worte Zeitraum ein Zeichen dafür, daß wir Richtung nur als Ausdehnung uns vorstellen können. das seinem Bedürfnis, alles zu begreifen, zu messen, kausal zu ordnen, genügen soll. Und dieser Trieb, der in jeder Kultur sehr früh erscheint, ein Zeichen verlorner Unschuld des Daseins, schafft jenseits des echten Lebensgefühls das, was alle Kultursprachen Zeit nennen und was dem städtischen Geiste zu einer völlig anorganischen, ebenso irreführenden als geläufigen Größe geworden ist. Bedeuten aber die identischen Merkmale der Ausdehnung, Grenze und Kausalität eine Beschwörung und Bannung der fremden Mächte durch das eigne Seelentum – Goethe spricht einmal von »dem Prinzip verständiger Ordnung, das wir in uns tragen, das wir als Siegel unserer Macht auf alles prägen möchten, was uns berührt« –, ist alles Gesetz eine Fessel, welche die Weltangst dem zudrängenden Sinnlichen anlegt, eine tiefe Notwehr des Lebens, so ist die Konzeption der bewußten Zeit als einer raumhaften Vorstellung innerhalb dieses Zusammenhangs ein später Akt derselben Notwehr, ein Versuch, das quälende innere Rätsel, doppelt quälend für den zur Herrschaft gelangten Verstand, dem es widerspricht, durch die Kraft des Begriffes zu bannen. Es liegt immer ein feiner Haß in dem geistigen Vorgang, durch den etwas in den Bereich und die Formenwelt des Maßes und Gesetzes gezwungen wird. Man tötet das Lebendige durch seine Einbeziehung in den Raum, der leblos ist und leblos macht. Mit der Geburt ist der Tod, mit der Vollendung das Ende gegeben. Es stirbt etwas im Weibe, wenn es empfängt, und daher der ewige, aus der Weltangst geborne Haß der Geschlechter. Der Mensch vernichtet in einem sehr tiefen Sinne, indem er zeugt: durch leibliche Zeugung in der sinnlichen, durch »Erkennen« in der geistigen Welt. Noch bei Luther hat Erkennen den Nebensinn von Zeugung. Mit dem Wissen um das Leben, das den Tieren fremd blieb, ist das Wissen um den Tod zu jener Macht aufgewachsen, die das gesamte menschliche Wachsein beherrscht. Mit dem Bilde der Zeit wurde das Wirkliche zum Vergänglichen.Vgl. Bd. II, S. 574 f.

Die Schöpfung des bloßen Namens Zeit war eine Erlösung ohnegleichen. Etwas beim Namen nennen, heißt Macht darüber gewinnen: dies ist ein wesentlicher Teil urmenschlicher Zauberkünste. Man bezwingt die bösen Mächte durch Nennung ihres Namens. Man schwächt oder tötet seinen Feind, indem man mit dessen Namen gewisse magische Prozeduren vornimmt.Vgl. Bd. I, S. 108 f., Bd. II, S. 723, 885. Etwas von diesem frühesten Ausdruck der Weltangst hat sich in der Sucht aller systematischen Philosophie erhalten, das Unfaßliche, dem Geist Allzumächtige durch Begriffe, wenn es nicht anders ging, durch bloße Namen abzutun. Man nennt irgendetwas »das Absolute« und fühlt sich ihm schon überlegen. »Philosophie«, die Liebe zur Weisheit, ist im tiefsten Grunde die Abwehr des Unbegreiflichen. Was benannt, begriffen, gemessen ist, ist überwältigt, starr, »tabu«Vgl. Bd. II, S. 693. geworden. Noch einmal: »Wissen ist Macht«. Hier liegt eine Wurzel des Unterschieds zwischen idealistischen und realistischen Weltanschauungen. Er entspricht dem Doppelsinn des Wortes »scheu«. Die einen entspringen aus scheuer Ehrfurcht, die andern aus Abscheu vor dem Unzugänglichen. Die einen schauen an, die andern wollen unterwerfen, mechanisieren, unschädlich machen. Plato und Goethe nehmen das Geheimnis demütig hin, Aristoteles und Kant wollen es entblößen und vernichten. Das tiefste Beispiel für diesen Hintersinn alles Realismus bietet das Zeitproblem. Das Unheimliche der Zeit, das Leben selbst soll hier beschworen, durch die Magie der Begrifflichkeit aufgehoben werden.

Alles was in der »wissenschaftlichen« Philosophie, Psychologie und Physik über die Zeit gesagt worden ist – die vermeintliche Antwort auf eine Frage, welche nicht hätte gestellt werden sollen: was nämlich die Zeit » ist« –, betrifft niemals das Geheimnis selbst, sondern lediglich ein räumlich gestaltetes, stellvertretendes Phantom, in dem die Lebendigkeit der Richtung, ihr Schicksalszug, durch das wenn auch noch so verinnerlichte Bild einer Strecke ersetzt worden ist, ein mechanisches, meßbares, teilbares und umkehrbares Abbild des in der Tat nicht Abzubildenden; eine Zeit, welche mathematisch in Ausdrücke wie √t, t2, -t gebracht werden kann, die die Annahme einer Zeit von der Größe Null oder negativer Zeiten wenigstens nicht ausschließen.Die Relativitätstheorie, eine Arbeitshypothese, welche im Begriff steht, die Mechanik Newtons – im Grunde bedeutet das: seine Fassung des Bewegungsproblems – zu stürzen, läßt Fälle zu, in welchen die Bezeichnungen »früher« und »später« sich umkehren; die mathematische Begründung dieser Theorie durch Minkowski wendet imaginäre Zeiteinheiten zu Maßzwecken an. Ohne Zweifel kommt hier der Bereich des Lebens, des Schicksals, der lebendigen, historischen Zeit gar nicht in Frage. Es handelt sich um ein gedankliches, selbst vom Sinnenleben abgehobenes Zeichensystem. Man setze in irgendeinem philosophischen oder physikalischen Text für Zeit das Wort Schicksal ein und man wird plötzlich fühlen, wohin sich das durch die Sprache vom Empfinden gelöste Verstehen verirrt hat und wie unmöglich die Gruppe »Raum und Zeit« ist. Was nicht erlebt und gefühlt, was nur gedacht wird, nimmt notwendig räumliche Beschaffenheit an. So erklärt es sich, daß kein systematischer Philosoph mit den von Geheimnis umwitterten, in die Ferne ziehenden Klangsymbolen Vergangenheit und Zukunft etwas hat anfangen können. In Kants Ausführungen über die Zeit kommen sie gar nicht vor. Man sieht auch nicht, in welcher Beziehung sie zu dem stehen sollten, was er dort behandelt. Damit erst wird es möglich, »Raum und Zeit« als Größen derselben Ordnung in funktionale Abhängigkeit voneinander zu bringen, wie dies besonders deutlich die vierdimensionale Vektoranalysis zeigt.Die Dimensionen sind x, y, z und t, die in Transformationen völlig gleichwertig erscheinen. Schon Lagrange nannte (1813) die Mechanik ohne weiteres eine vierdimensionale Geometrie, und selbst Newtons vorsichtiger Begriff des tempus absolutum sive duratio entzieht sich nicht dieser denknotwendigen Verwandlung des Lebendigen in bloße Ausdehnung. Eine einzige tiefe und ehrfürchtige Bezeichnung der Zeit habe ich in der älteren Philosophie gefunden. Sie steht bei Augustinus (Conf. XI, 14): Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.

Wenn Philosophen der abendländischen Gegenwart – sie tun es alle – sich der Wendung bedienen, daß die Dinge » in der Zeit« wie im Raume sind und nichts »außerhalb« ihrer »gedacht« werden könne, so setzen sie lediglich eine zweite Art von Räumlichkeiten neben die gewöhnliche. Das ist, als wollte man Hoffnung und Elektrizität die beiden Kräfte des Weltalls nennen. Es hätte Kant, als er von den »beiden Formen« der Anschauung sprach, doch nicht entgehen sollen, daß man sich wissenschaftlich bequem über den Raum verständigen kann – wenn auch nicht ihn im landläufigen Sinne erklären, was jenseits des wissenschaftlich Möglichen hegt –, während eine Betrachtung in demselben Stil der Zeit gegenüber völlig versagt. Der Leser der »Kritik der reinen Vernunft« und der »Prolegomena« wird bemerken, daß Kant für den Zusammenhang von Raum und Geometrie einen sorgfältigen Beweis liefert, es aber peinlich vermeidet, dasselbe für Zeit und Arithmetik zu tun. Hier bleibt es bei der Behauptung, und die ständig wiederholte Analogie der Begriffe täuscht über die Lücke hinweg, deren Unausfüllbarkeit das Unhaltbare seines Schemas offenbart hätte. Dem Wo und Wie gegenüber bildet das Wann eine Welt für sich: es ist der Unterschied von Physik und Metaphysik. Raum, Gegenstand, Zahl, Begriff, Kausalität sind so eng verschwistert, daß es unmöglich ist, wie unzählige verfehlte Systeme beweisen, das eine unabhängig vom andern zu untersuchen. Die Mechanik ist ein Abbild der jeweiligen Logik und umgekehrt. Das Bild des Denkens, dessen Struktur die Psychologie beschreibt, ist ein Gegenbild der Raumwelt, wie sie die gleichzeitige Physik behandelt. Begriffe und Dinge, Gründe und Ursachen, Schlüsse und Prozesse decken sich der Vorstellung nach so vollständig, daß der Reiz, den Denk»prozeß« unmittelbar graphisch und tabellarisch, d. h. räumlich darzustellen – man denke an Kants und Aristoteles' Kategorientafel – gerade den abstrakten Denker immer wieder überwältigt hat. Wo es am Schema fehlt, da fehlt es an Philosophie – das ist das uneingestandene Vorurteil aller zünftigen Systematiker gegenüber den »Anschauenden«, denen sie sich innerlich weit überlegen fühlen. Deshalb nannte Kant den Stil des platonischen Denkens ärgerlich »die Kunst, wortreich zu schwatzen« und deshalb schweigt der Kathederphilosoph noch heute über Goethes Philosophie. Jede logische Operation läßt sich zeichnen. Jedes System ist eine geometrische Art, Gedanken zu handhaben. Deshalb hat die Zeit in einem »System« keinen Platz oder sie fällt dessen Methode zum Opfer.

Damit ist auch das allverbreitete Mißverständnis widerlegt, welches die Zeit mit der Arithmetik, den Raum mit der Geometrie in eine oberflächliche Verbindung bringt, ein Irrtum, dem Kant nicht hätte erliegen sollen, wenn man auch von Schopenhauers Verständnislosigkeit für Mathematik kaum etwas anderes erwartet. Weil der lebendige Akt des Zählens mit der Zeit irgendwie in Beziehung steht, hat man immer wieder Zahl und Zeit vermengt. Aber Zählen ist keine Zahl, so wenig als Zeichnen eine Zeichnung ist. Zählen und Zeichnen sind ein Werden, Zahlen und Figuren sind Gewordnes. Kant und die andern haben dort den lebendigen Akt (das Zählen), hier dessen Ergebnis (die Verhältnisse der fertigen Figur) ins Auge gefaßt. Aber das eine gehört in den Bereich des Lebens und der Zeit, das andre in den der Ausdehnung und Kausalität. Daß ich rechne, unterliegt der organischen, was ich rechne, der anorganischen Logik. Die gesamte Mathematik, volkstümlich gesprochen also Arithmetik und Geometrie, beantwortet das Wie und Was, die Frage also nach der natürlichen Ordnung der Dinge. Im Gegensatz dazu steht die Frage nach dem Wann der Dinge, die spezifisch historische Frage, die nach dem Schicksal, der Zukunft, der Vergangenheit. All das liegt in dem Worte Zeitrechnung, das der naive Mensch vollkommen unzweideutig versteht.

Es gibt keinen Gegensatz von Arithmetik und Geometrie.Außer in der Elementarmathematik, unter deren Eindruck allerdings die meisten Philosophen seit Schopenhauer diesen Fragen nahetreten. Jede Art von Zahl – das wird das erste Kapitel hinlänglich erwiesen haben – gehört im vollen Umfange dem Bereich des Ausgedehnten und Gewordnen an, sei es als euklidische Größe, sei es als analytische Funktion. Und in welches der beiden Gebiete sollten denn die zyklometrischen Funktionen, der Binominalsatz, die Riemannschen Flächen, die Gruppentheorie gehören? Kants Schema war durch Euler und d'Alembert schon widerlegt, bevor er es aufgestellt hatte, und nur die Unvertrautheit der Philosophen nach ihm mit der Mathematik ihrer Zeit – sehr im Gegensatz zu Descartes, Pascal und Leibniz, welche die Mathematik ihrer Zeit aus den Tiefen ihrer Philosophie heraus selbst geschaffen hatten – konnte dahin führen, daß laienhafte Ansichten von einer Beziehung zwischen Zeit und Arithmetik sich kaum angefochten weiter vererbten. Aber es gibt keine Berührung des Werdens mit irgendeinem Gebiete der Mathematik. Nicht einmal die tief begründete Überzeugung Newtons, in dem ein tüchtiger Philosoph steckte, daß er im Prinzip seiner Differentialrechnung (Fluxionsrechnung) das Problem des Werdens, das Zeitproblem also – übrigens in einer viel feineren als der kantischen Fassung – unmittelbar in Händen habe, ließ sich aufrecht erhalten, so sehr sie heute noch Anhänger findet. Bei der Entstehung von Newtons Fluxionslehre hatte das metaphysische Bewegungsproblem eine entscheidende Rolle gespielt. Seit Weierstraß indessen bewiesen hat, daß es stetige Funktionen gibt, die nur teilweise oder gar nicht differentiiert werden können, ist dieser tiefste jemals unternommene Versuch, dem Zeitproblem mathematisch nahe zu kommen, abgetan.


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