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Es ist noch übrig, die Vollendung der abendländischen Kunst in großen Zügen zu verfolgen. Die innerste Notwendigkeit aller Geschichte ist hier am Werke. Wir haben gelernt, Künste als Urphänomene zu begreifen. Wir suchen nicht mehr nach Ursachen und Wirkungen im physikalischen Sinne, um ihrer Entwicklung Zusammenhang zu geben. Wir haben den Begriff des Schicksals einer Kunst in sein Recht eingesetzt. Wir haben endlich Künste als Organismen erkannt, die in dem größeren Organismus einer Kultur ihre bestimmte Stellung einnehmen, geboren werden, reifen, altern und für immer sterben.
Mit dem Abschluß der Renaissance – der letzten Verirrung – ist die abendländische Seele zum reifen Bewußtsein ihrer Kräfte und Möglichkeiten gelangt. Sie hat ihre Künste gewählt. Eine Spätzeit, das Barock wie die Ionik, weiß, was die Formensprache der Kunst zu bedeuten hat. Sie war bis dahin eine philosophische Religion, jetzt wird sie eine religiöse Philosophie. Sie wird städtisch und weltlich. An die Stelle namenloser Schulen treten die großen Meister. Es erscheint auf der Höhe jeder Kultur das Schauspiel einer prachtvollen Gruppe großer Künste, wohlgeordnet und durch das zugrunde liegende Ursymbol zu einer Einheit verknüpft. Die apollinische Gruppe, zu welcher die Vasenmalerei, das Fresko, das Relief, die Architektur der Säulenordnungen, das attische Drama, der Tanz gehören, hat die Skulptur der nackten Statue zur Mitte. Die faustische Gruppe bildet sich um das Ideal reiner räumlicher Unendlichkeit. Ihren Mittelpunkt bildet die instrumentale Musik. Von ihr aus spinnen sich feine Fäden in alle geistigen Formensprachen hinüber und verweben die infinitesimale Mathematik, die dynamische Physik, die Propaganda des Jesuitenordens und die Dynamik der berühmten Schlagworte der Aufklärung, die moderne Maschinentechnik, das Kreditsystem und die dynastisch-diplomatische Staatsorganisation zu einer ungeheuren Totalität seelischen Ausdrucks. Mit dem inneren Rhythmus der Dome beginnend, mit Wagners »Tristan« und »Parsifal« endend, erreicht die künstlerische Bewältigung des unendlichen Raums ihre vollkommene Ausbildung um 1550. Die Plastik erlischt mit Michelangelo in Rom, gerade damals, als die Planimetrie, die bis dahin die Mathematik beherrscht hatte, ihr unwesentlichster Teil wird. Zugleich mit Zarlinos Harmonielehre und Theorie des Kontrapunkts (1558) und der ebenfalls von Venedig ausgehenden Methode des Generalbasses, beides eine Perspektive und Analysis des Tonraumes, beginnt ihre Schwester, die nordische Infinitesimalrechnung, ihren Aufstieg.
Ölmalerei und Instrumentalmusik, die Künste des Raumes, treten ihre Herrschaft an. In der Antike waren es folglich die stofflich-euklidischen Künste: das streng flächenhafte Fresko und die freistehende Statue, die gleichzeitig – um 600 – in den Vordergrund treten. Und zwar sind es die beiden Arten von Malerei, die, in ihrer Formensprache gemäßigter, zugänglicher, zuerst heranreifen. Dem Ölgemälde gehört die Zeit von 1550-1650 ebenso unbestritten wie dem Fresko und Vasenbild das 6. Jahrhundert. Die Symbolik von Raum und Körper, ausgedrückt durch das Kunstmittel hier der Perspektive und dort der Proportion, erscheint in der mittelbaren Sprache des Gemäldes nur angedeutet. Diese Künste, welche das jeweilige Ursymbol, also Möglichkeiten des Ausgedehnten, in der Bildfläche nur vorzutäuschen vermögen, konnten das antike und abendländische Ideal wohl bezeichnen und heraufrufen, aber nicht vollenden. Auf dem Wege der Spätzeit erscheinen sie als Vorstufen der letzten Höhe. Je mehr der große Stil sich seiner Vollendung nähert, desto entschiedener wird der Drang nach einer ornamentalen Sprache von unerbittlicher Klarheit der Symbolik. Die Malerei genügte nicht mehr. Die Gruppe der hohen Künste wurde weiterhin vereinfacht. Um 1670, gerade damals, als Newton und Leibniz die Differentialrechnung entdeckten, war die Ölmalerei an der Grenze ihrer Möglichkeiten angelangt. Die letzten großen Meister starben, Velasquez 1660, Poussin 1665, Franz Hals 1666, Rembrandt 1669, Vermeer 1675, Murillo, Ruysdael und Lorrain 1682. Man braucht nur die wenigen Nachfolger von Bedeutung, Watteau, Hogarth, Tiepolo zu nennen, um den Abstieg, das Ende einer Kunst fühlen zu lassen. Eben jetzt hatten sich auch die großen Formen der malerischen Musik ausgelebt: mit Heinrich Schütz (1672), Carissimi (1674) und auch Purcell (1695) sterben die letzten Meister der Kantate, welche bildhafte Themen, durch das Farbenspiel von Vokal- und Instrumentalstimmen bis ins Unendliche variierte und von zierlichen Landschaften bis zu erhabenen Szenen der Legende wahrhafte Gemälde entwarf. Mit Lully (1687) ist die heroische Barockoper Monteverdis innerlich erschöpft. Und dasselbe gilt von den Arten der altklassischen Sonate für Orchester, Orgel und Streichtrio, die ebenfalls bildhafte Themen im Fugenstil durchimitieren. Die Formen der letzten Reife treten hervor, das Concerto grosso, die Suite und die dreiteilige Sonate für Soloinstrumente. Die Musik befreit sich von dem Rest des Körperlichen im Klange der menschlichen Stimme. Sie wird absolut. Das Thema verwandelt sich aus einem Bilde in eine prägnante Funktion, deren Dasein in Entwicklung besteht; den Fugenstil Bachs kann man nur als eine unendliche Differentation und Integration bezeichnen. Die Marksteine des Sieges der reinen Musik über die Malerei sind die im höchsten Alter entstandenen Passionen von Heinrich Schütz, in denen die neue Formensprache am Horizont erscheint, die Sonaten dall'Abacos und Corellis, die Oratorien Händels und die barocke Polyphonie Bachs. Von nun an ist diese Musik die faustische Kunst, und man darf Watteau einen malenden Couperin, Tiepolo einen malenden Händel nennen.
Dieselbe Wendung erfolgt in der Antike um 460, als der letzte der großen Freskomaler, Polygnot, das Erbe des erhabenen Stils an Polyklet und damit an die freie Rundplastik abtritt. Bis dahin hatte die Formensprache einer reinen Flächenkunst auch die Statue beherrscht, selbst noch bei den Zeitgenossen Polygnots, bei Myron und den Meistern der Olympiagiebel. Wie jene das Formideal der farbig ausgefüllten und mit einer Innenzeichnung versehenen Silhouette immer weiter entwickelt hatte, wobei es zwischen dem bemalten Relief und dem Flachbild kaum einen Unterschied gab, so war auch für den Bildhauer der dem Betrachter erscheinende frontale Umriß das eigentliche Symbol des Ethos, das heißt des sittlichen Typus, den die Figur repräsentieren sollte. Das Giebelfeld eines Tempels ist ein Bild, und es will aus dem nötigen Abstand genau so betrachtet sein wie die gleichzeitigen Vasenbilder des rotfigurigen Stils. Mit der Generation Polyklets macht das monumentale Wandgemälde dem Tafelbild in Tempera- und Wachsfarbentechnik Platz, aber das bedeutet, daß der große Stil aufgehört hat, in dieser Kunstart seinen Sitz zu haben. Die Schattenmalerei des Apollodor hat den Ehrgeiz, durch Rundmodellierung der Figuren, denn es handelt sich durchaus nicht um atmosphärische Schatten, es dem Bildhauer gleichzutun, und von Zeuxis erklärt Aristoteles ausdrücklich, daß seinen Werken das Ethos gefehlt habe. Das stellt diese geistreiche und liebenswürdige Malerei neben die unseres 18. Jahrhunderts. Beiden fehlt die innere Größe und beide folgen mit ihrem Virtuosentum der Sprache der einzigen und letzten Kunst, welche die Ornamentik hohen Ranges vertritt. Deshalb gehören Polyklet und Phidias zu Bach und Händel, und wie diese den strengen Satz von den Methoden der malerischen Durchführung befreien, so haben jene die Statue vom Reliefmäßigen endgültig erlöst.
Mit dieser Musik und dieser Plastik ist das Ziel erreicht. Eine reine Symbolik von mathematischer Strenge ist möglich geworden: das bedeutet der Kanon, jene Schrift Polyklets über die Proportionen des menschlichen Körpers und als Gegenstück dazu die »Kunst der Fuge« und das »Wohltemperierte Klavier« seines »Zeitgenossen« Bach. Diese beiden Künste leisten das Äußerste und Letzte an Deutlichkeit und Intensität der reinen Form. Man vergleiche doch den Tonkörper der faustischen Instrumentalmusik und in ihm wieder den Streichkörper und bei Bach auch noch den als Einheit wirkenden Körper der Blasinstrumente mit dem Körper attischer Statuen; man vergleiche, was Haydn und was Praxiteles eine Figur nannten, nämlich die eines rhythmischen Motivs im Gewebe der Stimmen oder die eines Athleten, eine Bezeichnung, welche der Mathematik entnommen ist und verrät, daß dieses jetzt endlich erreichte Ziel das einer Vereinigung künstlerischen und mathematischen Geistes ist, denn zugleich mit Musik und Plastik haben die Analysis des Unendlichen und die euklidische Geometrie ihre Aufgabe und den letzten Sinn ihrer Zahlensprache mit voller Deutlichkeit begriffen. Die Mathematik des Schönen und die Schönheit des Mathematischen sind nicht mehr zu trennen. Der unendliche Raum der Töne und der völlig freistehende Körper von Marmor oder Bronze sind eine unmittelbare Interpretation des Ausgedehnten. Sie gehören zur Zahl als Beziehung und zur Zahl als Maß. Im Fresko wie im Ölbilde wird man, in den Gesetzen von Proportion und Perspektive, nur Andeutungen von Mathematischem finden. Diese beiden letzten und strengsten Künste sind Mathematik. Auf diesem Gipfel erscheint die faustische wie die apollinische Kunst vollkommen.
Mit dem Ausgang der Fresko- und Ölmalerei beginnt die dichte Reihe großer Meister der absoluten Plastik und Musik. Auf Polyklet folgen Phidias, Paionios, Alkamenes, Skopas, Praxiteles, Lysippos, auf Bach und Händel Gluck, Stamitz, die Söhne Bachs, Haydn, Mozart, Beethoven. Jetzt erscheint die Menge wunderbarer, heute längst verschollener Instrumente, eine ganze Zauberwelt abendländischen Entdecker- und Erfindergeistes, um immer neue Klänge und Tonfarben für den Dienst und die Steigerung des Ausdrucks heranzuziehen, jetzt die Fülle großer, feierlicher, zierlicher, leichter, spöttischer, lachender, schluchzender Formen von strengstem Bau, auf die sich heute niemand mehr versteht; es gab damals, vor allem im Deutschland des 18. Jahrhunderts, eine wirkliche Kultur der Musik, die das ganze Leben durchdrang und erfüllte, deren Typus Hoffmanns Kapellmeister Kreisler wurde und von der uns kaum die Erinnerung mehr geblieben ist.
Endlich, mit dem 18. Jahrhundert, stirbt auch die Architektur. Sie löst sich, sie ertrinkt in der Musik des Rokoko. Alles, was man an dieser letzten wundervollen, fragilen Blüte der abendländischen Baukunst getadelt hat – weil man ihre Entstehung aus dem Geist der Fuge nicht verstand –: das Maßlose, Formlose, Verschwebende, Wogende, Funkelnde, die Zerstörung der Fläche und Gliederung für das Auge, alles das ist nur ein Sieg der Töne und Melodien über Linien und Wände, der Triumph des reinen Raumes über den Stoff, des absoluten Werdens über das Gewordne. Es sind nicht mehr Baukörper, diese Abteien, Schlösser, Kirchen mit ihren geschwungenen Fassaden, Portalen und Höfen mit Muschelinkrustation, mächtigen Treppenhäusern, Galerien, Sälen, Kabinetten, sondern steingewordene Sonaten, Menuette, Madrigale, Präludien; Kammermusik in Stuck, Marmor, Elfenbein und edlen Hölzern; Kantilenen von Voluten und Kartuschen, Kadenzen von Freitreppen und Firsten. Der Dresdner Zwinger ist das vollkommenste Stück Musik in der gesamten Weltarchitektur, mit Ornamenten wie der Ton einer edlen alten Geige, ein allegro fugitivo für kleines Orchester.
Deutschland hat die großen Musiker und also auch die großen Baumeister – Pöppelmann, Schlüter, Bähr, Neumann, Fischer von Erlach, Dinzenhofer – dieses Jahrhunderts hervorgebracht. In der Ölmalerei spielt es keine, in der Instrumentalmusik die entscheidende Rolle.