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Aus dem Sinne, welcher hier der Kultur als einem Urphänomen und dem Schicksal als der organischen Logik des Daseins gegeben wurde, folgt, daß notwendig jede Kultur ihre eigne Schicksalsidee besitzen muß, ja daß in dem Gefühl, jede große Kultur sei nichts anderes als die Verwirklichung und Gestalt einer einzigen, einzigartigen Seele, diese Folgerung schon eingeschlossen liegt. Was wir Fügung, Zufall, Vorsehung, Schicksal, was der antike Mensch Nemesis, Ananke, Tyche, Fatum, der Araber Kismet und alle anderen anders nennen, was niemand einem Fremden, dessen Leben gerade Ausdruck der eignen Idee ist, ganz nachfühlen kann und was sich in Worten nicht weiter beschreiben läßt, stellt eben diese einmalige, nie sich wiederholende Fassung der Seele dar, deren jeder für sich völlig gewiß ist.
Ich wage es, die antike Fassung der Schicksalsidee euklidisch zu nennen. In der Tat ist es die sinnlich-wirkliche Person des Ödipus, sein »empirisches Ich«, mehr noch, sein σϖμα, das vom Schicksal getrieben und gestoßen wird. Ödipus klagt, daß Kreon seinem Leibe Übles getan habeÖdipus R. 242, vgl. Rudolf Hirzel, Die Person (1914), S. 9. und daß das Orakel seinem Leibe gelte.Ödipus Kol. 355. Und Aischylos spricht in den Choephoren (704) von. Agamemnon als dem »flottenführenden königlichen Leibe«. Es ist dasselbe Wort σϖμα, das die Mathematiker mehr als einmal für ihre Körper gebrauchen. König Lears Schicksal aber, ein analytisches, um auch hier an die entsprechende Zahlenwelt zu erinnern, ruht ganz in dunklen innern Beziehungen: Die Idee des Vatertums taucht auf; seelische Fäden spinnen sich durch das Drama, unkörperlich, jenseitig, und werden durch die zweite, kontrapunktisch gearbeitete Tragödie im Hause Glosters seltsam beleuchtet. Lear ist zuletzt ein bloßer Name, ein Mittelpunkt für etwas Grenzenloses. Diese Fassung des Schicksals ist eine »infinitesimale«, in unendlicher Räumlichkeit und durch endlose Zeiten ausgebreitete; sie berührt das leibliche, euklidische Dasein gar nicht; sie trifft nur die Seele. Der wahnsinnige König zwischen dem Narren und dem Bettler im Sturm auf der Heide – das ist der Gegensatz zur Laokoongruppe. Das ist die faustische gegenüber der apollinischen Art zu leiden. Sophokles hatte auch ein Laokoondrama geschrieben. Ohne Zweifel war in ihm von reinem Seelenleid nicht die Rede. Antigone geht als Leib zugrunde, weil sie den Leib ihres Bruders bestattet hat. Man braucht die Namen Aias und Philoktet nur zu nennen und daneben die des Prinzen von Homburg und des Goetheschen Tasso, um den Unterschied zwischen Größe und Beziehung bis in die Tiefen der künstlerischen Schöpfung hinein zu spüren.
Wir nähern uns damit einem andern Zusammenhang von großer Symbolik. Man nennt das Drama des Abendlandes ein Charakterdrama und sollte das antike dann als Situationsdrama bezeichnen. Man betont damit, was eigentlich von dem Menschen beider Kulturen als Grundform seines Lebens empfunden und mithin durch die Tragik, das Schicksal in Frage gestellt wird. Sagt man für die Pachtung des Lebens Nichtumkehrbarkeit, versenkt man sich in den furchtbaren Sinn des Wortes »zu spät«, mit dem ein flüchtiges Stück Gegenwart der ewigen Vergangenheit anheimgefallen ist, so spürt man den Urgrund jeder tragischen Wendung. Die Zeit ist das Tragische, und dem gefühlten Sinne der Zeit nach unterscheiden sich die einzelnen Kulturen. Deshalb hat sich eine Tragödie großen Stils nur in den beiden entwickelt, welche die Zeit am leidenschaftlichsten bejahten oder verneinten. Wir haben eine antike Tragödie des Augenblicks und eine abendländische der Entwicklung ganzer Lebensläufe vor uns. So empfand eine ahistorische und eine extrem historische Seele sich selbst. Unsere Tragik entstand aus dem Gefühl einer unerbittlichen Logik des Werdens. Der Grieche fühlte das Alogische, das blinde Ungefähr des Moments. Das Leben König Lears reift innerlich einer Katastrophe entgegen; das des Königs Ödipus stößt unversehens auf eine äußere Lage. Und man begreift nun, weshalb gleichzeitig mit dem abendländischen Drama eine mächtige Porträtkunst – mit ihrem Höhepunkt in Rembrandt – aufblühte und erlosch, eine Art historischer und biographischer Kunst, die deshalb im klassischen Griechenland zur Blütezeit des attischen Theaters aufs strengste verpönt war; man denke an das Verbot ikonischer Statuen bei den Weihgeschenken und daran, daß sich – seit Demetrios von Alopeke (um 400) – eine schüchterne Art idealisierender Bildniskunst genau damals hervorwagte, als die große Tragödie durch die leichten Gesellschaftsstücke der »mittleren Komödie« in den Hintergrund gedrängt wurde. Im Grunde tragen alle griechischen Statuen eine gleichförmige Maske wie die Schauspieler im Dionysostheater. Alle bringen sie somatische Haltungen und Lagen in denkbar strengster Fassung zum Ausdruck. Physiognomisch sind sie stumm, körperlich sind sie notwendig nackt. Charakterköpfe bestimmter Einzelpersonen, und zwar nach dem Leben, hat erst der Hellenismus aufgebracht. Und wir werden wieder an die beiden entsprechenden Zahlenwelten erinnert, in deren einer handgreifliche Resultate errechnet wurden, während in der andern der Charakter von Beziehungsgruppen von Funktionen, Gleichungen, überhaupt von Formelementen gleicher Ordnung morphologisch untersucht und als solcher in gesetzmäßigen Ausdrücken fixiert wird.