Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Wenden wir uns nun der weiteren Verdeutlichung des Zufälligen zu, so werden wir nicht mehr Gefahr laufen, in ihm eine Ausnahme oder Durchbrechung des kausalen Naturzusammenhanges zu sehen. »Natur« ist nicht das Weltbild, in dem das Schicksal wesenhaft wird. Überall, wo der verinnerlichte Blick sich vom Sinnlich-Gewordnen löst und, der Vision sich nähernd, die Umwelt durchdringt, Urphänomene statt bloßer Objekte auf sich wirken fühlt, tritt der große historische, der außer- und übernatürliche Aspekt ein: es ist der Blick Dantes und Wolframs, auch der des Goetheschen Alters, als dessen Ausdruck vor allem das Ende des zweiten Faust erscheint. Verweilen wir schauend in dieser Welt von Schicksal und Zufall, so scheint es vielleicht zufällig, daß auf diesem kleinen Gestirn unter Millionen Sonnensystemen sich irgendwann die Episode der »Weltgeschichte« abspielt; zufällig, daß die Menschen, ein seltsames tierartiges Gebilde auf der Rinde dieses Sterns, irgendwann das Schauspiel des »Erkennens« und gerade in dieser, von Kant, Aristoteles und andern so sehr verschieden dargestellten Form bieten; zufällig, daß als Gegenpol dieser Erkenntnis gerade diese Naturgesetze in Erscheinung treten (»ewig und allgemeingültig«) und das Bild einer »Natur« wachrufen, von dem jeder einzelne glaubt, daß es für alle dasselbe sei. Die Physik verbannt – mit Recht – den Zufall aus ihrem Bilde, aber es ist doch wieder Zufall, daß sie selbst überhaupt, irgendwann in der Alluvialperiode der Erdoberfläche, einmal als eine besondere Art von Geistesverfassung in Erscheinung trat.

Die Welt des Zufalls ist die Welt der einmalig-wirklichen Tatsachen, denen wir als Zukunft sehnsüchtig oder angstvoll entgegenleben, die uns als lebendige Gegenwart erheben oder bedrücken, die wir schauend als Vergangenheit mit Freude oder Trauer wiedererleben können. Die Welt der Ursachen und Wirkungen ist die Welt des Beständig-Möglichen, die Welt der zeitlosen Wahrheiten, die man zerlegend und unterscheidend erkennt.

Wissenschaftlich erreichbar, mit Wissenschaft identisch ist nur die letzte. Wem der Blick für die andre – die Welt als »Divina commedia«, als Schauspiel für einen Gott – verschlossen bleibt wie Kant und den meisten Systematikern des Denkens, der wird darin nur den sinnlosen Wirrwarr von Zufällen, diesmal im banalsten Sinn des Wortes, finden.»Plus on vieillit, plus on se persuade, que sa sacrée Majesté le Hazard fait les trois quarts de la besogne de ce misérable Univers« (Friedrich der Große an Voltaire). So empfindet ein echter Rationalist mit Notwendigkeit. Aber auch die zünftige, unkünstlerische Geschichtsforschung ist mit ihrem Sammeln und Ordnen bloßer Daten nicht viel mehr als eine wenn auch noch so geistreiche Sanktion des Banal-Zufälligen. Erst der ins Metaphysische dringende Blick erlebt in den Daten Symbole von Geschehenem und erhebt damit den Zufall zum Schicksal. Wer selbst ein Schicksal ist – wie Napoleon –, bedarf dieses Blickes nicht, denn zwischen ihm als Tatsache und den übrigen Tatsachen besteht ein Einklang metaphysischen Taktes, der seinen Entscheidungen die traumhafte Sicherheit gibt.Vgl. Bd. II, S. 575 ff.

Dieser Blick ist das Einzigartige und Gewaltige an Shakespeare, in dem man den eigentlichen Tragiker des Zufalls noch nie gesucht und nie vermutet hat. Und doch liegt hier gerade der letzte Sinn abendländischer Tragik, die zugleich das Abbild der abendländischen Idee der Geschichte und damit der Schlüssel zu dem ist, was das von Kant nicht verstandene Wort »Zeit« für uns bedeutet. Es ist zufällig, daß die politische Situation im »Hamlet«, der Königsmord und die Frage der Thronfolge, gerade diesen Charakter treffen. Es ist zufällig, daß Jago, ein alltäglicher Halunke, wie man sie auf allen Straßen findet, gerade diesen Mann aufs Korn nahm, dessen Person diese durchaus nicht alltägliche Physiognomie besaß! Und Lear! Ist etwas zufälliger (und darum »natürlicher«) als die Paarung dieser gebietenden Würde mit diesen den Töchtern vererbten verhängnisvollen Leidenschaften? Daß Shakespeare die Anekdote nimmt, wie er sie findet, und sie eben dadurch mit der Wucht innerster Notwendigkeit erfüllt – nirgends erhabener als in den Römerdramen –, das hat man heute noch nicht zu verstehen vermocht. Denn das Verstehen wollen erging sich in verzweifelten Versuchen, eine moralische Kausalität hineinzutragen, ein »Deshalb«, einen Zusammenhang von »Schuld« und »Sühne«. Aber das ist weder richtig noch falsch – richtig und falsch gehören zur Welt als Natur und bedeuten eine Kritik von Kausalem –, sondern flach, nämlich im Gegensatz zu dem tiefen Erleben der rein tatsächlichen Anekdote durch den Dichter. Nur wer das fühlt, vermag die großartige Naivität der Eingänge des Lear und Macbeth zu bewundern. Das Gegenteil zeigt Hebbel, der die Tiefe des Zufalls durch ein System von Ursachen und Wirkungen vernichtet. Das Gezwungene, Begriffliche seiner Entwürfe, das jeder fühlt, ohne es sich deuten zu können, liegt darin, daß das kausale Schema seiner seelischen Konflikte dem historisch-bewegten Weltgefühl und dessen ganz andersartiger Logik widerspricht. Diese Menschen leben nicht; sie beweisen etwas durch ihre Anwesenheit. Man fühlt die Gegenwart eines großen Verstandes, aber nicht die eines tiefen Lebens. An Stelle des Zufalls ist ein »Problem« getreten.

Und eben diese abendländische Art des Zufälligen ist dem antiken Weltgefühl und mithin dem antiken Drama ganz fremd. Antigone hat keine zufällige Eigenschaft, welche für ihr Geschick irgendwie in Betracht käme. Was dem König Ödipus widerfuhr, hätte – im Gegensatz zum Schicksale Lears – jedem andern widerfahren können. Dies ist das antike Schicksal, das »allgemein menschliche« Fatum, das einem »Leibe« überhaupt gilt und vom zufällig Persönlichen in keiner Weise abhängt.

Die gewöhnliche Geschichtsschreibung wird, soweit sie sich nicht im Sammeln von Daten verliert, immer beim Flachzufälligen stehen bleiben. Dies ist – das Schicksal ihrer Urheber, die seelisch mehr oder weniger innerhalb der Menge bleiben. Vor ihrem Auge fließen Natur und Geschichte in eine volkstümliche Einheit zusammen und »Zufall«, »Sa sacrée Majesté le Hazard«, ist für den Mann der Menge das Verständlichste, was es gibt. Es ist das Kausale hinter dem Vorhang, das noch nicht Bewiesene, das ihm die geheime Logik der Geschichte, die er nicht fühlt, ersetzt. Das anekdotenhafte Vordergrundsbild der Geschichte, der Tummelplatz aller wissenschaftlichen Kausalitätenjäger und aller Roman- und Stückeschreiber gewöhnlichen Schlages, entspricht dem durchaus. Wie viele Kriege wurden da angefangen, weil ein eifersüchtiger Hofmann einen General von seiner Frau entfernen wollte! Wie viele Schlachten wurden durch lächerliche Zwischenfälle gewonnen oder verloren! Man sehe doch, wie noch im 18. Jahrhundert römische Geschichte, wie heute noch chinesische Geschichte behandelt wird! Man denke an den Fächerschlag des Dei von Algier und ähnliches, das die historische Szene mit Operettenmotiven belebt. Wie von einem schlechten Dramatiker angebracht erscheinen der Tod Gustav Adolfs oder Alexanders. Hannibal ist ein bloßes Intermezzo der antiken Geschichte, in deren Verlauf er überraschend einfiel. Napoleons »Vorübergang« entbehrt nicht der Melodramatik. Wer die innere Form der Geschichte in irgendeiner kausalen Folge ihrer sichtbaren Einzelereignisse sucht, wird immer, wenn er aufrichtig ist, eine Komödie von burlesker Sinnlosigkeit finden, und ich möchte glauben, daß die wenig beachtete Tanzszene der betrunkenen Triumvirn in Shakespeares »Antonius und Kleopatra« – eine der mächtigsten in diesem unendlich tiefen Werke – aus dem Hohn des ersten historischen Tragikers aller Zeiten auf den »pragmatischen« Geschichtsaspekt hervorgewachsen ist. Denn dieser hat von jeher »die Welt« beherrscht. Er hat den kleinen Ehrgeizigen Mut und Hoffnung gemacht, in sie einzugreifen. Rousseau und Marx glaubten mit dem Blick auf ihn und seine rationalistische Struktur, durch eine Theorie den »Lauf der Welt« ändern zu können. Selbst die soziale oder wirtschaftliche Deutung politischer Entwicklungen, zu der als Gipfel die Geschichtsbehandlung sich heute erhebt und die stets, angesichts ihres biologischen Gepräges, kausaler Grundlagen verdächtig bleibt, ist noch reichlich flach und populär.

Napoleon hat in bedeutenden Augenblicken ein starkes Gefühl für die tiefe Logik des Weltwerdens. Er ahnte dann, inwiefern er ein Schicksal war und inwiefern er eines hatte. »Ich fühle mich gegen ein Ziel getrieben, das ich nicht kenne. Sobald ich es erreicht haben werde, sobald ich nicht mehr notwendig sein werde, wird ein Atom genügen, mich zu zerschmettern. Bis dahin aber werden alle menschlichen Kräfte nichts gegen mich vermögen«, sagte er zu Beginn des russischen Feldzugs. Das war nicht pragmatisch gedacht. In diesem Augenblick ahnte er, wie wenig die Logik des Schicksals eines bestimmten Einzelnen, sei es Mensch oder Lage, bedarf. Er selbst als empirische Person hätte bei Marengo fallen können. Was er bedeutete, wäre dann in andrer Gestalt verwirklicht worden. Eine Melodie ist in den Händen eines großen Musikers reicher Variationen fähig; sie kann für den einfachen Hörer völlig verwandelt sein, ohne in der Tiefe – in einem ganz andern Sinne – sich verändert zu haben. Die Epoche der deutschnationalen Einigung ist in der Person Bismarcks, die der Freiheitskriege in breiten und beinahe namenlosen Ereignissen durchgeführt worden. Beide »Themata« konnten auch anders durchgeführt werden, um in der Sprache des Musikers zu reden. Bismarck hätte früh entlassen und die Schlacht bei Leipzig verloren werden können; die Gruppe der Kriege von 1864, 1866 und 1870 konnte durch diplomatische, dynastische, revolutionäre oder volkswirtschaftliche Tatsachen – »Modulationen« – vertreten werden, obwohl die physiognomische Prägnanz der abendländischen Geschichte, im Gegensatz zum Stil der indischen etwa, an entscheidender Stelle starke Akzente, Kriege oder große Persönlichkeiten, sozusagen kontrapunktisch fordert. Bismarck selbst deutet in seinen Erinnerungen an, daß im Frühling 1848 eine Einigung in weiterem Umfang als 1870 hätte erreicht werden können, was nur an der Politik des preußischen Königs, richtiger an seinem privaten Geschmack scheiterte. Das wäre, auch nach Bismarcks Gefühl, eine matte Durchführung des »Satzes« gewesen, die irgendwie eine Coda ( »da capo e poi la coda«) notwendig gemacht hätte. Der Sinn der Epoche – das Thema – wäre aber durch keine Gestaltung des Tatsächlichen verändert worden. Goethe konnte – vielleicht – in frühen Jahren sterben, nicht seine »Idee«. Faust und Tasso wären nicht geschrieben worden, aber sie wären, ohne ihre poetische Greifbarkeit, in einem sehr geheimnisvollen Sinne trotzdem »gewesen«.

Denn es war Zufall, daß die Geschichte des höheren Menschentums sich in der Form großer Kulturen vollzieht, und Zufall, daß eine von ihnen um das Jahr 1000 in Westeuropa erwachte. Von diesem Augenblick an aber folgte sie »dem Gesetz, wonach sie angetreten«. Innerhalb jeder Epoche besteht eine unbegrenzte Fülle überraschender und nie vorherzusehender Möglichkeiten, sich in Einzeltatsachen zu verwirklichen, die Epoche selbst aber ist notwendig, weil die Lebenseinheit da ist. Daß ihre innere Form gerade diese ist, ist ihre Bestimmung. Neue Zufälle können deren Entwicklung großartig oder kümmerlich, glücklich oder jammervoll gestalten, aber ändern können sie sie nicht. Eine unwiderrufliche Tatsache ist nicht nur der Einzelfall, sondern auch der Einzeltypus, in der Geschichte des Alls der Typus »Sonnensystem« mit den kreisenden Planeten, in der Geschichte unsres Planeten der Typus »Lebewesen« mit Jugend, Alter, Lebensdauer und Fortpflanzung, in der Geschichte der Lebewesen der Typus des Menschendaseins, in dessen »weltgeschichtlichem« Stadium der Typus der großen Einzelkultur.Auf der Tatsache, daß eine ganze Gruppe dieser Kulturen vor uns liegt, beruht die vergleichende Methode dieses Buches; vgl. Bd. II, S. 597ff. Und diese Kulturen sind ihrem Wesen nach den Pflanzen verwandt: sie sind für ihre ganze Lebensdauer mit dem Boden verbunden, aus dem sie aufgesprossen sind. Und typisch ist endlich die Art, wie die Menschen einer Kultur das Schicksal auffassen und erleben, mag das Bild für den einzelnen noch so verschieden gefärbt sein. Was hier darüber gesagt wird, ist nicht »wahr«, sondern für diese Kultur und diese Zeitstufe innerlich notwendig, und es überzeugt andre, nicht weil es nur eine Wahrheit gibt, sondern weil sie derselben Epoche angehören.

Die euklidische Seele der Antike konnte ihr an gegenwärtigen Vordergründen haftendes Dasein deshalb nur in der Gestalt von Zufällen antiken Stils erleben. Darf man für die abendländische Seele das Zufällige als Schicksal von geringerem Gehalte deuten, so darf umgekehrt das Schicksal für die antike Seele als ein ins Ungeheure gesteigerter Zufall gelten. Das bedeuten Ananke, Heimarmene und Fatum. Weil die antike Seele Geschichte nicht eigentlich durchlebte, besaß sie auch kein eigentliches Gefühl für eine Logik des Schicksals. Man lasse sich nicht durch Worte täuschen. Die volkstümlichste Göttin des Hellenismus war Tyche, die man von Ananke kaum zu scheiden wußte. Schicksal und Zufall aber werden von uns mit der ganzen Wucht eines Gegensatzes empfunden, von dessen Austrag in den Tiefen unseres Daseins alles abhängt. Unsere Geschichte ist die der großen Zusammenhänge; die antike Geschichte, nicht etwa nur ihr Bild bei Historikern wie Herodot, sondern ihre volle Wirklichkeit ist die der Anekdoten, das heißt eine Reihe plastischer Einzelheiten. Anekdotisch in der ganzen Schwere des Wortes ist der Stil des antiken Daseins überhaupt wie der jedes einzelnen Lebenslaufes. Die sinnlich-greifbare Seite der Ereignisse verdichtet sich zu geschichts feindlichen, dämonischen, absurden Zufällen. Die Logik des Geschehens wird durch sie verneint und verleugnet. Alle Fabeln antiker Meistertragödien erschöpfen sich in Zufällen, welche einen Sinn der Welt verhöhnen; anders läßt sich die Bedeutung des Wortes ειμαρμενη im Gegensatz zur shakespearischen Logik des Zufalls nicht bezeichnen. Noch einmal: was dem Ödipus zustößt, ganz von außen und innerlich durch nichts bedingt und bewirkt, hätte jedem Menschen ohne Ausnahme geschehen können. Das ist die Form des antiken Mythos. Man vergleiche damit die tiefinnere, durch ein ganzes Dasein und das Verhältnis dieses Daseins zur Zeit bedingte Notwendigkeit im Schicksal Othellos, Don Quijotes, Werthers. Das ist – es war schon gesagt – der Unterschied von Situationstragödie und Charaktertragödie. Aber in der Geschichte selbst wiederholt sich dieser Gegensatz. Jede Epoche des Abendlandes hat Charakter, jede Epoche der Antike stellt nur eine Situation dar. Das Leben Goethes war von schicksalsvoller Logik, das Cäsars von mythischer Zufälligkeit. Hier hat Shakespeare erst die Logik hineingetragen. Napoleon ist ein tragischer Charakter; Alkibiades gerät in tragische Situationen. Die Astrologie in der Gestalt, wie sie von der Gotik bis zum Barock das Weltgefühl selbst ihrer Leugner beherrschte, wollte sich des ganzen künftigen Lebenslaufes bemächtigen. Das faustische Horoskop, dessen bekanntestes Beispiel vielleicht das von Kepler für Wallenstein aufgestellte ist, setzt eine einheitliche und sinnvolle Richtung des gesamten noch zu entwickelnden Daseins voraus. Das antike Orakel, immer auf einzelne Fälle bezogen, ist ganz eigentlich das Symbol des sinnlosen Zufalls, des Augenblicks; es gibt das Punktförmige, Zusammenhanglose im Weltlauf zu, und in dem, was man in Athen als Geschichte schrieb und erlebte, waren Orakelsprüche sehr am Platze. Hat je ein Grieche das Bewußtsein einer historischen Entwicklung zu irgendeinem Ziele besessen? Haben wir je ohne dies Bewußtsein über Geschichte nachdenken, Geschichte machen können? Vergleicht man die Schicksale Athens und Frankreichs in den entsprechenden Zeiten seit Themistokles und Ludwig XIV., so wird man finden, daß Stil des historischen Fühlens und Stil der Wirklichkeit jedesmal eines sind: hier ein Äußerstes an Logik, dort an Unlogik.

Man wird jetzt den letzten Sinn dieser bedeutsamen Tatsache verstehen. Geschichte ist die Verwirklichung einer Seele, und der gleiche Stil beherrscht die Geschichte, die man macht, und die, welche man schaut. Die antike Mathematik schließt das Symbol des unendlichen Raumes aus, die antike Geschichte mithin auch. Nicht umsonst ist die Szene des antiken Daseins die kleinste von allen: die einzelne Polis. Es fehlen ihm Horizont und Perspektiven – trotz der Episode des Alexanderzuges – genau wie der Szene des attischen Theaters mit der flach abschließenden Rückwand. Man vergleiche damit die Fernwirkungen der abendländischen Kabinettsdiplomatie wie des Kapitals. Wie die Hellenen und Römer in ihrem Kosmos nur Vordergründe der Natur erkannten und als wirklich anerkannten, unter innerlichster Ablehnung der chaldäischen Astronomie, wie sie im Grunde nur Haus-, Stadt- und Feldgottheiten, aber keine Gestirngötter besaßen,Helios ist nur eine poetische Gestalt. Er hatte weder Tempel noch Statuen noch einen Kult. Noch weniger war Selene eine Mondgöttin. so malten sie auch nur Vordergründe. Niemals ist in Korinth, Athen oder Sikyon eine Landschaft mit Gebirgshorizont, ziehenden Wolken, fernen Städten entstanden. Man findet auf allen Vasengemälden nur Figuren von euklidischer Vereinzelung und künstlerischem Selbstgenügen. Jede Giebelgruppe eines Tempels ist von reihenweisem, niemals von kontrapunktischem Aufbau. Aber man erlebte auch nur Vordergründe. Schicksal war es, was dem Menschen plötzlich zustieß, nicht der »Lauf des Lebens«, und so hat Athen neben dem Fresko Polygnots und der Geometrie der platonischen Akademie die Schicksalstragödie ganz im berüchtigten Sinne der »Braut von Messina« geschaffen. Der vollkommene Unsinn des blinden Verhängnisses, verkörpert z. B. im Atridenfluch, offenbarte dem ahistorischen antiken Seelentum den ganzen Sinn seiner Welt.


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