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Es ist nun kein Zweifel mehr: die Formenwelt einer Naturwissenschaft entspricht vollkommen den zugehörigen der Mathematik, der Religion und der bildenden Kunst. Ein tiefer Mathematiker – nicht ein meisterhafter Rechner, sondern jemand, der den Geist der Zahlen in sich lebendig fühlt – begreift, daß er damit »Gott kennt«. Pythagoras und Plato haben das so gut gewußt wie Pascal und Leibniz. Terentius Varro in seinen Cäsar gewidmeten Untersuchungen über die altrömische Religion unterscheidet mit römischer Prägnanz die theologia civilis, die Summe des öffentlich anerkannten Glaubens, von der theologia mythica, der Vorstellungswelt der Dichter und Künstler, und der theologia physica, der philosophischen Spekulation. Wendet man dies auf die faustische Kultur an, so gehört zur ersten, was Thomas von Aquino und Luther, Calvin und Loyola lehren, zur zweiten Dante und Goethe, zur dritten aber die wissenschaftliche Physik, soweit sie ihren Formeln Bilder unterlegt.
Nicht nur der Urmensch und das Kind, sondern auch höhere Tiere entwickeln ganz von selbst aus den kleinen Erfahrungen des Alltags ein Bild der Natur, das die Summe technischer Kennzeichen enthält, die sie sich als immer wiederkehrend gemerkt haben. Der Adler »weiß«, in welchem Augenblick er auf die Beute herabstürzen muß; der brütende Singvogel »erkennt« die Nähe eines Marders; das Wild »findet« den Futterplatz. Für den Menschen hat sich diese Erfahrung aller Sinne zu einer Erfahrung des Auges verengt und vertieft. Aber indem nun die Gewohnheit des Sprechens in Worten hinzutritt, wird vom Sehen das Verstehen abgezogen und als Denken selbständig fortgebildet: zur augenblicklich verstehenden Technik tritt die Theorie, welche ein Nach-denken darstellt. Die Technik richtet sich auf die sichtbare Nähe und Notdurft. Die Theorie wendet sich der Ferne zu und den Schauern des Unsichtbaren. Dem kleinen Wissen des Alltags setzt sie den Glauben zur Seite, und doch entwickelt sie wieder ein neues Wissen und eine neue Technik höherer Ordnung: zum Mythos tritt der Kultus. Jener lehrt die numina kennen, dieser sie beschwören. Denn die Theorie im erhabenen Sinne ist religiös durch und durch. Erst in ganz späten Zuständen entwickelt sich aus der religiösen die naturwissenschaftliche Theorie, indem man sich der Methoden bewußt wird. Abgesehen davon ändert sich wenig. Die Bilderwelt der Physik bleibt Mythos, ihr Verfahren bleibt ein die Mächte in den Dingen beschwörender Kultus, und die Art der Bilder und Verfahren bleibt abhängig von denen der zugehörigen Religion.Vgl. Bd. II, S. 582 f.
Seit den Tagen der Spätrenaissance wird die Vorstellung von Gott im Geist aller bedeutenden Menschen der Idee des reinen, unendlichen Raumes immer ähnlicher. Der Gott der Exercitia spiritualia des Ignaz von Loyola ist auch der des Lutherliedes »Ein feste Burg«, der Improperien Palestrinas und der Kantaten Bachs. Er ist nicht mehr der Vater des heiligen Franz von Assisi und der hochgewölbten Kathedralen, wie die Maler der Gotik, wie Giotto und Stephan Lochner ihn empfanden, persönlich gegenwärtig, fürsorglich und milde, sondern ein unpersönliches Prinzip, unvorstellbar, ungreifbar, geheimnisvoll im Unendlichen wirkend. Jeder Rest von Persönlichkeit löst sich in unanschaulicher Abstraktheit auf, eine Idee von Gott, deren Nachbildung zuletzt nur noch die Instrumentalmusik großen Stils gewachsen ist, während die Malerei des 18. Jahrhunderts versagt und in den Hintergrund tritt. Dies Gefühl von Gott hat das naturwissenschaftliche Weltbild des Abendlandes, unsere Natur, unsere »Erfahrung« und mithin unsere Theorien und Methoden im Gegensatz zu denen des antiken Menschen gestaltet. Die Kraft, welche die Masse bewegt: das ist es, was Michelangelo an die Decke der Sixtinischen Kapelle gemalt hat, was seit dem Vorbilde von Il Gesù die Domfassaden zu dem gewaltsamen Ausdruck bei Della Porta und Maderna und seit Heinrich Schütz zu den verklärten Tonwelten der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts gesteigert hat, was als Weltgeschehen in Shakespeares Tragödien die ins Unendliche erweiterte Szene füllt und was endlich Galilei und Newton in Formeln und Begriffe gebannt haben.
Das Wort Gottes klingt anders unter den Wölbungen gotischer Dome und in den Klosterhöfen von Maulbronn und Sankt Gallen als in den Basiliken Syriens und den Tempeln des republikanischen Roms. In dem Wälderhaften der Dome, der mächtigen Erhöhung des Mittelschiffs über die Seitenschiffe gegenüber der flachgedeckten Basilika, in der Verwandlung der Säulen, die durch Basis und Kapitäl als abgeschlossene Einzeldinge in den Raum gestellt waren, zu Pfeilern und Pfeilerbündeln, die aus dem Boden wachsen und deren Äste und Linien sich über dem Scheitel im Unendlichen verteilen und verschlingen, während von den Riesenfenstern, welche die Wand aufgelöst haben, ein ungewisses Licht durch den Raum flutet, liegt die architektonische Verwirklichung eines Weltgefühls, das im Hochwald der nordischen Ebenen sein ursprünglichstes Symbol gefunden hatte. Und zwar im Laubwalde mit dem geheimnisvollen Gewirr seiner Äste und dem Raunen der ewig bewegten Blättermassen über dem Haupte des Betrachters, hoch über der Erde, von der die Wipfel durch den Stamm sich zu lösen versuchen. Man denke wieder an die romanische Ornamentik und ihre tiefe Beziehung zum Sinn der Wälder. Der unendliche, einsame, dämmernde Wald ist die geheime Sehnsucht aller abendländischen Bauformen geblieben. Deshalb löst sich, sobald die Formenergie des Stils ermattet, in der späten Gotik ganz ebenso wie im ausgehenden Barock, die beherrschte abstrakte Liniensprache wieder unmittelbar in naturalistisches Astwerk, Ranken, Zweige und Blätter auf.
Die Zypresse und Pinie wirken körperhaft, euklidisch; sie hätten niemals Symbole des unendlichen Raumes werden können. Die Eiche, Buche und Linde mit den irrenden Lichtflecken in ihren schattenerfüllten Räumen wirken körperlos, grenzenlos, geistig. Der Stamm einer Zypresse findet in der klaren Säule ihrer Nadelmasse den vollkommenen Abschluß seiner senkrechten Tendenz; der einer Eiche wirkt wie ein unerfülltes rastloses Streben über den Wipfel hinaus. In der Esche scheint der Sieg der aufstrebenden Äste über den Zusammenhalt der Krone eben zu gelingen. Ihr Anblick hat etwas Aufgelöstes, den Anschein einer freien Verbreitung im Raum, und vielleicht wurde die Weltesche deshalb ein Symbol der nordischen Mythologie. Das Waldesrauschen, dessen Zauber kein antiker Dichter je empfunden hat, das jenseits aller Möglichkeiten des apollinischen Naturgefühls liegt, steht mit seiner geheimen Frage nach dem Woher und Wohin, seinem Versinken des Augenblicks im Ewigen in einer tiefen Beziehung zum Schicksal, zum Gefühl für Geschichte und Dauer, zur faustischen schwermütig-sorgenvollen Richtung der Seele in eine unendlich ferne Zukunft. Deshalb wurde die Orgel, deren tiefes und helles Brausen unsere Kirchen füllt, deren Klang im Gegensatz zum klaren, pastosen Ton der antiken Lyra und Flöte etwas Grenzenloses und Ungemessenes besitzt, das Organ der abendländischen Andacht. Dom und Orgel bilden eine symbolische Einheit wie Tempel und Statue. Die Geschichte des Orgelbaus, eines der tiefinnigsten und rührendsten Kapitel unserer Musikgeschichte, ist eine Geschichte der Sehnsucht nach dem Walde, nach der Sprache dieses eigentlichen Tempels der abendländischen Gottesverehrung. Von dem Versklang Wolframs von Eschenbach bis zur Musik des Tristan ist diese Sehnsucht unveränderlich fruchtbar geblieben. Das Streben des Orchesterklanges im 18. Jahrhundert ging unablässig dahin, dem Orgelklang immer verwandter zu werden. Das Wort »schwebend«, sinnlos antiken Dingen gegenüber, ist gleich wichtig in der Theorie der Musik, in der Ölmalerei, der Architektur, der dynamischen Physik des Barock. Wenn man in einem hohen Walde mächtiger Stämme steht und den Sturm über sich wühlen hört, begreift man plötzlich den Sinn des Gedankens von der Kraft, welche die Masse bewegt.
So entsteht aus dem Urgefühl des nachdenklich gewordnen Daseins eine immer bestimmtere Vorstellung des Göttlichen rings in der Außenwelt. Der Erkennende empfängt den Eindruck einer Bewegung in der äußeren Natur. Er fühlt um sich ein schwer zu beschreibendes fremdes Leben unbekannter Mächte. Er führt den Ursprung dieser Wirkungen auf numina zurück, auf das »andre«, insofern es ebenfalls Leben besitzt. Aus dem Staunen über die fremde Bewegung entspringen Religion und Physik. Sie enthalten die Deutung der Natur oder des Bildes der Umwelt hier durch die Seele, dort durch den Verstand. Die »Mächte« sind zugleich erster Gegenstand der fürchtenden oder liebenden Verehrung und der kritischen Forschung. Es gibt eine religiöse und eine wissenschaftliche Erfahrung.
Nun beachte man wohl, auf welche Weise das Bewußtsein der einzelnen Kulturen die ursprünglichen numina geistig verdichtet. Es belegt sie mit bedeutungsvollen Worten, mit Namen, und bannt – begreift, begrenzt – sie auf diese Art. Damit unterliegen sie der geistigen Macht des Menschen, der den Namen in seiner Gewalt hat. Und es war schon gesagt worden, daß die ganze Philosophie, die ganze Naturwissenschaft, alles, was zum »Erkennen« in irgendeiner Beziehung steht, im tiefsten Grunde nichts ist als die unendlich verfeinerte Art, den Namenzauber des primitiven Menschen auf das »Fremde« anzuwenden. Das Aussprechen des richtigen Namens (in der Physik: des richtigen Begriffes) ist eine Beschwörung. So entstehen Gottheiten und wissenschaftliche Grundbegriffe zuerst als Namen, die man anruft und an die sich eine sinnlich immer bestimmtere Vorstellung knüpft. Aus dem numen wird ein deus, aus dem Begriff eine Vorstellung. Was für ein befreiender Zauber liegt für die Mehrzahl der gelehrten Menschen in der bloßen Nennung solcher Worte wie »Ding an sich«, »Atom«, »Energie«, »Schwerkraft«, »Ursache«, »Entwicklung«! Es ist der gleiche, der den latinischen Bauern bei den Worten Ceres, Consus, Janus, Vesta ergriff.Und man darf behaupten, daß der handfeste Glaube, den z. B. Haeckel mit dem Namen Atom, Materie, Energie verband, von dem Fetischismus des Neandertalmenschen nicht wesentlich verschieden war.
Für das antike Weltgefühl war, dem apollinischen Tiefenerlebnis und dessen Symbolik entsprechend, der einzelne Körper das Sein. Folgerichtig empfand man dessen im Licht sich darbietende Gestalt als das Wesenhafte, als den eigentlichen Sinn des Wortes »Sein«. Was nicht Gestalt hat, Gestalt ist, ist überhaupt nicht. Von diesem Grundgefühl aus, das man sich nicht mächtig genug denken kann, schuf der antike Geist als GegenbegriffVgl. Bd. I, S. 165. zur Gestalt »das andre«, die Ungestalt, den Stoff, die αρχη oder υλη das, was an sich kein Sein besitzt und lediglich als Komplement zum wirklich Seienden eine ergänzende, sekundäre Notwendigkeit darstellt. Man begreift, wie die antike Götterwelt sich bilden mußte. Sie ist neben dem Menschen eine höhere Menschlichkeit; es sind vollkommener gestaltete Körper, erhabenste Möglichkeiten leibhaft-gegenwärtiger Form – im Unwesentlichen, dem Stoffe nach, nicht unterschieden, mithin derselben kosmischen und tragischen Notwendigkeit unterworfen.
Das faustische Weltgefühl aber erlebte die Tiefe anders. Hier erscheint als Inbegriff des wahren Seins der reine wirkende Raum. Er ist das Sein schlechthin. Deshalb wirkt das sinnlich Empfundene, das mit einer bezeichnenden Wendung, die ihm den Rang anweist, das Raumerfüllende genannt wird, als Tatsache zweiter Ordnung und im Hinblick auf den Akt des Naturerkennens als das Fragwürdige, als Schein und als Widerstand, der überwunden werden muß, wenn man als Philosoph oder Physiker den eigentlichen Gehalt des Seins erschließen will. Die abendländische Skepsis hat sich niemals gegen den Raum, immer nur gegen die greifbaren Dinge gewandt. Raum ist der höhere Begriff – Kraft ist nur ein weniger abstrakter Ausdruck dafür – und erst als sein Gegenbegriff erscheint die Masse, das, was im Raume ist. Sie ist logisch wie physikalisch von ihm abhängig.
Der Annahme einer Wellenbewegung des Lichtes, welcher die Auffassung des Lichtes als einer Energieform zugrunde liegt, folgte notwendig die einer zugehörigen Masse, des Lichtäthers. Eine Definition der Masse folgt mit allen ihr zugeschriebenen Eigenschaften aus derjenigen einer Kraft, nicht umgekehrt – und zwar mit der Notwendigkeit eines Symbols. Alle antiken Substanzbegriffe, sie mögen noch so verschieden, idealistisch oder realistisch gefaßt sein, bezeichnen das zu Gestaltende, eine Verneinung also, die ihre näheren Bestimmungen in jedem Fall aus dem Grundbegriff der Gestalt herübernehmen muß. Alle abendländischen Substanzbegriffe bezeichnen das zu Bewegende, ohne Zweifel ebenfalls eine Verneinung, aber die einer andern Einheit. Gestalt und Ungestalt, Kraft und Nichtkraft – so wird die dem Welteindruck beider Kulturen zugrunde liegende und seine Formen restlos erschöpfende Polarität am deutlichsten wiederzugeben sein. Was die vergleichende Philosophie bis jetzt ungenau und verwirrend mit dem einen Worte Stoff wiedergab, bedeutet im einen Fall das Substrat der Gestalt, im andern das der Kraft. Es gibt nichts Verschiedeneres. Hier spricht das Gefühl von Gott, ein Wertgefühl. Die antike Gottheit ist höchste Gestalt, die faustische höchste Kraft. Das »andre« ist das Ungöttliche, dem die Würde des Seins vom Geiste nicht zugesprochen werden kann. Ungöttlich ist dem apollinischen Weltgefühl die gestaltlose, dem faustischen also die kraftlose Substanz.