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Im »Tristan« stirbt die letzte der faustischen Künste. Dies Werk ist der riesenhafte Schlußstein der abendländischen Musik. Die Malerei hat es nicht zu einem so mächtigen Finale gebracht. Manet, Menzel und Leibl, in deren Freilichtstudien die Ölmalerei alten Stils noch einmal wie aus dem Grabe hervorkommt, wirken dagegen klein.
Die apollinische Kunst ging »gleichzeitig« mit der pergamenischen Plastik zu Ende. Pergamon ist das Seitenstück von Bayreuth. Der berühmte Altar selbst ist zwar ein späteres und vielleicht nicht das bedeutendste Werk der Epoche. Man muß (etwa 330-220) eine lange, verschollene Entwicklung voraussetzen. Aber alles, was Nietzsche gegen Wagner und Bayreuth, den »Ring« und den »Parsifal« vorbrachte, läßt sich, unter Gebrauch ganz derselben Ausdrücke wie Dekadenz und Schauspielerei, auf diese Plastik anwenden, von der uns im Gigantenfries des großen Altars – auch einem »Ring« – ein Meisterwerk erhalten ist. Dieselbe Theatralik, dieselbe Anlehnung an alte, mythische, nicht mehr geglaubte Motive, dieselbe rücksichtslose Massenwirkung auf die Nerven, aber auch dieselbe sehr bewußte Wucht, Größe und Erhabenheit, die dennoch einen Mangel an innerer Kraft nicht ganz zu verbergen weiß. Der farnesische Stier und das ältere Vorbild der Laokoongruppe stammen sicherlich aus diesem Kreise.
Was die sinkende Gestaltungskraft kennzeichnet, ist das Form- und Maßlose, dessen der Künstler bedarf, um noch etwas Rundes und Ganzes hervorzubringen. Ich meine nicht nur den Geschmack am Riesenhaften, der nicht wie im Gotischen und im Pyramidenstil der Ausdruck innerer Größe ist, sondern über deren Mangel hinwegtäuscht; dies Prunken mit leeren Dimensionen ist allen anbrechenden Zivilisationen gemeinsam und herrscht vom Zeusaltar in Pergamon und der als Koloß von Rhodos bekannten Heliosstatue des Chares bis zu den Römerbauten der Kaiserzeit, ebenso wie in Ägypten zu Beginn des Neuen Reiches und heute in Amerika. Viel kennzeichnender ist das Willkürliche und Überquellende, das alle Konvention von Jahrhunderten vergewaltigt und zerbricht. Es war die überpersönliche Regel, die absolute Mathematik der Form, das Schicksal der langsam gereiften Sprache einer großen Kunst, hier wie dort, was man nicht mehr ertrug. Lysipp steht darin hinter Polyklet, und die Schöpfer der Galliergruppen hinter Lysipp zurück. Das entspricht dem Wege von Bach über Beethoven zu Wagner. Die frühen Künstler fühlen sich als Meister der großen Form, die späten als deren Sklaven. Was noch Praxiteles und Haydn innerhalb der strengsten Konvention in vollkommener Freiheit und Heiterkeit zu sagen vermochten, brachten Lysipp und Beethoven nur unter Vergewaltigungen zustande. Das Zeichen aller lebendigen Kunst, die reine Harmonie zwischen Wollen, Müssen und Können, das Selbstverständliche des Ziels, das Unbewußte in der Verwirklichung, die Einheit von Kunst und Kultur, alles das ist vorüber. Noch Corot und Tiepolo, noch Mozart und Cimarosa beherrschten die Muttersprache ihrer Kunst. Von da an beginnt man in ihr zu radebrechen, aber niemand empfindet das, weil niemand mehr fließend sprechen kann. Freiheit und Notwendigkeit waren einst identisch. Jetzt versteht man unter Freiheit Mangel an Zucht. In der Zeit Rembrandts und Bachs ist das uns allzubekannte Schauspiel, »an seiner Aufgabe zu scheitern«, gar nicht denkbar. Das Schicksal der Form lag in der Rasse, in der Schule, nicht in privaten Tendenzen des Einzelnen. Im Banne einer großen Tradition gelingt selbst dem kleinen Künstler das Vollkommene, weil die lebendige Kunst ihn und die Aufgabe zusammenführt. Heute müssen diese Künstler wollen, was sie nicht mehr können, und dort mit dem Kunstverstand arbeiten, rechnen, kombinieren, wo der geschulte Instinkt erloschen ist. Das haben sie alle erlebt. Marées ist mit keinem seiner großen Pläne fertig geworden. Leibl wagte es nicht, seine letzten Bilder aus der Hand zu geben, bis sie unter der endlosen Überarbeitung kalt und hart geworden waren. Cézanne und Renoir ließen vieles vom Besten unvollendet, weil sie bei aller Kraft und Mühe nicht weiter konnten. Manet war erschöpft, als er dreißig Bilder gemalt hatte, und trotz der ungeheuren Mühsal, die aus jedem Zuge des Gemäldes und der Skizzen spricht, hat er mit seiner »Erschießung des Kaisers Maximilian« kaum erreicht, was Goya in dem Vorbilde, der Erschießung der Gefangenen auf Pio, mühelos zustande brachte. Bach, Haydn, Mozart und die tausend namenlosen Musiker des 18. Jahrhunderts konnten in der schnellen täglichen Arbeit Vollkommenstes leisten. Wagner wußte, daß er nur dann die Höhe erreichte, wenn er seine ganze Energie zusammennahm und aufs peinlichste die besten Augenblicke seiner künstlerischen Begabung ausnützte.
Zwischen Wagner und Manet besteht eine tiefe Verwandtschaft, die wenigen fühlbar sein wird, die aber ein Kenner alles Dekadenten wie Baudelaire schon früh herausfand. Aus farbigen Strichen und Flecken eine Welt im Räume hervorzuzaubern, das war die letzte, sublimste Kunst der Impressionisten. Wagner leistet das mit drei Takten, in denen sich eine ganze Welt von Seele zusammendrängt. Die Farben der sternhellen Mitternacht, der ziehenden Wolken, des Herbstes, der schaurig-wehmütigen Morgenfrühe, überraschende Blicke auf sonnenbelichtete Fernen, die Weltangst, das nahe Verhängnis, das Verzagen, das verzweifelte Durchbrechen, die jähe Hoffnung, Eindrücke, die vorher kein Musiker für erreichbar gehalten hätte, malt er in vollkommener Deutlichkeit mit ein paar Tönen eines Motivs. Hier ist der äußerste Gegensatz zur griechischen Plastik erreicht. Alles versinkt in körperlose Unendlichkeit; selbst eine linienhafte Melodie ringt sich nicht mehr aus den vagen Tonmassen los, die in seltsamen Wogen einen imaginären Raum heraufrufen. Das Motiv taucht aus dunkler und furchtbarer Tiefe auf, flüchtig von einem grellen Licht überstrahlt; plötzlich steht es in schrecklicher Nähe; es lächelt, es schmeichelt, es droht; bald ist es im Reiche der Streichinstrumente verschwunden, bald nähert es sich wieder aus endlosen Fernen, von einer einzelnen Oboe leise variiert, mit einer immer neuen Fülle seelischer Farben. Alles das ist weder Malerei noch Musik, wenn man an die voraufgehenden Werke des strengen Stils denkt. Als Rossini befragt wurde, was er von der Musik der »Hugenotten« halte, antwortete er: »Musik? – Ich habe nichts dergleichen gehört.« Genau dasselbe Urteil hörte man in Athen über die neuen Malkünste der asiatischen und sikyonischen Schule, und nicht viel anders wird es im ägyptischen Theben über die Kunst von Knossos und Tell el Amarna gelautet haben.
Alles, was Nietzsche von Wagner gesagt hat, gilt auch von Manet. Scheinbar eine Rückkehr zum Elementarischen, zur Natur gegenüber der Inhaltsmalerei und der absoluten Musik, bedeutet ihre Kunst ein Nachgeben vor der Barbarei der großen Städte, der beginnenden Auflösung, wie sie sich im Sinnlichen in einem Gemisch von Brutalität und Raffinement äußert, einen Schritt, der notwendig der letzte sein mußte. Eine künstliche Kunst ist keiner organischen Fortentwicklung fähig. Sie bezeichnet das Ende.
Daraus folgt – ein bitteres Eingeständnis –, daß es mit der abendländischen bildenden Kunst unwiderruflich zu Ende ist. Die Krisis des 19. Jahrhunderts war der Todeskampf. Die faustische Kunst stirbt, wie die apollinische, die ägyptische, wie jede andere an Altersschwäche, nachdem sie ihre innern Möglichkeiten verwirklicht, nachdem sie im Lebenslauf ihrer Kultur ihre Bestimmung erfüllt hat.
Was heute als Kunst betrieben wird, ist Ohnmacht und Lüge, die Musik nach Wagner so gut wie die Malerei nach Manet, Cézanne, Leibl und Menzel.
Man suche doch die großen Persönlichkeiten, welche die Behauptung rechtfertigen, daß es noch eine Kunst von schicksalhafter Notwendigkeit gebe. Man suche nach der selbstverständlichen und notwendigen Aufgabe, die auf sie wartet. Man gehe durch alle Ausstellungen, Konzerte, Theater und man wird nur betriebsame Macher und lärmende Narren finden, die sich darin gefallen, etwas – innerlich längst als überflüssig Empfundenes für den Markt herzurichten. Auf welcher Stufe der innern und äußern Würde steht heute alles, was Kunst und Künstler heißt! In der Generalversammlung irgendeiner Aktiengesellschaft oder unter den Ingenieuren der erstbesten Maschinenfabrik wird man mehr Intelligenz, Geschmack, Charakter und Können bemerken als in der gesamten Malerei und Musik des gegenwärtigen Europa. Es hat immer auf einen großen Künstler hundert überflüssige gegeben, welche Kunst machten. Aber solange es eine große Konvention und also eine echte Kunst gab, machten selbst sie etwas Tüchtiges. Man konnte diesen hundert ihr Dasein verzeihen, weil sie im Ganzen der Tradition der Boden waren, der den einen trug. Aber heute sind nur diese Zehntausend am Werke, »um zu leben« – wovon man die Notwendigkeit nicht einsieht und so viel ist gewiß: man könnte heute alle Kunstanstalten schließen, ohne daß die Kunst davon auch nur berührt würde. Wir dürfen uns nur in das Alexandria des Jahres 200 v. Chr. versetzen, um den Kunstlärm, kennen zu lernen, mit dem eine weltstädtische Zivilisation sich über den Tod ihrer Kunst zu täuschen versteht. Dort, wie heute in den Weltstädten Westeuropas, eine Jagd nach den Illusionen einer künstlerischen Fortentwicklung, der persönlichen Eigenart, des »neuen Stils«, der »ungeahnten Möglichkeiten«, ein theoretisches Geschwätz, eine anspruchsvolle Haltung tonangebender Künstler wie die von Akrobaten, die mit Zentnergewichten von Pappe hantieren (»hodlern«), der Literat statt des Dichters, die schamlose Farce des Expressionismus als ein Stück Kunstgeschichte, das der Kunsthandel organisiert hat, das Denken, Fühlen und Formen als Kunstgewerbe. Auch Alexandria hatte seine Problemdramatiker und Regiekünstler, die man Sophokles vorzog, und seine Maler, die neue Richtungen erfanden und ihr Publikum verblüfften. Was besitzen wir heute unter dem Namen »Kunst«? Eine erlogene Musik voll von künstlichem Lärm massenhafter Instrumente, eine verlogene Malerei voll idiotischer, exotischer und Plakateffekte, eine erlogene Architektur, die auf dem Formenschatz vergangener Jahrtausende alle zehn Jahre einen neuen Stil »begründet«, in dessen Zeichen jeder tut, was er will, eine erlogene Plastik, die Assyrien, Ägypten und Mexiko bestiehlt. Und trotzdem kommt dies allein, der Geschmack von Weltleuten, als Ausdruck und Zeichen der Zeit in Betracht. Alles übrige, das demgegenüber an den alten Idealen »festhält«, ist eine bloße Angelegenheit von Provinzialen.
Die große Ornamentik der Vergangenheit ist eine tote Sprache geworden wie Sanskrit und Kirchenlatein. Statt ihrer Symbolik zu dienen, wird ihre Mumie, ihre Hinterlassenschaft an fertigen Formen verwertet, gemengt, vollkommen anorganisch abgeändert. Jede Modernität hält Abwechslung für Entwicklung. Die Wiederbelebungen und Verschmelzungen alter Stile treten an die Stelle wirklichen Werdens. Auch Alexandria hatte seine präraffaelitischen Hanswurste, mit Vasen, Stühlen, Bildern und Theorien, seine Symbolisten, Naturalisten und Expressionisten. In Rom gibt man sich bald gräko-asiatisch, bald gräko-ägyptisch, bald archaisch, bald – nach Praxiteles – neuattisch. Das Relief der 19. Dynastie, der ägyptischen Modernität, das massenhaft, sinnlos anorganisch Wände, Statuen, Säulen überzieht, wirkt wie eine Parodie auf die Kunst des Alten Reiches. Der ptolemäische Horustempel in Edfu endlich ist in der Leerheit willkürlich gehäufter Formen nicht mehr zu überbieten. Das ist der prahlerische und aufdringliche Stil unsrer Straßen, monumentalen Plätze und Ausstellungen, obwohl wir uns erst am Anfang dieser Entwicklung befinden.
Endlich erlischt selbst die Kraft, etwas anderes auch nur zu wollen. Schon der große Ramses eignete sich Bauten seiner Vorgänger an, indem er in Inschriften und Reliefszenen die Namen ausmeißeln und durch den eigenen ersetzen ließ. Es ist dasselbe Eingeständnis künstlerischer Ohnmacht, das Konstantin veranlaßte, seinen Triumphbogen in Rom mit Skulpturen zu schmücken, die von andern Bauwerken abgenommen waren. Viel früher, seit 150 v. Chr. etwa, beginnt im Bereich der antiken Kunst die Technik der Kopien nach alten Meisterwerken, nicht, weil man diese noch irgend verstanden hätte, sondern weil man Originale nicht mehr selbständig hervorzubringen verstand. Denn man bemerke wohl: diese Kopisten waren die Künstler der Zeit. Ihre Arbeiten, je nach der Mode in diesem oder jenem Stil ausgeführt, bezeichnen das Maximum der damals vorhandenen Gestaltungskraft. Sämtliche römischen Bildnisstatuen, ob männlich oder weiblich, gehen auf eine ganz kleine Zahl hellenischer Typen der Stellung und Gebärde zurück, die für den Torso mehr oder weniger stilecht kopiert werden, während der Kopf mit einer primitiven handwerksmäßigen Treffsicherheit »ähnlich« gemacht wird. Die berühmte Panzerstatue des Augustus z. B. ist nach dem Doryphoros des Polyklet gearbeitet. So etwa verhält sich – um die ersten Vorzeichen des entsprechenden Stadiums im Abendlande zu nennen – Lenbach zu Rembrandt und Makart zu Rubens. 1500 Jahre lang, von Ahmose I. bis auf Kleopatra herab, hat der Ägyptizismus in derselben Weise Bildwerke auf Bildwerke gehäuft. An Stelle des vom Alten bis zum Ausgang des Mittleren Reichs sich entwickelnden großen Stils herrschen Moden, die den Geschmack bald dieser, bald jener Dynastie wiederaufleben lassen. Unter den Turfanfunden befinden sich Reste indischer Dramen aus der Zeit um Christi Geburt, die den um Jahrhunderte späteren des Kalidasa völlig gleich sind. Die uns bekannte chinesische Malerei zeigt mehr als ein Jahrtausend hindurch das Auf und Ab wechselnder Stilmoden, keine Entwicklung, und es muß schon zur Hanzeit so gewesen sein. Das letzte Ergebnis ist ein feststehender, unermüdlich kopierter Formenschatz, wie ihn uns heute die indische, chinesische und arabisch-persische Kunst zeigen, nach welchem Bilder und Gewebe, Verse und Gefäße, Möbel, Dramen und Musikstücke gearbeitet werden, ohne daß die Zeit der Entstehung sich aus der Sprache der Ornamentik auch nur auf Jahrhunderte, geschweige denn Jahrzehnte bestimmen ließe, wie es in allen Kulturen bis zum Ausgang der Spätzeit der Fall war.