Oswald Spengler
Der Untergang des Abendlandes – Erster Band
Oswald Spengler

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Das kann allein dem physiognomischen Takt gelingen, wenn er schöpferisch wird, und das ist von jeher in der Kunst geschehen, vor allem in der tragischen Dichtung. Nur dem denkenden Menschen bereitet die Bewegung Verlegenheit; dem schauenden ist sie selbstverständlich. Das vollkommene System einer mechanischen Naturanschauung ist aber nicht Physiognomik, sondern eben System, das heißt reine Ausgedehntheit, logisch und zahlenmäßig geordnet, nichts Lebendiges, sondern etwas Gewordenes und Totes.

Goethe, der ein Dichter war, kein Rechner, bemerkte deshalb: »Die Natur hat kein System; sie hat, sie ist Leben und Folge aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze.« Für den, der Natur nicht erlebt, sondern erkennt, hat sie aber System; ist sie System und nichts weiter, und folglich Bewegung in ihr ein Widerspruch. Sie kann ihn durch eine künstliche Formulierung zudecken, aber in den Grundbegriffen lebt er fort. Der Stoß und Gegenstoß Demokrits, die Entelechie des Aristoteles, die Kraftbegriffe vom impetus der Occamisten um 1300 bis zum elementaren Wirkungsquantum der Strahlungstheorie seit 1900 enthalten sämtlich diesen Widerspruch. Man bezeichne die Bewegung innerhalb eines physikalischen Systems als dessen Älterwerden – es altert wirklich, als Erlebnis des Beobachters nämlich – und man wird das Verhängnisvolle des Wortes Bewegung und aller daraus abgeleiteten Vorstellungen mit ihrem unzerstörbaren organischen Gehalt deutlich fühlen. Die Mechanik sollte mit Altern und folglich mit Bewegung nichts zu tun haben. Also – denn ohne das Bewegungsproblem ist überhaupt keine Naturwissenschaft denkbar – kann es gar keine lückenlos geschlossene Mechanik geben; irgendwo befindet sich immer der organische Ausgangspunkt des Systems, dort wo das unvermittelte Leben hereinragt – die Nabelschnur, mit der das Geisteskind am mütterlichen Leben, das Gedachte am Denkenden haftet.

Wir lernen hier die Grundlagen der faustischen und apollinischen Naturerkenntnis von einer ganz anderen Seite kennen. Es gibt keine reine Natur. Etwas vom Wesen der Geschichte liegt in jeder. Ist der Mensch ahistorisch wie der Grieche, dessen gesamte Welteindrücke in einer reinen, punktförmigen Gegenwart aufgesaugt werden, so wird das Naturbild statisch, in jedem einzelnen Augenblick in sich selbst abgeschlossen sein, nämlich gegen Zukunft und Vergangenheit. In der griechischen Physik kommt die Zeit als Größe ebensowenig vor wie im Entelechiebegriff des Aristoteles. Ist der Mensch historisch angelegt, so entsteht ein dynamisches Bild. Die Zahl, der Grenzwert des Gewordnen, wird im ahistorischen Falle Maß und Größe, im historischen Funktion. Man mißt nur Gegenwärtiges und man verfolgt nur etwas, das Vergangenheit und Zukunft hat, in seinem Verlauf. Dieser Unterschied ist es, der den inneren Widerspruch im Bewegungsproblem in der antiken Theoriebildung verdeckt, in der abendländischen heraustreibt.

Die Geschichte ist ewiges Werden, ewige Zukunft also; die Natur ist geworden, also ewige Vergangenheit.Vgl. Bd. I, S. 199. Folglich hat hier eine seltsame Umkehrung stattgefunden; die Priorität des Werdens vor dem Gewordnen erscheint aufgehoben. Der aus seiner Sphäre, dem Gewordnen, rückschauende Geist kehrt den Aspekt des Lebens um; aus der Idee des Schicksals, die Ziel und Zukunft in sich hat, wird das mechanische Prinzip von Ursache und Wirkung, dessen Schwerpunkt im Vergangenen liegt. Der Geist vertauscht dem Range nach das zeithafte Leben und das raumhaft Erlebte, und versetzt die Zeit als Strecke in ein räumliches Weltsystem. Während aus der Richtung die Ausdehnung, aus dem Leben das Räumliche als weltbildendes Erlebnis folgt, setzt das menschliche Verstehen das Leben als Prozeß in seinen starren, vorgestellten Raum hinein. Dem Leben ist der Raum etwas, das als Funktion zum Leben gehört, dem Geist ist Leben etwas im Raume. Schicksal bedeutet ein Wohin, Kausalität bedeutet ein Woher. Wissenschaftlich begründen heißt vom Gewordnen und Verwirklichten aus nach »Gründen« suchen, indem man den mechanisch aufgefaßten Weg – das Werden als Strecke – rückwärts verfolgt. Aber es läßt sich nicht rückwärts leben, nur rückwärts denken. Nicht die Zeit, nicht das Schicksal ist umkehrbar, nur was der Physiker Zeit nennt, was er als teilbare, womöglich negative oder imaginäre »Größe« in seine Formeln eingehen läßt.

Die Verlegenheit ist immer wieder gefühlt, wenn auch ihrem Ursprung und ihrer Notwendigkeit nach selten begriffen worden. Innerhalb der antiken Naturforschung stellten die Eleaten der Notwendigkeit, die Natur in Bewegung zu denken, die logische Einsicht entgegen, daß Denken ein Sein, mithin Erkanntes und Ausgedehntes identisch und also Erkenntnis und Werden unvereinbar sind. Ihre Einwände sind nie widerlegt worden und unwiderlegbar, aber sie haben die Entwicklung der antiken Physik, die als Ausdruck der apollinischen Seele unentbehrlich und also über logische Widersprüche erhaben war, nicht gehindert. Innerhalb der von Galilei und Newton begründeten klassischen Mechanik des Barock ist eine einwandfreie Lösung im dynamischen Sinne immer wieder versucht worden. Die Geschichte des Kraftbegriffs, dessen endlos wiederholte Definition die Leidenschaft des Denkens kennzeichnet, das durch diese Schwierigkeit sich selbst in Frage gestellt sah, ist

nichts als die Geschichte der Versuche, die Bewegung mathematisch und begrifflich restlos zu fixieren. Der letzte bedeutende Versuch, der wie alle früheren mit Notwendigkeit mißlang, liegt in der Mechanik von Hertz vor.

Hertz hat, ohne die eigentliche Quelle aller Verlegenheit zu finden – das ist noch keinem Physiker gelungen –, versucht, den Begriff der Kraft ganz auszuschalten, mit dem richtigen Gefühl, daß der Fehler aller mechanischen Systeme in einem der Grundbegriffe zu suchen sei. Er wollte das Bild der Physik allein aus den Größen der Zeit, des Raumes und der Masse aufbauen, aber er bemerkte nicht, daß eben die Zeit selbst, die als Richtungsfaktor in den Begriff der Kraft eingegangen ist, das organische Element war, ohne das eine dynamische Theorie sich nicht aussprechen läßt und mit dem eine reine Lösung nicht gelingt. Und abgesehen davon bilden die Begriffe Kraft, Masse und Bewegung eine dogmatische Einheit. Sie bedingen einander so, daß die Anwendung des einen die unvermerkte der beiden andern schon einschließt. In dem antiken Urwort ἀρχή ist die ganze apollinische, im Kraftbegriff die ganze abendländische Fassung des Bewegungsproblems enthalten. Der Begriff der Masse ist nur das Komplement zum Kraftbegriff. Newton, eine tief religiöse Natur, brachte lediglich das faustische Weltgefühl zum Ausdruck, als er, um den Sinn der Worte Kraft und Bewegung verständlich zu machen, von Massen als Angriffspunkten der Kraft und Trägern der Bewegung sprach. So hatten die Mystiker des 13. Jahrhunderts Gott und sein Verhältnis zur Welt aufgefaßt. Newton hatte mit seinem berühmten » hypotheses non fingo« das metaphysische Element abgelehnt, aber seine Grundlegung einer Mechanik ist durch und durch metaphysisch. Die Kraft ist im mechanischen Naturbilde des abendländischen Menschen, was der Wille in seinem Seelenbilde und die unendliche Gottheit in seinem Weltbilde ist. Die Grundgedanken dieser Physik standen fest, lange bevor der erste Physiker geboren wurde; sie lagen im frühesten religiösen Weltbewußtsein unserer Kultur.


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