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Es ist ein wissenschaftliches Vorurteil, daß Mythen und Göttervorstellungen eine Schöpfung des primitiven Menschen seien und daß »mit fortschreitender Kultur« der Seele die mythenbildende Kraft verloren gehe. Das Gegenteil ist der Fall. Wäre nicht die Morphologie der Geschichte bis zum heutigen Tag eine kaum entdeckte Welt von Problemen geblieben, so hätte man längst die vermeintlich allgemein verbreitete mythische Gestaltungskraft auf einzelne Zeitalter beschränkt gefunden und endlich begriffen, daß diese Kraft einer Seele, ihre Welt mit Gestalten, Zügen und Symbolen, und zwar von einheitlichem Charakter, zu erfüllen, gerade nicht dem Weltalter der primitiven, sondern allein den Frühzeiten der großen KulturenÜber die Zeitalter der primitiven und der hohen Kulturen vgl. Bd. II, S. 593 ff. angehört. Jeder Mythos großen Stils steht am Anfang eines erwachenden Seelentums. Er ist seine erste gestaltende Tat. Man findet ihn nur dort und nirgends anders, dort aber auch mit Notwendigkeit.
Ich setze voraus, daß das, was Urvölker, wie die Ägypter der Thinitenzeit, die Juden und Perser vor Kyros,Vgl. Bd. II, S. 862. die Helden der mykenischen Burgen und die Germanen der VölkerwanderungVgl. Bd. II, S. 896 f. an religiösen Vorstellungen besaßen, noch kein höherer Mythos war, das heißt, wohl eine Summe zerstreuter und regellos wechselnder Züge, an Namen haftender Kulte, fragmentarischer Sagenbildungen, aber noch keine Götter ordnung, kein mythischer Organismus, kein geschlossenes Weltbild von einheitlicher Physiognomie, so wenig ich die Ornamentik dieser Stufe eine Kunst nenne. Übrigens sind die größten Bedenken Symbolen und Sagen gegenüber angebracht, die heute oder auch seit Jahrhunderten unter scheinbar primitiven Völkern geläufig sind, nachdem seit Jahrtausenden keine Landschaft der Erde von der Einwirkung fremder Hochkulturen ganz unberührt geblieben ist.
Es gibt deshalb so viele Formenwelten des großen Mythos, als es Kulturen, als es frühe Architekturen gibt. Was ihnen zeitlich vorausliegt, das Chaos unfertiger Gestaltenkreise, in das die moderne Mythenforschung sich ohne ein leitendes Prinzip verliert, kommt unter diesen Voraussetzungen nicht in Betracht; andrerseits zählen Bildungen dazu, von denen es noch niemand vermutet hat. In der homerischen Zeit (1100-800)Vgl. Bd. II, S. 902 ff. und der entsprechenden ritterlich-germanischen (900-1200),Vgl. Bd. II, S. 911 ff. den epischen Zeitaltern, nicht früher, nicht später, ist das große Weltbild einer neuen Religion entstanden. Ihnen entspricht in Indien die vedische und in Ägypten die Pyramidenzeit; man wird eines Tages entdecken, daß die ägyptische Mythologie in der Tat gerade während der dritten und vierten Dynastie zur Tiefe herangereift ist.
Nur so ist der unermeßliche Reichtum religiös-intuitiver Schöpfungen zu verstehen, der die drei Jahrhunderte der deutschen Kaiserzeit füllt. Es ist die faustische Mythologie, die hier entstand. Man war bisher blind für den Umfang und die Einheit dieser Formenwelt, weil religiöse und gelehrte Vorurteile zu einer fragmentarischen Behandlung entweder der katholischen oder der nordisch-heidnischen Bestandteile drängten. Aber es besteht hier kein Unterschied. Der tiefe Bedeutungswandel innerhalb der christlichen Vorstellungskreise ist als schöpferischer Akt identisch mit der Zusammenfassung altheidnischer Kulte der Wanderzeit zu einem Ganzen. Es gehören hierher die sämtlichen westeuropäischen Volkssagen, die damals ihre symbolische Durchbildung erhalten haben, mögen sie auch der Substanz nach viel früher entstanden und viel später noch an neue äußere Erlebnisse angeknüpft und durch bewußtere Züge bereichert worden sein. Es gehören dazu die großen, in der Edda erhaltenen Göttersagen und eine Anzahl Motive aus den Evangeliendichtungen gelehrter Mönche. Dazu kommt die deutsche Heldensage des Siegfried-, Gudrun-, Dietrich-, Wielandkreises mit ihrem Gipfel im Nibelungenlied und neben ihr die ungeheuer reiche, aus altkeltischen Märchen abgeleitete und auf französischem Boden eben damals vollendete Rittersage: vom König Artus und der Tafelrunde, vom heiligen Gral, von Tristan, Parzival und Roland. Und endlich ist außer der unvermerkten, aber um so tieferen seelischen Umdeutung aller Züge der Passionsgeschichte der ganze Reichtum der katholischen Heiligenlegende hinzuzurechnen, deren Blütezeit das 10. und 11. Jahrhundert füllt. Damals sind die Marienleben, die Geschichten des hl. Rochus, Sebald, Severin, Franz, Bernhard und der Odilia entstanden. Um 1250 wurde die Legenda aurea verfaßt; es war die Blütezeit der höfischen Epik und der isländischen Skaldenpoesie. Den großen Walhallgöttern im Norden entsprechen die »vierzehn Nothelfer«, die gleichzeitig im südlichen Deutschland als mythische Gruppe zusammengefaßt worden sind. Neben der Schilderung von Ragnarök, der Götterdämmerung, in der Völuspa steht eine christliche Fassung in den süddeutschen Muspilli. Dieser große Mythos entwickelt sich wie die Heldendichtung auf den Höhen der frühen Menschlichkeit. Beide gehören den Urständen an, Adel oder Priestertum. Sie sind in Burg und Dom zu Hause, nicht im Dorf. Hier unten im Volk läuft eine schlichte Sagenwelt daneben durch die Jahrhunderte, als Märchen, Volks- und Aberglaube bezeichnet und doch von den Welten des hohen Schauens nicht zu trennen.Vgl. Bd. II, S. 900 f., 904.
Nichts ist für den letzten Sinn dieser religiösen Schöpfungen bezeichnender als die Tatsache, daß Walhall nicht altgermanischen Ursprungs ist und den Stämmen der Völkerwanderung noch gar nicht bekannt war, sondern daß es erst jetzt und mit einem Schlage, aus innerster Notwendigkeit im Bewußtsein der auf dem Boden des Abendlandes neu entstandenen Völker sich bildete, »gleichzeitig« also mit dem Olymp, den wir aus der homerischen Epik kennen und der ebensowenig mykenischer Herkunft ist. Und zwar ist Walhall nur im Weltbild der beiden hohen Stände aus der Vorstellung von Hel emporgewachsen; im Volksglauben blieb Hel das Totenreich.E. Mogk, German. Mythol., Grundr. d. germ. Philol. III (1900), S. 340.
Man hat die tiefinnerliche Einheit dieser faustischen Mythen- und Sagenwelt und die vollkommen einheitliche Symbolik ihrer Formensprache bis jetzt nicht beachtet. Aber Siegfried, Baldur, Roland, der Heliand sind verschiedene Namen für ein und dieselbe Gestalt. Walhall und die Gefilde der Seligen Avalun, König Artus' Tafelrunde und das Mahl der Einherier, Maria, Frigga und Frau Holle bedeuten das gleiche. Demgegenüber ist die äußere Abstammung der stofflichen Motive und Elemente, auf welche die Mythenforschung ein Übermaß von Eifer verwendet hat, lediglich ein Zug der historischen Oberfläche und ohne tiefere Bedeutung. Für den Sinn eines Mythos beweist seine Herkunft nichts. Das numen selbst, die Urgestalt des Weltgefühls, ist reine, wahllose und unbewußte Schöpfung und unübertragbar. Was ein Volk durch Bekehrung oder bewundernde Nachahmung von einem anderen erhält, ist Name, Kleid und Maske für ein eignes Gefühl, niemals das Gefühl selbst. Man hat die altkeltischen und altgermanischen Mythenmotive so gut wie den durch gelehrte Mönche bewahrten Formenschatz des antiken und den durch die abendländische Kirche vollständig übernommenen des gesamten christlich-morgenländischen Glaubens lediglich als den Stoff zu betrachten, aus dem die faustische Seele in diesen Jahrhunderten eine eigne mythische Architektur erschuf. Es ist auf dieser Stufe eines eben erwachenden Seelentums ganz belanglos, ob diejenigen, durch deren Geist und Mund dieser Mythos ins Leben tritt, »einzelne« Skalden, Missionare, Priester oder »das Volk« sind. Es ist für die innere Selbständigkeit des hier Entstandenen auch belanglos, daß die christlichen Vorstellungen die Formgebung entscheidend beherrscht haben.
Wir haben, jedesmal in der Frühzeit der antiken, arabischen und abendländischen Kultur, einen Mythos statischen, magischen, dynamischen Stils vor uns. Man prüfe jede Einzelheit der Form: wie dort eine Haltung, hier eine Tat, dort ein Sein, hier der Wille zugrunde liegen, wie in der Antike das leibhaft Greifbare, das sinnlich Gesättigte vorwaltet, das eben deshalb, was die Form der Verehrung anbelangt, seinen Schwerpunkt in einem sinnlich eindrucksvollen Kultus hat, während im Norden der Raum, die Kraft und mithin eine vorwiegend dogmatisch gefärbte Religiosität herrschen. Gerade in diesen frühesten Schöpfungen der jungen Seele tritt die Verwandtschaft zwischen den olympischen Gestalten, der attischen Statue und dem körperhaften dorischen Tempel, dann zwischen der überwölbten Kuppelbasilika, dem »Geist Gottes« und der Arabeske, endlich zwischen Walhall und dem Marienmythos, dem aufstrebenden Mittelschiff der Dome und der instrumentalen Musik hervor.
Die arabische Seele hat in den Jahrhunderten zwischen Cäsar und Konstantin ihren Mythos ausgebildet, jene phantastische Masse von Kulten, Visionen und Legenden, die noch heute kaum übersehbar ist,Vgl. Bd. II, S. 799 ff., 863 ff. synkretistische Kulte wie die der syrischen Baale, der Isis und des Mithras, der auf syrischem Boden völlig umgeschaffen wurde. Evangelien, Apostelgeschichten und Apokalypsen in erstaunlicher Zahl, die christlichen, persischen, jüdischen, neuplatonischen, manichäischen Legenden, die himmlischen Engel- und Geisterordnungen der Kirchenväter und Gnostiker. In der Leidensgeschichte der Evangelien, dem eigentlichen Epos der christlichen Nation, umgeben von der Kindheitsgeschichte und den Taten der Apostel, und in der gleichzeitig ausgebildeten Zarathustralegende erblicken wir die Heldengestalten der früharabischen Epik neben Achilles, Siegfried und Parzival. Die Szenen von Gethsemane und Golgatha stehen neben den erhabensten Bildern der hellenischen und germanischen Sage. Diese magischen Visionen erwuchsen fast ohne Ausnahme unter dem Eindruck der sterbenden Antike, die ihnen der Natur der Sache nach niemals den Gehalt, um so öfter die Form lieh. Es ist kaum zu überschätzen, wieviel Apollinisches umgedeutet werden mußte, bevor der altchristliche Mythos die feste Gestalt angenommen hatte, die er zur Zeit des Augustinus besaß.