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Daraus ergibt sich, daß allem »Wissen« von der Natur, auch dem exaktesten, ein religiöser Glaube zugrunde liegt. Die reine Mechanik, auf welche die Natur zurückzuführen die abendländische Physik als ihr Endziel bezeichnet, ein Ziel, dem diese Bildersprache dient, setzt ein Dogma, nämlich das religiöse Weltbild der gotischen Jahrhunderte voraus, durch welches sie geistiges Eigentum der abendländischen Kulturmenschheit und nur dieser ist. Es gibt keine Wissenschaft ohne unbewußte Voraussetzungen solcher Art, über welche der Forscher keine Macht besitzt, und zwar Voraussetzungen, welche sich bis in die frühesten Tage der erwachenden Kultur zurückführen lassen. Es gibt keine Naturwissenschaft ohne eine voraufgegangene Religion. In diesem Punkte besteht kein Unterschied zwischen katholischer und materialistischer Naturanschauung: sie sagen beide dasselbe mit andern Worten. Auch die atheistische Naturforschung hat Religion; die moderne Mechanik ist Stück für Stück ein Nachbild gläubigen Schauens.
Das Vorurteil des mit Thales und Bacon auf die Höhe der Ionik und des Barock gelangten städtischen Menschen bringt die kritische Wissenschaft in einen hochmütigen Gegensatz zur frühen Religion des noch stadtlosen Landes, als die überlegene Stellung zu den Dingen, im Alleinbesitz der wahren Erkenntnismethoden und damit berechtigt, die Religion selbst empirisch und psychologisch zu erklären, sie »zu überwinden«. Nun zeigt die Geschichte der hohen Kulturen, daß »Wissenschaft« ein spätes und vorübergehendes Schauspiel ist,Vgl. Bd. II, S. 927 f. dem Herbst und Winter dieser großen Lebensläufe angehörend, im antiken wie im indischen, chinesischen und arabischen Denken von der Lebensdauer weniger Jahrhunderte, innerhalb deren sich ihre Möglichkeiten erschöpfen. Die antike Wissenschaft ist zwischen den Schlachten von Cannä und Actium erloschen und hat wieder dem Weltbilde der »zweiten Religiosität«Vgl. Bd. II, S. 941 ff. Platz gemacht. Danach ist es möglich vorauszusehen, wann das abendländische Naturdenken die Grenze seiner Entwicklung erreichen wird.
Nichts berechtigt dazu, dieser geistigen Formenwelt den Vorrang vor andern zu geben. Jede kritische Wissenschaft beruht wie jeder Mythos, jeder religiöse Glaube überhaupt auf einer inneren Gewißheit; ihre Bildungen sind von anderm Bau und Klang, ohne grundsätzlich verschieden zu sein. Alle Einwände, welche die Naturwissenschaft gegen die Religion richtet, treffen sie selbst. Es ist ein großes Vorurteil, jemals an Stelle »anthropomorpher« Vorstellungen »die Wahrheit« setzen zu können. Andre als solche Vorstellungen gibt es überhaupt nicht. In jeder, die überhaupt möglich ist, spiegelt sich das Dasein ihres Urhebers. »Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde« – so gewiß das von jeder geschichtlichen Religion gilt, so gewiß gilt es von jeder physikalischen, vermeintlich noch so gut begründeten Theorie. Die Natur des Lichtes haben antike Forscher sich so vorgestellt, daß es aus körperlichen Abbildern besteht, die von der Lichtquelle zum Auge gehen. Für das arabische Denken, ohne Zweifel schon an den persisch-jüdischen Hochschulen von Edessa, Resain und Pumbadita, und für Porphyrios unmittelbar bezeugt, werden die Farben und Formen der Dinge in magischer (»geistiger«) Weise der substanziell vorgestellten Sehkraft, die in den Augäpfeln ruht, zugeführt. So haben Ibn al Haitam, Avicenna und die »Lauteren Brüder« gelehrt.E. Wiedemann, Über die Naturwiss. bei den Arabern (1890). F. Strunz, Gesch. der Naturwiss. im Mittelalter (1910), S. 58 f. Daß das Licht eine Kraft – impetus – ist, war schon um 1300 die Vorstellung des Pariser Occamistenkreises um Buridan, Albert von Sachsen und den Erfinder der Koordinatengeometrie, Nicolas von Oresme.P. Duhem, Études sur Léonard de Vinci, 3. Reihe (1913). Jede Kultur hat sich eine eigne Gruppe von Bildern der Vorgänge geschaffen, die für sie allein wahr ist und es nur so lange bleibt, als die Kultur lebendig und im Verwirklichen ihrer innern Möglichkeiten begriffen ist. Ist eine Kultur zu Ende und damit das schöpferische Element, die Bildkraft, die Symbolik erloschen, so bleiben »leere« Formeln, Gerippe von toten Systemen übrig, die von den Menschen fremder Kulturen ganz buchstäblich als sinnlos und wertlos empfunden, mechanisch beibehalten oder verachtet und vergessen werden. Zahlen, Formeln, Gesetze bedeuten nichts und sind nichts. Sie müssen einen Leib haben, den ihnen nur ein lebendes Menschentum verleiht, indem es in ihnen und durch sie lebt, sich zum Ausdruck bringt, sie innerlich in Besitz nimmt. Und deshalb gibt es keine absolute Physik, nur einzelne, auftauchende und schwimmende Physiken innerhalb einzelner Kulturen.
Die »Natur« des antiken Menschen fand ihr höchstes künstlerisches Sinnbild in der nackten Statue; aus ihr erwuchs folgerichtig eine Statik von Körpern, eine Physik der Nähe. Zur arabischen Kultur gehört die Arabeske und die höhlenhafte Wölbung der Moschee; aus diesem Weltgefühl ist die Alchymie entstanden mit der Vorstellung von geheimnisvoll wirkenden Substanzen wie dem »Merkur der Philosophen«, der weder ein Stoff ist noch eine Eigenschaft, sondern etwas, das in magischer Weise dem farbigen Dasein von Metallen zugrunde liegt und ihre Verwandlung ineinander bewirken kann.M. Berthelot, Die Chemie im Altertum und Mittelalter (1909), S. 64 ff. Die »Natur« des faustischen Menschen endlich hat eine Dynamik des unbegrenzten Raumes, eine Physik der Ferne hervorgebracht. Zur ersten gehören die Vorstellungen von Stoff und Form, zur zweiten gut spinozistisch die von Substanzen und ihren sichtbaren oder geheimen Attributen,Für die Metalle ist »Merkur« das Prinzip des substanziellen Charakters (Glanz, Dehnbarkeit, Schmelzbarkeit), »Sulfur« das der attributiven Erzeugungen wie Brennen und Verwandlung, vgl. Strunz, Gesch. der Naturwiss. im Mittelalter (1910), S. 73 ff. zur dritten die von Kraft und Masse. Die apollinische Theorie ist ein ruhiges Betrachten, die magische ein verschwiegenes Wissen um – man kann auch da den religiösen Ursprung der Mechanik erkennen – die »Gnadenmittel« der Alchymie, die faustische von Anfang an Arbeitshypothese.Vgl. Bd. II, S. 929, 1186. Der Grieche fragte nach dem Wesen des sichtbaren Seins; wir fragen nach der Möglichkeit, uns der unsichtbaren Triebkräfte des Werdens zu bemächtigen. Was für jenen die liebevolle Versenkung in den Augenschein, das ist für uns die gewaltsame Befragung der Natur, das methodische Experiment.
Und wie die Problemstellung und Methoden, so sind auch die Grundbegriffe Symbole je einer und nur dieser einen Kultur. Die antiken Urworte ᾰπειρον, ἀρχή, μορφή, ὔλη sind in unsere Sprachen nicht übersetzbar; ἀρχή mit Urstoff übersetzen, heißt den apollinischen Gehalt beseitigen und den Rest, das bloße Wort, mit einem fremden Bedeutungsgefühl erklingen lassen. Was ein antiker Mensch als »Bewegung« im Raum vor sich sah, verstand er als ἀλλοίωσις, Veränderung der Lage von Körpern. Von der Art, wie wir Bewegungen sehend erleben, haben wir den Begriff »Prozeß« abgezogen, von procedere, vorschreiten, womit die ganze Richtungsenergie ausgedrückt ist, ohne die es für uns kein Nachdenken über Naturvorgänge gibt. Die antike Naturkritik hat die sichtbaren Aggregatzustände als die Urverschiedenheit angesetzt, die berühmten vier Elemente des Empedokles, nämlich das starr Körperliche, das unstarr Körperliche und das Nichtkörperliche.Erde, Wasser, Luft. Das Feuer gehört für das antike Auge als viertes dazu. Es ist der stärkste optische Eindruck, den es gibt, und gestattet deshalb dem antiken Geist keinen Zweifel an seiner Körperlichkeit. Die arabischen »Elemente« sind in den Vorstellungen der geheimen Konstitutionen und Konstellationen enthalten, welche die Erscheinung der Dinge fürs Auge bestimmen. Man versuche, dieser Fühlweise näherzukommen, und man wird finden, daß der Gegensatz von fest und flüssig für einen Aristotelesschüler und einen Syrer ganz Verschiedenes bedeuten, nämlich dort Grade der Körperlichkeit, hier magische Attribute. So entsteht das Bild des chemischen Elements, jene Art magischer Substanzen, die durch geheimnisvolle Kausalität aus den Dingen erscheinen und wieder in ihnen verschwinden, die sogar den Einflüssen der Gestirne unterliegen. Die Alchymie enthält den tiefen wissenschaftlichen Zweifel an der plastischen Wirklichkeit der Dinge, der somata griechischer Mathematiker, Physiker und Dichter, die sie auflöst, zerstört, um das Geheimnis ihres Wesens zu finden. Es ist ein wahrer Bildersturm wie jener des Islam und der byzantinischen Bogumilen. Ein tiefer Unglaube an die greifbare Gestalt, in welcher die Natur erscheint, die Gestalt, welche den Griechen heilig war, offenbart sich. Der Streit um die Person Christi auf allen frühen Konzilen, der zu den nestorianischen und monophysitischen Spaltungen führte, ist ein alchimistisches Problem. Es wäre keinem antiken Physiker eingefallen, die Dinge zu erforschen, indem er ihre anschauliche Form verneinte oder vernichtete. Es gibt deshalb keine antike Chemie, so wenig es eine antike Theorie von der Substanz Apollos statt von seinen Erscheinungsweisen gab.
Die chemische Methode arabischen Stils ist das Zeichen eines neuen Weltbewußtseins. Ihre Erfindung knüpft sich an den Namen jenes rätselhaften Hermes Trismegistos, der in Alexandria gleichzeitig mit Plotin und Diophant, dem Begründer der Algebra, gelebt haben soll. Mit einem Schlage ist die mechanische Statik, die apollinische Naturwissenschaft zu Ende. Und wieder gleichzeitig mit der endgültigen Emanzipation der faustischen Mathematik durch Newton und Leibniz befreite sich auch die abendländische ChemieDie während der gotischen Jahrhunderte trotz dem spanischen Dominikaner Arnald von Villanova († 1311) neben der mathematisch-physikalischen Forschung keinerlei schöpferische Bedeutung besitzt. von ihrer arabischen Form durch Stahl (1660-1734) und dessen Phlogistontheorie. Die eine wie die andre wird reine Analysis. Schon Paracelsus (1493-1541) hatte die magische Tendenz, Gold zu machen, in eine arzneiwissenschaftliche umgewandelt. Man spürt darin ein verändertes Weltgefühl. Robert Boyle (1626-1691) hat dann die analytische Methode und damit den westeuropäischen Begriff des Elements geschaffen. Aber man täusche sich darüber nicht: was man die Begründung der modernen Chemie nennt, deren Epochen durch die Namen Stahl und Lavoisier bezeichnet werden, ist nichts weniger als eine Ausbildung »chemischer« Gedanken, sofern man darunter alchymistische Naturanschauungen versteht. Sie ist das Ende der eigentlichen Chemie, ihre Auflösung in das umfassende System der reinen Dynamik, ihre Einordnung in diejenige mechanische Naturanschauung, welche die Barockzeit durch Galilei und Newton begründet hatte. Die Elemente des Empedokles bezeichnen ein körperliches Sichverhalten, die Elemente der Verbrennungstheorie Lavoisiers (1777), die der Entdeckung des Sauerstoffs (1771) folgte, ein dem menschlichen Willen zugängliches Energiesystem. Fest und flüssig werden Bezeichnungen für Spannungsverhältnisse zwischen Molekülen. Durch unsere Analysen und Synthesen wird die Natur nicht nur befragt oder überredet, sondern bezwungen. Die moderne Chemie ist ein Kapitel der modernen Physik der Tat.
Was wir Statik, Chemie, Dynamik nennen, historische Bezeichnungen ohne tieferen Sinn für die heutige Naturwissenschaft, sind die drei physikalischen Systeme der apollinischen, magischen und faustischen Seele, jedes in seiner Kultur erwachsen, jedes in seiner Geltung auf eine Kultur beschränkt. Dem entsprechen die Mathematiken der euklidischen Geometrie, der Algebra, der höheren Analysis, und die Künste der Statue, der Arabeske, der Fuge. Will man die drei Arten von Physik – denen jede andre Kultur wieder eine andre zur Seite setzen könnte und müßte – nach ihrer Auffassung des Bewegungsproblems unterscheiden, so hat man eine mechanische Ordnung von Zuständen, von geheimen Kräften, von Prozessen.