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50

Zum nächtlichen Straßenbild Londons gehörten die hübschen Orangegirls. Den nach Schluß der Vorstellungen aus den Theaterhäusern strömenden Theaterbesuchern boten sie Apfelsinen, Mandelmilch und sonstige Erfrischungen an. Ein Orangegirl zu sein, war ein bürgerlicher, kleinbürgerlicher Beruf. Auch die anmutigsten unter ihnen hielten nur ihre Ware feil und nicht sich selbst. Sie verstanden es, mit schnippischen Antworten Zudringlichkeiten abzuwehren. Die Londoner respektierten das; und so gut wie nie kam es vor, daß ein Orangegirl ernstlich belästigt wurde.

Vom Turm der St. Paul's Kathedrale dröhnten eben elf dumpfe Schläge, als ein elfenhaft schlankes und noch kindhaft aussehendes Orangegirl in Paternoster Row einbog, fast laufend durch die menschenleere Gasse eilte und am Toreingang von Mistris Turner's Haus die Glocke zog. Lange mußte die Kleine warten, ehe ihr aufgeschlossen ward. Geschwind, wie wenn sie fürchtete, das Tor könnte ihr vor der Nase wieder zugeschlagen werden, schlüpfte sie in den weißgetünchten Vorraum, der das Erdgeschoß in zwei Hälften – zwei geschiedene Welten – teilte: rechts war die Apotheke und links die Wohnung der Putzmacherin. Dem Tor gegenüber befindliche Treppenstufen führten zu den oberen Gelassen, aber auch hinab in die Kellerräume.

Nachdem sie eingetreten war, sah sie, wer ihr geöffnet hatte und erschrak. Einen Leuchter in der Hand haltend, starrte der Apothekergehilfe Franklin sie wie eine Geistererscheinung an. Scheu und zugleich frech flackerten hinter schwarzer Hornbrille seine kleinen stechenden Augen, über sein pockennarbiges, käsiges Antlitz zuckte ein verlegenes Strahlen. Er war dürr und spitznäsig und schwarzhaarig, man hätte ihn für einen verzauberten Raben halten können.

»Lady Essex! ... Frances! ...« murmelte er.

»Frances nicht mehr! Das war damals ... Sei vernünftig, Franklin! ... Ist Mistris Turner noch auf?«

»Nein, sie schläft.«

»Mein Klingeln muß sie doch geweckt haben.«

»Es klingeln viele nachts, die zur Apotheke wollen.«

»Geh, wecke sie. Ich muß sie sprechen.«

»Ich kann nicht.«

»Warum kannst du nicht?«

»Weil ich dir eine Orange abkaufen will!«

»Ich verkaufe keine Orangen ...«

»Doch! – an andere! Nicht an mich! Ich weiß, heimlich kamst du oft hierher – aber nicht zu mir! ... Heute sollst du mein Gast sein, Frances!«

Er faßte sie am Ärmel und wollte sie in die Apotheke hineinziehen. Sie fürchtete sich maßlos, doch sie schrie nicht. Vor Angst lachte sie nervös.

»Mache keine Dummheiten, Franklin! ... Du versprachst mir doch, zu vergessen!«

»Was vergessen? Daß Sie seitdem geheiratet haben, Madam? ... Hast du denn vergessen?«

»Alles!«

»So? Auch die Schröpfköpfe, Spanischen Fliegen und Klystiere, mit denen ich das kleine Mädchen von der Kolik kurierte? ... Dazu war ich gut genug. Meinen Kopf setzte ich aufs Spiel bei der Kur. Schlecht bezahlt haben Sie mich, Madam!«

Lady Essex stampfte mit dem Fuß auf.

»Was bin ich dir noch schuldig? Schicke mir die Rechnung!«

»Was du mir schuldig bist? Einen freundlichen Blick, – der mehr für mich ist als alles Gold Arabiens!«

»Da nimm die Abschlagszahlung!« (Sie lächelte ihn mit ihren unschuldigen Kinderaugen an.) »Und diese!« (Sie drückte ihm fünf Goldstücke in die Hand.) »Und jetzt endlich geh, wecke Mistris Turner!«

Er warf ihr die fünf Goldstücke vor die Füße, daß sie klirrend umhersprangen. Doch gleich darauf bereute er, kniete vor ihr und küßte ihr die Schuhe.

»Ich bin ein Hund! Ich verdiene es nicht besser, als daß du mich mit Füßen trittst! So ein armes Vieh wie ich eins bin, und du eine Peeress! – wie darf ich die Augen zu dir erheben! Welch ein Recht habe ich, zu fragen, mit wem du sündigst! Was geht das mich Elenden an! ... Lösche mich aus deinem Gedächtnis, aber eins versprich mir: solltest du jemals Hilfe brauchen – (du verstehst, was ich damit sagen will, Frances!) – so entsinne dich meiner! Denn wenn du Hilfe brauchst, werde ich bereit sein, mich hängen, mich rädern, mich vierteilen zu lassen aus Liebe zu dir, zum Schuft zu werden aus Liebe zu dir, ewig im Höllenfeuer zu büßen aus Liebe zu dir! ...«


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