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Hannover, 26. 2. 13
Sehr geehrter Herr Dehmel!
Ich las in den Zeitungen von der Gründung der Kleist-Stiftung und später von der Verteilung der ersten Preise.
Geehrter Herr Dehmel, ich nähre bei mir eine heimliche Hoffnung: die, vielleicht auch einmal von dieser Stiftung unterstützt zu werden.
Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle und meine Lebensumstände, so kurz es geht, mitteile:
Mein Name: Gerrit Engelke. Ich bin zu Hannover geboren und lebe im 23. Jahr. Ich lernte in der Bürgerschule und später bei einem Malermeister. Ich muß hier zwischenbemerken, daß meine Eltern, durch besondere Umstände veranlaßt, seit längerer Zeit (meine Mutter seit mehreren Jahren, mein Vater schon seit etwa 10 Jahren) in Amerika wohnen und dort eine Speisewirtschaft betreiben. Ich besuchte einige Winter (die arbeitslosen Zeiten des Malers) die hannoversche Kunstgewerbeschule und brachte es zu guten Schularbeiten und zwei Preisen. Im Hause zeichnete ich freilich mehr als in der Schule. Ich zeichnete (wie auch jetzt noch manchmal) ganz eigene, merkwürdige Phantasien, die ich heute »unbewußte Musik« nenne.
Vor drei Jahren im Oktober schrieb ich mein erstes Gedicht. Im andern Monat schrieb ich zwei, dann drei – usw. Von da ab steigerten sich die schriftlichen Äußerungen bis zu einer Höchstzahl von etwa 22 Gedichten, die im letzten Dezember geschrieben sind. Ich habe bis jetzt: etwa 110 Gedichte geschrieben, daß heißt: nur solche gerechnet, die ich als gültig werte. Ich habe ein kleineres, zusammenhängendes Gedichtwerk, dann ein »Tragisches Gedicht« in dramatischer Form und ein großes Epos angefangen. – Arbeit mehr als genug – aber wenig Zeit. Viele Gedichte sind während der mechanischen, gewohnten Arbeit geschrieben, die meisten aber in den arbeitslosen Zeiten, von denen ich, zu meinem Glück, selbst im Sommer genug hatte. Der Zwiespalt, die Unvereinlichkeit gleichzeitiger körperlicher und geistiger Arbeit wurde mit der wachsenden Zeit immer fühlbarer und endlich unerträglich – es geht nicht mehr.
Und das Ding, welches freie Zeit schafft und lebendig erhält:
Ich besitze kein Geld, ich lebe von meinem erarbeiteten Gelde von Woche zu Woche. In den arbeitslosen Zeiten sahen (und sehen auch jetzt wieder) meine Lebensumstände sehr schlecht aus. Daß ich öfter arbeitslos war, wie mancher Berufsgenosse, können Sie sich, geehrter Herr Dehmel, wohl vorstellen (mein Kopf war ja fast nie bei der Arbeit). Ich habe mitunter kleine Unterstützungen von meinen Eltern erhalten. Sie können mir jetzt aber nichts mehr schicken, denn sie müssen für ihr nicht mehr fernes Alter sorgen. Vor einiger Zeit hatte ich von meinem wenigen Geld Gedichtabschriften anfertigen lassen, die ich an verschiedene Zeitschriften sandte: Jugend, Simplicissimus, Licht und Schatten, Sturm, Zukunft. Ich hatte wohl gehofft, daß hier oder da etwas genommen würde, aber nichts ist genommen. – Also auch keine Dukatenquelle.
Und doch möchte, müßte ich mit meiner Streicharbeit, gerade jetzt, wo es zum Sommer geht, brechen.
Meine Bitte, sehr geehrter Herr Dehmel:
Würden Sie erlauben, daß ich Ihnen in einer gütigst bestimmten Zeit meine Gedichte überbringen und Sie um Rat, vielleicht um gütige Hilfe bitten darf?
Sehr geehrter Herr, ich möchte Sie um Entschuldigung bitten, wenn Sie dieser Brief stören würde.