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Vogesen, 27. April 17
Lieber Jakob – hier einige Zeilen zu Lerschs »Arme Seele«.
Zunächst das Technische: Whitmansche Langzeilen sind, soweit ich weiß, nur von Paquet in »Auf Erden« wieder so gut gemeistert; Lersch fehlt das starke Rhythmusgefühl, das solche Längen lebendig und klar halten könnte; bei ihm vergrößert die Länge der Zeilen mechanisch das Abstrakte, womit seine Gedichte (wie überhaupt die Gedichte unserer heutigen Dichterjugend) beschwert sind. Reine Sinnlichkeit in der Auffassung scheint auch ihm nicht gegeben. Um es noch etwas deutlicher zu machen, was ich mit dem Rhythmus des Dichters meine: Rhythmus, ein Grundgefühl aller Kunst (erste Kunst: Tänze der primitiven Völker), das freilich dem Musiker im weitesten Umfange zu eigen sein muß, gehört auch zum inneren Bestand des Dichters; anders, doch etwa in dem Maße, als ich in meinem Tagebuche einmal schrieb: Ein großer Baumeister müßte nach einer großen Musik Häuser bauen können. Ich denke, es könnte Lersch nicht schaden, wenn er sich zur Knappheit zwingen würde. Daß er auf diesem Wege gut gehen würde, beweist das echt empfundene »Elisabeth«. Ich gebe allerdings zu, daß in Lerschs Art der Stoffwahl Veranlassung zu epischer Breite liegt; trotzdem gilt das oben Gesagte. Ein Anderes: Lerschs Religiosität ist nicht von der großzügigen Weltreligiosität; er ist (für mein Gefühl) etwas konfessionell beschränkt. Siehe Eichendorff, der auch Dichter und Katholik war; dem man's aber doch nicht anmerkt in seiner natürlich-religiösen Frische; dem das bewußte Betonen der Konfession nicht Zweck war. (Dies bewußte Betonen, das nicht immer überzeugend wirkt, gefiel mir an W. nicht.)
Das Gedicht »Wir arme Soldaten« scheint nicht genug von innen heraus gekommen; die Worte wirken zu sehr an sich.
»Leid« ist mir zu mystisch verworren. »Vergessenheit und Klage« ist ein feines und gutes Gedicht; es hat eine reine Melodie.
»Verstoßen« ist gut; doch ist das Furchtbare der Vision nicht bis zur intensivsten Steigerung gebracht (Mangel: Leidenschaft, Tempo, Rhythmus!)
»Elisabeth«, ein gutes Liebesgedicht, ganz aus dieser Zeit.
»Frühling«, eine nicht starke, doch feine und weiche Stimmung. Die letzte Strophe darf nicht so gemacht werden. Worte! abstrakte Wort- und Begriffhäufung!
»Die Menschen tragen alle des Lebens schweres Gewicht« – ein großes und starkes Gedicht! Tiefes echtes Mitgefühl mit den andern.
Das ist überhaupt ein hervorstechender Zug Lerschs: das gute Herz. Und Güte ist immer die vorzüglichste Eigenschaft Gottes und der Menschen. (Nicht der talmudische Straf- und Donnergott, sondern der Gütegott, der alle Welt umfängt!)
»Ich will nicht länger der einsame Beter sein«: doch große Religiosität – Mystik mit Brausen wie sie sein kann und muß!
»Von der Mutter Maria« – ebenso, doch nicht ganz so groß.
»Gott spricht« – gläubig gegenwartverquickt; wunderschön, groß!
»Die arme Seele«, im ganzen: die einzig wahre Abkehr vom Verherrlichen des Kriegsmordens, Einkehr zur Menschlichkeit, die immer und allein unser Heil ist.
Gt.
P. S. (Die letzten Gedichte überzeugten mich, daß ich im anfangs Gesagten zu scharf und nicht ganz richtig geurteilt, bezüglich: Konfession.)