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Neapel, den 23. Juni 1770
Meine schöne Dame,
Ihr Brief vom 4. ist durchaus nicht heiter, und der meine wird es noch weniger sein. Ich bin erdrückt von kleinen Kümmernissen. Man wird in diesem verfluchten Lande von Flöhen aufgefressen. Obendrein gibt es hier Mücken und Wanzen. Aber das ist noch nichts. Mit meiner Gesundheit steht es nicht gut. Ich kann mich an diese Nahrung und diese Luft, die früher meine Heimatluft war und es jetzt nicht mehr ist, nicht gewöhnen. Mein Augenlicht wird alle Tage schwächer. In einem fort verliere ich Zähne; erst heute Morgen ist mir wieder einer ausgefallen, und ich habe nun nur noch vierzehn; aber das alles ist noch nichts.
Ich habe Ihren Brief Nr. 9 nicht erhalten. Diese ewig denkwürdigen und abscheulichen Feste werden die Ursache gewesen sein, daß Ihr Brief verloren ging, und ich quäle mich in Todesängsten ab, um zu erraten, was Sie mir wohl geschrieben haben mögen. Versuchen Sie, ihn entweder wieder aufzufinden oder mir seinen Inhalt zu wiederholen ...
Das Unglück von Paris und das gräßliche Blutbad der Rue Honoré haben mich mit Entsetzen erfüllt. Arme Madame Berthelot! Ich klage die Ökonomisten dafür an. Sie haben so viel von Eigentum und Freiheit gepredigt, sie haben so sehr gegen Polizei, Ordnung, Reglements gehetzt, sie haben so viel davon geredet, die Natur, sich selber überlassen, sei so schön, gehe so gut vorwärts, halte so gut das Gleichgewicht, daß endlich die Leute das Gefühl hatten, alle Welt sei Gemeingut und ein jeder könne gehen, wo er wolle, und daß sie sich das zunutze machen wollten. Da haben wir nun das schöne Ergebnis ihrer langen Predigt! Wahrhaftig, wäre ich in Paris und hätte ich noch mein sonstiges Feuer, heuer würde dies Ereignis mir genügen, um den Ökonomisten zu antworten. Ich würde ihnen fühlbar machen, daß sich nur das Gerücht zu verbreiten braucht, an irgendeinem Ort gebe es volle Freiheit und folglich große Menschenmenge: im Augenblick erwachen die Spitzbuben, große Monopoliseure von Uhren und Tabakdosen bilden eine Verschwörung und machen sich den Wirrwarr zunutze. Was ich Ihnen sage, ist kein Scherz. Denken Sie nach, und Sie werden finden, wie genau der Vergleich stimmt.
Ich empfing heute morgen meine Kiste mit dem imitierten Tafelsilber und bin ziemlich zufrieden mit dem Einkauf, obgleich der Transport mich rasend viel gekostet hat. Zugleich erhielt ich die Bücher; ich habe sie schon verschlungen und habe alles gelesen, was man gegen mich ausgespien hat. Diese Lektüre hat mich über den Verlust meines Zahns getröstet, der mir ausfiel, als ich gerade mitten in einem schönen Briefe des Abbé Ribaud war. Auf Ehre und Gewissen, schöne Frau, sie sind zu dumm; es ist vollkommen unmöglich, ihnen eine einzige Zeile zu antworten. Die Unverschämtheit, womit sie mir alle erdenklichen Dummheiten sagen lassen und dabei sogar Seitenzahlen meines Buches anführen, verdiente, daß sogar die Polizei sich darüber ärgerte; und wenn ich in Paris gewesen wäre, so hätte ich mir den Spaß gemacht, ihnen zur Vergeltung einen Prozeß vor dem Parlament anzuhängen. Aber ein langweiliger Stil ist ein schönes Ding, besser als ein königlicher Begnadigungsbrief. Ich bin jetzt von der größten Last befreit. Ich habe nichts zu entgegnen und habe recht, wenn ich schweige. Kommt in Frankreich eine kleine Hungersnot, so wird man wieder von meinem Getreidebuch sprechen und mir Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Aber sagen Sie mir, hat denn niemand daran gedacht, Gutes von meinem Buch zu reden und sein Lob drucken zu lassen? Bis jetzt empfange ich nur Schmähungen, und dazu kein Geld; Merlin wird sagen, ich habe eine Ohrfeige als Anzahlung bekommen. Wenn irgendeine fromme Seele Mitleid mit mir gehabt hat, so teilen Sie es mir bitte mit.
Leben Sie wohl, schöne Dame; Sie sehen, ich schreibe Ihnen sehr lange Briefe und Sie schreiben mir so kurze! Lassen Sie mir durch andere schreiben. Ich werde die Zeitungen an Suard schicken und ihn für seine Ungläubigkeit bestrafen. Ich habe das Systeme de la Nature erhalten, aber ich hatte es eiliger, mich als Volkswirt in Schmach und Schanden zu sehen. Leben Sie wohl!