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Neapel, den 17. Oktober 1772
Schöne Frau,
ich erhielt von Ihnen Nr. 6 vom 5. September: ein sehr kurzer Brief, und ein sehr trauriger, wegen der Unruhe, die Ihnen die schwankende Gesundheit und die verdrießliche Laune des Strohsessels machten. Dieser Brief betrübte mich und benahm mir alle Lust zu einer Antwort. Dann vergingen zwei Wochen, ohne daß ich einen Brief von Ihnen erhielt. Kummer und schlechte Laune wurden noch stärker in mir, und es war mir unmöglich, Ihnen zu schreiben. Paris war mir beinahe zum Abscheu geworden; ich wußte nicht einmal, ob nicht etwa ein Erdbeben es verschlungen hätte. Ich sah mich vernachlässigt, darum vernachlässigte auch ich Sie.
Auf einmal kommt Ihr Brief vom 26. September an; er trägt die Nummer 9. Also sind zwei Briefe von Ihnen verloren gegangen; das tut mir unendlich leid. Ihr Brief enthält nur tiefsinnige Betrachtungen über die Ursachen der Verzögerungen, des teuren Portos und des Verlorengehens unserer Briefe. Es ist wirklich der Höhepunkt des Unglücks, daß ein Teil Ihrer Briefe verlorengeht, und daß der andere Teil nur Untersuchungen enthält, durch wessen Schuld sie verloren gegangen seien. Briefe, in denen weiter nichts steht, verdienten verloren zu gehen. Sie wünschen, ich soll den Chevalier de Magallon nicht mehr mit »Monsieur« anreden. Ich würde ihn sogar »Sire« nennen, wenn Sie es befehlen. Sie wünschen, daß ich meine Briefe an ihn adressiere; wie Sie sehen, tue Ich es. Sie wünschen, daß ich vor Ihnen auf die Knie falle; um das tun zu können, müßte ich Beine von dreihundert Meilen Länge haben. Wo soll ich armer, unglücklicher Zwerg so lange Beine hernehmen? Meine sind ja kaum anderthalb Fuß lang und, wenn auch nicht übermäßig fett, so doch recht rundlich. Sie verlangen, ich solle überzeugt sein, daß Magallon eine zärtliche, lebhafte, warme Liebe zu mir hege. Ich muß Sie recht lieb haben, um mich mehr auf Ihr Wort als auf meine eigenen Augen zu verlassen. Es bleibt doch immer dabei, daß man in vollen drei Jahren, trotz dem Eintreten so günstiger Umstände, für mich in Paris nichts getan hat. Vielleicht hat man nicht einmal meinen Namen an jenen Stellen genannt, wo man ihn hätte erwähnen müssen.
Gott allein hat mich gerächt, und hat es getan trotz allen meinen Freunden, die noch mehr Freunde ihres eigenen Wohlergehens und der Ortsanwesenden waren, und die an mir nicht mal meine Sehergabe schätzten, die vielleicht nicht einmal bemerkt haben, daß alles genau so gekommen ist, wie ich es vorhergesehen hatte. Übrigens ist es recht leicht, einem Abwesenden zu sagen, er habe unrecht, er urteile ohne Sachkenntnis und über Dinge, die er selber nicht sehe. Aber gerade weil er abwesend ist, wäre man recht in Verlegenheit, sollte man ihm diese Tatsache nachweisen. Sie berufen sich auf die Autorität und verlangen von mir, daß ich mich auf den weiblichen Takt verlassen soll. Ja, wenn Sie bei Hofe wären; aber Sie sind auf dem Lande und sind darum ebenso weit entfernt wie ich.
Viel besser wäre es gewesen, Sie hätten mir geraten, mich dem Fatalismus zu ergeben; ich kenne nichts Tröstlicheres und zugleich Trostloseres. Der Fatalismus hat zugleich die angenehme Eigenschaft (die man bis jetzt nicht erkannt hat oder die jedenfalls, soviel ich weiß, noch von keinem Philosophen bemerkt wurde): daß er der Vater der Neugier ist. So ist das Walten des Schicksals das eigentümlichste Ding von der Welt: ohne dieses gäbe es nichts Unerwartetes, nichts von Interesse: alles wäre zum voraus berechnet, und der Sturz eines Ministeriums würde kein größeres Interesse erregen als Tagundnachtgleiche und Sonnenwende: er würde zum voraus im Kalender gedruckt stehen...
Gleichens Aufenthalt in Paris macht mir außerordentlich viel Freude. Mir klingen die Ohren von allem, was er von mir sagt und was man von mir spricht. Ich sehe ihn in allen Häusern, bei allen Diners, wie man ihn umarmt, feiert und dann nach mir ausfragt. Wenn es wieder Mode würde, aus der Unterwelt zurückzukehren, wie einst der selige Orpheus – ich glaube, man würde Gleichens Rolle spielen. Die ersten Gefühlsergüsse würden dem Zurückgekehrten gelten, die zweiten den dort unten Gebliebenen.
... Haben Sie mich lieb. Die Ungewißheit des Schicksals, die Mutter der Neugier, hindert mich zu wissen, ob, wann und auf welche Weise wir uns wiedersehen werden. Leben Sie wohl.