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Neapel, den 19. Juni 1773
Obwohl Sie Ihren Mut übertreiben, sind Sie doch, schöne Frau, die furchtsamste Person von der Welt, denn Sie ziehen den Schmerz dem Tode vor. Sie halten also den Tod für das größte Übel. Ich bin ganz entgegengesetzter Ansicht, und ich bin in meiner Überzeugung so fest, daß ich mich über den erstaunlichen Satz Ihres Briefes: »Mein Zustand ist nicht gefährlich, aber er ist schmerzhaft«, gar nicht beruhigen kann. Sie rechnen also die »Gefahr des Leidens« für nichts? Glauben Sie also nicht, daß Sie mich beruhigen können, solange Sie mir schreiben: »Ich leide.« Dieses Wort bedeutet für mich alles. Allerdings wiederhole ja auch ich Ihnen fortwährend: »Ich langweile mich.« Aber zwischen Langerweile und Leiden ist ein schöner Unterschied. In der Langeweile setzt man Fett an; man ist ein Pferd im Marstall eines großen Herrn. Der Leidende gleicht einem Droschkengaul.
Gestern erhielt ich das Porträt unseres armen Herrn de Croismare; der Marquis Spinola ist so freundlich gewesen, es mir durch seinen Kammerdiener zustellen zu lassen, der hier zum Besuch bei seinem Vater ist. Das Porträt ist ausgezeichnet gestochen; aber sein Anblick hat mich nicht gerührt, denn es ist kaum eine Ähnlichkeit vorhanden. Der unvergleichliche Croismare war von einer ursprünglichen, reizenden, charakteristischen Häßlichkeit. Sein Bildnis ist viel weniger häßlich und viel weniger schön.
Was nützt es, wenn wir uns gegen unser Geschick aufbäumen und gegen das Gesetz, das allen Wesen gemeinsam ist. Wir sterben – wir und unsere Physiognomien und unsere Einfälle und unsere Porträts und unser Andenken – alles muß den Weg des Todes gehen. In welchem Taumel waren die Griechen und die Römer, daß sie alles um der Unsterblichkeit willen taten? Diese angebliche Unsterblichkeit ist nur ein Stückchen Landes, das der »Vergessenheit« bestritten wird. Lassen wir dies; es ist eine düstere und trostlose Träumerei, der ich mich soeben überlassen wollte. Bleiben wir im Taumel des menschlichen Ruhms!
Bei dieser Gelegenheit will ich Ihnen sagen, daß ich dem Papst die Landkarte des Königreichs Neapel sandte, die ich in Paris zeichnen und stechen ließ. In meinem Begleitschreiben sagte ich, da Benedikt XIV. mich sehr gern gehabt und die Widmung von einigen meiner Geisteserzeugnisse angenommen hätte, so glaubte ich berechtigt zu sein, einem Papst, der dem Papst Lambertini so ähnlich sei, eine gleiche Widmung machen zu dürfen. Der Papst hat meinen Brief und mein Geschenk mit der größten Freude empfangen und hat mir mittels eines für mich sehr schmeichelhaften Breves dafür gedankt. Es ist lateinisch abgefaßt, denn die Päpste sind nun mal darauf versessen, lateinisch zu schreiben, selbst in unsrer heutigen Zeit! Ich glaube Ihnen ein Vergnügen zu machen, indem ich Ihnen eine Abschrift schicke. Wenn Sie es nicht verstehen, wird Magallon es Ihnen erklären; denn ein Spanier spricht Latein, ohne es zu wissen. Sie ersehen aus diesem Breve, schöne Frau, daß ich aller Wahrscheinlichkeit nach einmal einer von den Kardinalen sein werde, die unser Heiliger Vater in pectore oder in c ... bewahrt. Ich erwarte denn auch eines Tages auf dem oberen und unteren Wege zum Vorschein zu kommen. Das wird mir Kosten machen ...
Fürst Pignatelli langweilt sich hier dermaßen, daß er nicht mehr die Kraft hat, fortzugehen. Es geht ihm wie den Leuten, die durch Kohlendunst ersticken: sie bleiben, weil ihr Kopf angegriffen wird.
Die Saussures sind aus Sizilien zurück. Madame ist untröstlich über den Tod des Herrn de Tronchin, den sie hier erfahren hat. Sie weiß jedoch nicht, woran er gestorben ist.
Haben Sie mich lieb; genießen Sie Ihre Wohnung beim Palais Royal. Meine Empfehlungen an Ihre Frau Tochter. Sie verlangt fortwährend Geschichten und Märchen von mir. Wenn sie so lüstern darauf ist, gebe ich ihr gern meine Geschichte mit Merlin, die auch eine Art Märchen ist. Leben Sie wohl. Ich habe Chastellux beauftragt, meinen Frieden mit dem Abbé Morellet zu machen. Leben Sie wohl.