Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[175] An Frau von Epinay

Neapel, den 13. Juni 1778

Madame,

ich muß Ihnen schreiben, damit Sie nicht im Ungewissen über meinen Zustand sind; aber was soll ich Ihnen sagen? Mein Bedauern wird alle Tage schmerzlicher. Sobald ich allein bin, falle ich in Träumereien und traurige Stimmungen zurück. Es ist nicht der Tod, der mich bekümmert; darüber bin ich zur Vernunft gekommen. Ich sehe ein, daß er eine ganz natürliche Sache ist, und daß ich und wir alle ihn als solche nehmen sollten. Aber es ist die Todesart, die plötzliche und unvorhergesehene Art meines Verlustes, die mich untröstlich macht. Mit einem Wort: wenn ich sie für zwei Stunden ins Leben zurückrufen könnte, wenn ich mit ihr sprechen, die Ursache ihrer Verzweiflung, ihre Gedanken und letzten Willensäußerungen erfahren könnte, und wenn sie endlich wieder einschliefe, ich glaube, ich wäre zufrieden und geströstet, wie wenn es sich um eine Abreise handelte. Zum erstenmal habe ich den Nutzen, die Weisheit, die allgemeine Vernunftigkeit der Testamente eingesehen. Sie sind die wirkliche Tröstung der Überlebenden beim Verlust einer teuren Person. Aber sie hat mich so plötzlich verlassen, daß ich wahrhaftig nicht weiß, ob sie sich selbst herabgestürzt hat, oder ob man sie heimtückischerweise herabgestürzt hat, und diese letztere Besorgnis, diese Ungewißheit sind das Schrecklichste von allem.

Aber ich betrübe Ihre Seele. Ich will Ihnen also sagen, daß ich zu meiner Zerstreuung kein anderes Mittel gefunden habe, als mich ganz in Horaz zu vertiefen, und daß ich endlich damit angefangen habe, das Leben und die Entstehung der Gedichte dieses Autors niederzuschreiben; dies aber ist, wie Sie wissen, das Werk, das Grimm so sehr ersehnte. Gewiß werde ich mit dem Entwurf fertig werden; aber es wird sehr schwierig sein, daß ich es für den Druck fertigstelle. Wenn ich sterbe, werde ich diese Schrift Grimm vermachen, der sie vollenden und veröffentlichen soll. In wenig Tagen werden diesmal meine Entdeckungen und Ansichten der Vergessenheit enthoben sein, und dies genügt für eine Skizze. Das Publikum ist so verwöhnt, daß man die Werke feilen muß, damit sie ihm gefallen, und ich weiß nicht, ob ich in meinem gegenwärtigen Zustande die Kraft habe, mir Mühe zu geben, um Seiner Majestät dem Publikum zu gefallen.

Wollen Sie mir zu dieser Arbeit über Horaz behilflich sein? Ich brauche folgendes: ich möchte, daß Sie selbst nachsähen oder genau nachsehen ließen, an welchen Stellen seiner Werke Voltaire Horaz kritisiert, und daß Sie mir sie auf ein Blatt notierten. Dieser verwünschte Greis hat eine so feine Nase und einen so auserlesenen Geschmack, daß er als Kritiker immer recht hat. Aber seine Kritik beschäftigt sich stets mit dem Schaden, den die Herausgeber und ihre Interpreten meinem armen Autor zugefügt haben, niemals aber mit Horaz selbst. Voltaire beurteilt z. B. eine Ode als schwach, gegenstandslos, fragmentarisch, und er hat recht. Nun aber entdeckt man, daß die Ode nur die Hälfte eines Gedichtes ist, die man einer anderen Hälfte anfügen muß, und dann wird die Kritik gegenstandslos. Da ich nicht alle Werke Voltaires habe und nicht weiß, ob sie in Neapel, einer sehr gelehrten Gegend, jemand besitzt, wende ich mich an Sie. Leben Sie wohl! Haben Sie mich lieb! Bedauern Sie mich ...


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