Abbé Galiani
Briefe an Madame d'Epinay und andere Freunde in Paris 1769-1781
Abbé Galiani

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[83] Frau von Epinay an Galiani

Januar 1772

Um Sie zum Anfang in gute Laune zu versetzen, mein lieber Abbé, schicke ich Ihnen ein neues Lied zu einer alten Melodie. Ich rate Ihnen, es zu lesen und zu singen; das wird Sie lustig machen, und Sie werden dann meinen Brief netter finden.

Nun, Sie sagen also: »Vorstellungen sind keine Folgen unserer Urteilsbildung, sondern sie gehen diesen voran; sie sind Folgen von Empfindungen.« Sie beweisen durch Gründe der Vernunft, daß ein Stock im Wasser keine gebrochene Linie bildet; die Vorstellung jedoch, dis: wir von ihm haben, zeigt ihn uns als gebrochene Linie, weil die Wahrnehmung des Auges uns dies gesagt hat und weil die Vorstellung der Wahrnehmung des Gesichtssinnes folgt. Das paßt wirklich wunderbar zu dem, was Sie weiter oben sagten: »So oft der menschliche Geist sich von etwas keinen Begriff zu bilden vermag, kann ein erbrachter Beweis sich nicht in Überzeugung verwandeln.« Wir werden also beweisen, daß etwas, was wir nicht begreifen, so und so ist, und wir werden stets handeln, wie wenn es nicht so und so wäre. Wissen Sie auch, daß dies mehr beweist, als Sie selber glauben? Sie erklären damit, warum so viele Leute sich wegen Opernsängerinnen zugrunde richten, die sie betrügen, indem sie ihnen ewige Treue schwören. Sie glauben an die Treue, obwohl ihnen das Gegenteil bewiesen wird. So geht es mit allen Wahrheiten.

Ich habe übrigens Ihren Brief dem Philosophen gezeigt, der damit so im Zimmer herumgesprungen ist, daß ich mich halb tot gelacht habe. Niemals ist seine Perücke so auf seinem Kopf herumgerutscht wie während der Lektüre des Briefes. Er behauptet jedoch, daß Strafen und Belohnungen überflüssig seien; man müsse nur schlechte Beispiele beseitigen, weil der Mensch bildungsfähig sei. Ich verstehe ja nichts von Staatsverwaltung; aber ich sage: Gerade weil der Mensch bildungsfähig ist, sind Strafen und Belohnungen notwendig. Es wird mir nicht einfallen, den Stein zu schlagen oder zu treten, der mich am Bein getroffen hat; denn selbst wenn ich ihn zu Staub zermalmte, würde mich das nicht vor dem ersten besten Stein schützen, den jemand in derselben Richtung werfen würde. Aber wenn ich einem Menschen, der mich im Vorübergehen auf der Straße anstößt, einen tüchtigen Faustschlag gebe, so wird er, wenn der von ihm verspürte Schmerz ein genügender Denkzettel war, mich nicht wieder stoßen, wenn er mir von neuem begegnet. Trotzdem hat mir übrigens der Philosoph über dieses lange Thema sehr schöne Sachen gesagt, von denen ich kein Wort behalten habe. Welchen Zweck hätte es auch, auf etwas zurückzukommen, was man schon betrachtet hat, es sei denn, daß man etwas Bedeutendes oder Neues hinzuzufügen hätte? Und das können nur Sie, mein lieber Abbé...


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