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Neapel, den 15. Dezember 1770
Guten Tag, mein prächtiger, lieber Freund. Sie haben mir am 14. Oktober einen reizenden Brief geschrieben, und ich danke Ihnen dafür aus Herzensgrund. Sie überschütten mich mit einer Flut von Fragen aller Art; aber ich danke Ihnen auch dafür, denn ich sehe, Sie tun es aus reiner Lust, mich schwatzen zu hören, und dies gereicht mir ebenso sehr zur Ehre wie zum Vergnügen. Ich muß Ihnen also einen langen und schönen Brief schicken, um Sie meinerseits zu belohnen; aber kann ich das? Mir ist das Herz zusammengeschnürt und meine Seele ist von Kummer zerrissen. Der Schmerz kommt mir aus Paris. Gatti und Frau von Epinay kennen die Ursache, und ich erröte nicht darüber. Ich habe auch in Neapel Kummer, trotz meiner Ehren und Würden und obgleich ich auf diesem kleinen heroischkomischen Theater eine ganz nette Rolle spiele.
Ich habe meine Zähne verloren, lieber Freund. Was tut Ihnen denn das, werden Sie mir sagen? Sie werden Kochfleisch essen, und das Suppenfleisch, das wir hier unseren Katzen geben, um uns vor der Teuerung zu schützen, kann Ihnen auch dienlich sein. Sie haben gut trösten. Wenn ich nur das Vergnügen am Essen verloren hätte, so würde ich nicht darum klagen; aber es ist viel schlimmer. Ich kann nicht mehr sprechen, das ist schrecklich. Ich stammle, wenn ich sprechen will, besonders beim Italienischen. Es entsteht ein sehr unangenehmes Zischen zwischen meinen Zähnen, dessen ich selbst gewahrt werde. Da schweige ich im Augenblick, aus Furcht, den andern lästig zu werden. Und nun stellen Sie sich nur einmal dies vor: der Abbé Galiani stumm! Nein, es gibt nichts Grausameres und Beklagenswerteres. Seien Sie überzeugt, ich übertreibe nicht. Gleichen, der hier ist, wird es Ihnen bezeugen können. Bisweilen spreche ich zwei volle Tage kein einziges Wort, weil ich Furcht habe, zu stammeln, und sowie ich dann spreche, stammle ich um so mehr. Aber Sie, Schlingel, Sie rufen sicher bei dieser Nachricht sofort aus: Desto besser, wenn der kleine Abbé nicht mehr spricht, so wird er schreiben! Wir werden mehr von ihm haben als die Neapolitaner. Schelm, wissen Sie auch, daß es eine große Sünde gegen die Nächstenliebe ist, die Sie durch diese ungerechte Freude begehen? Aber Sie kümmern sich natürlich viel um Moral und Sünden! Ich sehe, es ist Ihnen viel lieber, wenn ich auf Ihre Fragen antworte; erinnern Sie sich ihrer noch oder muß ich sie Ihnen hier wiederholen? Um mir eine Mühe zu ersparen, nehme ich an, daß Sie sich daran erinnern; daher werde ich Ihre Fragen nicht wieder abschreiben. Ich werde nur antworten.
1. Ist die Ausfuhr in einem despotisch regierten Lande ebenso nützlich wie in einer Republik etc.? – Nein. Es gibt keine Despoten, wo das Getreide recht teuer ist; denn da ist der Bauer reich, und ohne arme Bauern kein Despotismus.– Aber die Furcht vor Teuerungen etc., werden Sie mir sagen? – Nun, die Furcht vor Teuerungen wird den Despoten schlimme Stunden bereiten; aber der Reichtum der Bauern richtet sie zugrunde. Besser man existiert soso lala als gar nicht. – Aber Despotismus, werden Sie mir sagen, ist ein häßliches, verabscheuungswürdiges Ding. – Concedo oder nego, ganz wie Sie wollen. Ich antworte: Das ändert an der Sache selbst nichts; über den Geschmack streitet man nicht, und es ist immer sehr weise, zu bleiben, wie man ist. – Feige und knechtische Seele, werden Sie mir zuschreien; Sie sind würdig, in Neapel zu bleiben und dort zu leben. – Nun ja, ich werde hier leben. – Aber wenn Sie glauben, eine Revolution machen und Form und System der Regierung nur mit Broschüren ändern zu können, und noch dazu mit langweiligen Broschüren, die in sehr schlechtem Französisch geschrieben sind, so haben Sie mit Ihrer Rechnung sehr weit fehlgeschossen. Sie werden nichts ausrichten, und doch dafür nicht weniger verfolgt werden, sobald man Ihre Absichten erkennt.
2. Welche Mäßigungen müssen gemäßigtgierungen anwenden? Könnte man nicht in Frankreich Veränderungen in der Getreideverwaltung eintreten lassen, ohne alles umzustürzen etc.? – Antwort. Ja, die von mir empfohlenen. Habe ich etwa vorgeschlagen, die Ausfuhr abzuschaffen? Nein, wahrhaftig nicht. Ich habe mich in aller Form dafür erklärt und ganz leichte Veränderungen vorgeschlagen, die nur dazu dienen sollen, die Ausfuhr dem Binnenhandel unterzuordnen. Denn zunächst wollen wir uns doch darüber einig werden, daß die Ausfuhr einer gewissen Beschränkung unterworfen sein muß. Selbst das Edikt von 1764 hatte eine solche Beschränkung vorgesehen, die sich freilich als wertlos erwies. Wenn Sie mir hierin recht geben – um diese Frage dreht sich nämlich mein ganzer Streit mit den verflixten Ökonomisten – so habe ich meine Sache vollkommen gewonnen. Denn ich fordere alle Welt heraus, ein besseres Einschränkungssystem als das meine zu ersinnen.
3. Kann man nicht, ohne Bürgerkrieg, große Veränderungen versuchen etc.? – Gewiß, alle! Nur keine Veränderung der Marktwerte, das will sagen: keine Überbürdung mit Steuern (wodurch die Fronde hervorgerufen wurde), keine Veränderung der Münzwerte und keinen Bankerott der Staatspapiere (wodurch Frankreich zur Zeit des Herrn Law dem Untergang nahe gebracht wurde); keine Veränderung der Gerteidepreise (wodurch beständig Hungersnöte hervorgerufen werden). – Sie behaupten in Ihrem Brief etwas, lieber Freund, das ich Ihnen auf keinen Fall durchgehen lassen kann. Sie sagen, die Unterdrückung der Generalstände sei denn doch etwas ganz anderes als der freie Handel mit Hafer und Gerste, und trotzdem sei sie ohne Lärm vollzogen worden. Oh, das stimmt nicht! Wissen Sie auch, daß der Preis von Hafer und Gerste die Generalstände existieren läßt oder vernichtet? Dies ist freilich eine Tatsache, von der die Ökonomisten keine Ahnung haben; aber sie wissen ja so vieles nicht. Beachten Sie folgendes: der Preis der um Geld käuflichen, unbedingt notwendigen Lebensbedürfnisse betrug im Verhältnis zu dem vor drei oder vier Jahrhunderten in Europa vorhandenen Geldvorrat das Vierfache von den gegenwärtig gültigen Preisen (im Verhältnisse zum jetzigen Geldvorrat). Dies ist unbestreitbar. Die Tatsache ist erwiesen in dem guten Buche eines Präsidenten, der für einen Dummkopf galt, weil seine Frau allen Geist hatte, den Herr de Trudaine Vater ihr gab. Auch in Italien ist dies nachgewiesen worden in einem soeben in Florenz erschienenen tüchtigen Werk. Dies ist der Grund, warum man einstmals in Italien nur Republiken oder Feudalanarchie kannte. Die Herrscher konnten wegen des hohen Preises der Lebensmittel keine Heere unterhalten, und die reichen Bauern ließen sich nicht die Taschen ausleeren; Generalstände gab es auch, denn die Adligen der alten Zeit waren nichts anderes als die wackeren, wohlgenährten Landwirte Frankreichs.
4. Soll die Barbarei der höchst barbarischen Gesetzgebungen fortdauern? – Nein; sie müssen Schritt für Schritt geändert werden. Ich habe für Frankreich die größtmögliche Beschleunigung solcher Schritte vorgeschlagen, indem ich empfahl, von dem ganz verderblichen System in Hinsicht auf den Kornhandel abzugehen. Die Ökonomisten haben einen anderen Schritt vorgeschlagen; aber die Natur hat ihnen nicht so lange Beine gegeben, um solche Schritte machen zu können; sie sind ausgerutscht und haben sich die Nase zerschlagen.
5. Sie fragen mich: was wäre in Frankreich eingetreten, wenn das Edikt von 1764 nicht wäre erlassen worden? – Antwort: Man hätte Getreide durch besondere Erlaubnisscheine ausführen lassen, es wäre ebensoviel außer Landes gegangen und sogar noch mehr. Das hätte den Intendanten und der Bureaukratie einige Einnahmen gebracht; und Frankreich wäre in demselben Zustand, worin es sich jetzt befindet. Darum ist mein Wahlspruch: In vitium ducit culpae fuga, si caret arte. Hätte man im Jahre 1764 mein System angenommen – wovon ich Herrn de Choiseul und Herrn de Montigny Mitteilung gemacht hatte, so wäre vielleicht nicht ein einziger Sack Korn über die Grenzen gegangen, der innere Umlauf aber wäre auf die vollkommenste Weise geregelt worden, und Frankreich würde nicht aus seinem Mark und Blut Geldsummen von erschreckender Höhe aufbringen müssen, wodurch es noch auf eine lange Reihe von Jahren völlig erschöpft sein wird. Das ist ein ungesunder Reichtum, der aus dem Verkauf von Lebensmitteln an das Ausland herrührt! Seine Waren muß man verkaufen und sich von seinem Brot gut nähren.
Habe ich alle Ihre Fragen beantwortet? Lassen Sie mich jetzt Ihnen darlegen, wie ich mir die Lehren zunutze mache, die Sie mir in Ihrer Zeitung geben; denn ich behaupte, die Zeitung ist die Quelle alles menschlichen Wissens. Sehen Sie, daß England hartnäckig die freie Ausfuhr verweigert und daß Ägypten – jawohl, Ägypten selbst! – Mangel an Getreide hat? Sehen Sie also, wie recht ich hatte, indem ich mit allem Nachdruck darauf hinwies, wie unsicher die Ernten in allen Ländern sind? Sehen Sie, wie recht ich hatte mit meiner Behauptung, man dürfe nicht auf die Dankbarkeit der Nationen rechnen, an die man sein Getreide verkauft habe; daß die freie Einfuhr ein Heilmittel sei, dessen Wirksamkeit in keinem Verhältnis stehe zu den Schäden einer übermäßigen Ausfuhr? Die Ausfuhr hängt nur vom König von Frankreich ab; die Einfuhr bedarf der Mitwirkung anderer Herrscher. Ei was, lieber Freund! ich bin so müde, es langweilt mich so sehr, Ihnen noch länger vom Getreidehandel zu sprechen, daß ich Sie bitte, herzlich bitte: reden Sie mir nicht mehr davon. Sprechen wir von etwas anderem!
Wie es scheint, sind die Russen im Archipel von Türken und Winden auseinandergesprengt worden. Sie werden diesen Winter eine epidemische Krankheit haben, entweder in Holland oder in Flandern, oder vielleicht auch in Ihrem eigenen Lande; Sie werden diese Krankheit nicht »Pest« nennen, weil es eine gemäßigte Pest sein wird, da sie erst die Reise nach Norden gemacht hat; die meisten davon Befallenen werden genesen. Erinnern Sie sich meiner Weissagung! Was macht d'Alembert? Ich fürchte, er ist zu früh heimgekehrt, und ich verwünsche seinen Lehnsessel. Was macht Fräulein de Lespinasse? Ruft sie immer noch ihrer Hündin zu: »Tot!« Und sagt ihr Papagei immer noch Schmutzereien? Sie wird hieraus sehen, daß ich mich noch ihres ganzen Haushaltes erinnere.
Herr d'Aine ist also Intendant in Brest? Gratulieren Sie der Baronin dazu in meinem Namen. Sagen Sie mir, was machen die Helvétius, Mann und Weib? Freuen Sie sich mit dem Abbé Morellet seiner Pension, wenn es wahr ist, daß er sie erhalten hat. Meine ehrerbietigen Empfehlungen an Madame Geoffrin, die, wie ich wohl weiß, mich immer noch liebt, die mich aber nicht zu lieben wagt, weil sie damit einen zu lieben befürchtet, der sich unvorsichtig und schlecht betragen hat. Bitte, versichern Sie ihr meinerseits, daß nicht ich mich schlecht aufgeführt habe, sondern daß Gott selber, ja sogar Gott Vater, sich schlecht benommen hat und höchst unvorsichtig war, indem er gewisse Dinge, die er allein abwenden konnte, geschehen ließ – Dinge, die mich unfehlbar von Paris trennen mußten. Gott hätte sie voraussehen müssen, und es scheint, er hat nicht vorausgesehen, daß dies meinen Freunden höchst verdrießlich sein würde – am allermeisten aber mir. Wenn er es vorausgesehen hat, so ist das ein Zeichen, daß es ihm einerlei war; aber alles ist am besten so, sagte Pangloß. Leben Sie wohl, mein lieber Freund. Grüßen Sie Madame Necker, Ihre teuere Eheliebste, Madame de Fourqueux, Madame de Trudaine und zum Schluß die Baronin. Machen Sie mit ihnen, was sie nur Ihnen in meinem Namen zu machen erlauben wollen. Ich unterschreibe alles und verlasse mich in dieser Hinsicht auf Sie. Guten Abend!