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Für die ausgestoßene Turteltaube, die er vorsichtig heimtrug, aufs ängstlichste besorgt, langte Anton vor Sonnenuntergang bei seiner Großmutter an. Um jeder Frage, wie und wo er den langen Tag zugebracht haben möge, auszuweichen, hielt er seiner Alten die Taube hin mit den Worten: »Noch ein Pflegekind!«
Mutter Goksch besaß zarten Sinn genug und kannte ihren Enkel hinreichend, um zu begreifen, daß er die Erinnerungen an seine Herkunft und seiner Mutter Schicksal fürs erste begraben wolle. Sie reichte ihm ihre Hand, schüttelte seine Rechte, wie man sie einem alten, treu erprobten Freunde schüttelte, und erwiderte nur: »Für dein Pflegekind wollen wir beide sorgen; – und dann waren auch die Schloßfräulein hier, samt den Pastorjungen, sie wollten dich abholen ...«
»Zum Spaziergange?« unterbrach Anton die Großmutter; »was fällt denen auf einmal wieder ein? Sie haben eine Ewigkeit nicht nach mir gefragt!«
»Nicht zum Spaziergange«, fuhr die Alte fort; »von dem kehrten sie schon zurück. Nein, aufs Schloß sollst du kommen und deine Geige mitbringen. Den alten Baron hatten sie bei sich, der hatte ums ganze Dorf laufen müssen; der keuchte samt einem fremden Herrn hinter ihnen her und fluchte lästerlich über den weiten Marsch. Seine Nase spielte in allen Farben.«
»Und Tieletunke?«
»Die war auch dabei, natürlich. Aber die fragte nicht nach dir und sprach überhaupt nicht.«
»Dann will ich gerade gehen. Doch wer ist denn der Fremde?«
»Weiß ich's? Sie nannten ihn Musikdirektor, und er ist, glaub' ich, verwandt mit dem Pastor. Mir ist auch, als hätt' ich schon von ihm reden hören, wie die Pastorin noch lebte, gleichwie von einem verlorenen Sohne. Nun mag er sich wohl wiedergefunden haben! Aber vom Schweinehüten kommt der nicht. Er sah sehr prächtig aus.«
»Vor ihm soll ich geigen?« wiederholte Anton nachdenklich einige Male. »Sie wollen wahrscheinlich über mich spotten, und das ist wieder ein Einfall von Fräulein Ottilie. Aber gleichviel: ich gehe doch!«
Damit nahm er seine Geige und ging aufs Schloß.
Sie saßen in der Laube vor der Tür; Onkel Nasus, der Pastor und der fremde Herr, an einem grünen Kartentische, auf dem verschiedene halb geleerte Weinflaschen standen. Die Mädchen, Miez und Linz, gingen mit den »Studenten« ab und zu. Letztere suchten gelegentlich, und wenn es unbemerkt geschehen konnte, ihre stets leeren Gläser wieder zu füllen.
Ottilie stand in der halb offenen großen Haustür, an den geschlossenen Torflügel gelehnt und den Abendflug der Schwalben betrachtend, als ob die übrigen sie nichts angingen.
Wie Anton am Eingang der langen, dicht verwachsenen Laube erschien, wedelten ihm des Freiherrn Hunde zutraulich entgegen und rieben sich an seinen Knien, als an denen eines guten Freundes.
Anton küßte dem Baron die Hand, worauf dieser ihn in die Wange kniff und in bester Weinlaune sagte: »Na, Schlingel?« Sonst achtete niemand sonderlich auf ihn. Der fremde Herr war eben dabei, von seinen Reisen und Abenteuern zu erzählen. Anton legte die schlechte Geige auf einen leeren Stuhl und hörte, augenblicklich vom Vortrage des Redenden gefesselt, aufmerksam zu.
Der sogenannte Musikdirektor schien ein Mann von dreißig bis fünfunddreißig Jahren. Sein Benehmen war das eines viel gereisten, nach allen Richtungen bekannten und gebildeten Menschen. Wo war er nicht überall gewesen? Was hatte er nicht gesehen, erfahren, durchgemacht? Der Sohn eines armen Kleinbürgers, des wohlehrsamen Weißgerbers Karich, war er vor länger als zwanzig Jahren mit einer Bande musizierender Bergknappen aus dem Erzgebirge davongelaufen und kam nun als Herr Carino, bei einem kleinen Fürsten am Rhein als Kapellmeister angestellt, in die Heimat auf Besuch, in welcher niemand mehr von der ganzen Verwandtschaft am Leben, als des verstorbenen Vaters Bruder, der gute Pastor Karich in Liebenau. Diesen auszuforschen trieb ihn wehmütige Erinnerung an die dahingeschiedenen Eltern, denen er so viel Kummer gemacht. Doch kaum war die erste Stunde, dem Gedächtnis der Toten geweiht, vorüber, als des Mannes unverwüstliche Lustigkeit wieder ausbrach, und er in den nachgiebigen Oheim drang, ihn bei Onkel Nasus einzuführen, von dessen Nase, großem Durst und dreitöchterlichem Kleeblatt die gestern zur Sonnabendfeier angelangten Vettern mit schülerhafter Begeisterung verkündeten. Nasus, jeglicher künstlerischen Neigung fremd und ohne Spur von Anteil für einen Virtuosen, nahm doch den Neffen seines treuen Seelenhirten und Winterabendgesellschafters gut genug auf, wurde aber sogleich überaus gnädig gegen ihn, als Carino angedeutet, daß Künstler, besonders musikalische, unaufhörlich Durst empfänden. Mit Wein angefeuchtet ließ er sich denn auch die fabelhaften Mitteilungen aus Carinos Irrfahrten huldreich munden. Die anderen hörten zu, wie man tut, wo man nichts Besseres zu tun weiß. Ottilie, wie schon erwähnt, schien mit ihren Gedanken am blauen Himmelszelte zu weilen, unter welchem verspätete Schwalben hin und her schwebten. Anders war es mit Anton. Dieser verschlang jede Silbe. Und weniger vielleicht waren es Erlebnisse, Schicksale, Taten und Erfolge, deren sich der Erzähler rühmte, als vielmehr der stete Wechsel der verschiedensten Schauplätze, auf denen dieser wandernde Musikus erschien, zu denen er sich Bahn zu brechen gewußt. Eben erst in Prag eingeschlichen, blies er schon als Mitglied in der Privatkapelle eines Starosten zu Warschau die Klarinette. Kaum verhallten dort die Töne, als er bereits durch Galizien nach Wien gelangt und daselbst bei dem Orchester eines Vorstadttheaters Violinist geworden war. Bald darauf begleitete er irgend eine berühmte Sängerin auf dem Pianoforte, wie im Reisewagen, nach Mailand – und plötzlich hören wir ihn zu Neapel in einem Hofkonzerte das Brummeisen spielen, auf dem er es zu seltener Fertigkeit gebracht haben will. Endlich läuft er in Konstantinopel sichtliche Gefahr, gesäckt und ersäuft zu werden, wie ein Nest voll blinder junger Hunde, stiehlt sich aber über Bukarest und ähnliche höchst musikalisch gestimmte Städte nach Deutschland zurück, wo er gerade zu rechter Zeit anlangt, um Seiner Durchlaucht dem Fürsten von X. Y. Z. die unterwegs komponierte Sinfonie aus Fis-Moll zu Füßen zu legen und zur Belohnung dafür den Platz eines Musikdirektors an hochfürstlicher Kapelle zu erhalten, den er zwar für den Augenblick wie einen Ruheplatz betrachtet, aber ausdrücklich hinzufügt: Nur für so lange, als er selbst Ruhe brauchen – und haben wird.
Anton, der in Liebenau aufgewachsen, das stille Dorf nie verlassen – denn die umgebenden, wenn auch ausgedehnten Waldungen waren für ihn zum Dorfe gehörig! – der niemals daran gedacht hatte, je von seiner Großmutter und deren Hütte zu scheiden: Anton begriff weder die Beweglichkeit noch das Geschick des Tonkünstlers. Wie ein Zauberer kam ihm der Mann vor, der in entfernten Landen sich heimisch und, bei der Sprache der Töne nicht an Worte gebunden, geltend gemacht. Eine neue Welt tat sich an diesem Abend vor Antons Phantasie auf. Und ohne diesen Abend wäre unser Buch unmöglich, denn die künftige Wanderlust seines Helden entfaltet heute ihre ersten Keime.
Sämtliche Zuhörerschaft, ein jedes darunter auf seine Art freilich, fand sich zuletzt durch des Erzählers Vortrag doch gefesselt, so daß niemand Zeit gewann, sich um Anton und seine außergewöhnliche Aufregung zu bekümmern. Nur Ottilie entging nicht, was ihn bewegte. Sie sah, wie er mit verklärtem Antlitz an den Lippen des Redenden hing, und sie fand ihn, wie er, gleichsam in eine neue Lebensepoche gehoben, aus tiefen Augen schaute, wunderbar schön. Ihrem wunderlich trotzigen Charakter sagte eine gewisse Notwehr gegen solche Bewunderung zu; deshalb zerstörte sie sogleich absichtlich den Eindruck, den der Anblick des Korbmacherjungen auf sie wider ihren Willen hervorgebracht, indem sie spöttisch fragte, ob denn der Herr Musikdirektor über seinen eigenen unbedeutenden Schicksalen den bedeutenden jugendlichen Kunstgenossen gänzlich vergessen wolle, der ja auf seinen Wunsch hierhergerufen sei, um ihm vorzuspielen.
Carino lachte laut auf, hemmte den Strom seiner Rede und zeigte das lebhafteste Verlangen, Anton zu hören. Rubs reichte diesem seine armselige Geige, aber schon beim ersten Griff platzten die Saiten. Sehr natürlich: Ottilie hatte alle vier mit ihrer kleinen Etuischere unbemerkt durchschnitten. Das Gelächter wurde allgemein. Anton, in sprachloser Verwirrung, starrte Ottilie an, als ob er sie befragen wollte, warum. Zugleich drang ein Gefühl der Befriedigung durch seine Sinne, welches ihn wähnen ließ, daß sie dies getan, um ihm eine Beschämung vor dem fremden Meister zu ersparen. Dieser aber zögerte nicht, aufzuspringen und seinen eigenen Violinkasten aus dem Gastzimmer herabzuholen; – denn man hatte ihn auf dem Schlosse einquartiert, weil beim Pastor kein Raum vorhanden, der des weitgereisten Weltmannes würdig gewesen wäre. »Hier, mein Söhnchen«, sprach er, »nimm diese echte Cremoneserin; auf ihr kannst du zeigen, was für Hunde du verstehst hinter dem Ofen hervorzulocken.«
Anton antwortete durch eine verneinende Bewegung des Hauptes; mit beiden Händen wehrte er ab, das kostbare Instrument zu berühren, und als Carino wiederholt in ihn drang, machte sich seine Verlegenheit in den Worten Luft: »Ich will sie nicht entweihen mit meinen Fingern.«
Dieser gewählte Ausdruck aus dem Munde des Dorfknaben überraschte Carino. »Was Teufel«, sagte er, »wie sprichst denn du? Schau' mich doch an: Was der Junge für Augen hat!? Coraggio, bellissimo ragazzo, du mußt spielen; jetzt will ich dich hören! Da, sauf' ein großes Glas Ungarwein aus Onkel Nasus' kühlstem Kellerloch; spüle die jungfräulich-verzagte Schüchternheit hinab; ergreife den Bogen und laß mich erfahren, ob dein Auge lügt!«
Zum erstenmal in seinem jungen Leben trank Anton Wein. Der edle Saft aus jenem gottgesegneten Lande durchdrang ihn mit rascher Glut. Ehe noch eine Minute vergangen, zog ein Feuerstrom durch seine Adern. Mutig ergriff er nun Carinos Violine und spielte frei, ohne Zagen die alte schlichte Weise, die wir tausendmal vernahmen, ohne darauf zu achten, die uns aber entzücken würde, wenn wir sie als ausländisches Volkslied durch eine fremde Sängerin kennen gelernt hätten; ich meine die überall verbreitete Melodie voll tiefer Innigkeit und Wehmut: »Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus«, mit ihrem klagenden, wie drei Abschiedsseufzer verhallenden
»Ade! Ade! Ade!«
Dreimal geigte er das Lied ohne irgend eine Variation, nur jedesmal trauriger, ging zuletzt nach Moll über und brach ab ohne rechten musikalischen Schluß.
Die Anwesenden, obgleich erstaunt, weil sie ähnliche Töne von Antons Fiedelbogen nie gehört, wagten doch nicht, sich zu äußern; gleich den Bewohnern mancher Stadt auf den Ausspruch der Kritik harrend, die ihnen erst verkünden soll, ob ihnen denn auch gefallen dürfe, was ihnen gern gefallen hätte.
Carino jedoch, plötzlich ernst geworden, legte seine Rechte auf Antons Lockenkopf und sagte leise: »Junge, vom Geigen verstehst du freilich nichts: Du hältst deinen Bogen wie ein Bügeleisen und greifst wie ein Schneider, der Flöhe sucht; auch kann ich nicht wissen, ob in dir ein tüchtiger Musiker oder ein auch nur leidlicher Virtuose steckt. Aber daß jemand in dir steckt, daß du ein Herz, ein Gemüt, daß du Gefühl und Geist hast, daß Gott in dir wohnt! das schwöre ich dir zu, so gewiß, als ich ein arger Lump und daneben eine wahre Künstlernatur bin. Den Jungen haltet warm, ihr Onkels! Geht freundlich mit ihm um, ihr Damen und Vettern! Das ist kein gewöhnlicher Korbflechter. Aus solchem Holze schnitzt das Schicksal bisweilen seine Auserwählten. Gib mir einen Kuß, Antonio, ich habe dich lieb.«
Diese in humoristischer Feierlichkeit gesprochenen Worte machten auf alle Eindruck, sogar auf Onkel Nasus, der seine Rührung mit einem großen Schluck hinunter zu schwemmen suchte.
Ottilie war hinter der Haustür verschwunden.
Anton fand sich am meisten ergriffen durch das Wort »wahre Künstlernatur«. Hatte nicht sein seliger Großvater, wie die alte Mutter Goksch ihm gestern abend erzählt, das liebe unglückliche Töchterlein, die schöne Antoinette, in väterlichem Stolze oftmals so genannt? Und der fremde Meister mit italienischem Namen nannte sich selbst so und daneben einen »argen Lump«? Ein Ausdruck, den Anton zwar in Liebenau nie gebrauchen hörte, dessen Bedeutung ihm aber klar schien. Müssen denn alle wahren Künstlernaturen, so dachte er bei diesem Vergleich, andre Leute sein wie die anderen Leute? Dann ergriff er seine saitenlose Geige, kniff sie verächtlich unter den linken Arm, küßte Onkel Nasus die Hand, empfahl sich seinem neuen Gönner, der aus der feierlichen bereits wieder in die durstige Stimmung übergegangen war, verneigte sich vor dem Herrn Pastor, vor Linz wie Miez, nickte dem Puschel und dem Rubs gute Nacht und schlich betrübt, Ottilie nicht mehr zu gewahren, aus der Laube. Als er jedoch beim Ausgange derselben noch einmal die Augen zurückwandte, sah er sie hinter dem Haustürflügel hervorgucken, und es schien ihm, als ob sie ihm einen Fingerkuß nachsende. Doch strafte er seine Augen Lügen und suchte sich selbst einzureden, die zweifelhafte Dämmerung müsse ihn getäuscht haben.
Großmutter schlief schon. Er ging auf den Zehen, um sie nicht zu wecken, entschlummerte spät, sah dann im Traume den Musikdirektor Carino mit einer unbekannten Frau im lebhaften Gespräch einherwandeln, wobei er sich, wie häufig im Traume vorkommt, fruchtlos abmühte, beide zu erreichen und abgebrochene Worte zu erlauschen. Nur seinen eigenen Namen verstand er bisweilen.
Als er aus unruhigem Schlafe erwachte und die Bilder des quälenden Traumes zu sondern versuchte, fand er eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen jener unbekannten Frau und den Schilderungen, die ihm die Großmutter von seiner Mutter zu machen pflegte. Er hätte sich nicht genug verwundern können, daß ihm dies nicht schon im Traume aufgefallen sei, wenn er sich nicht zugleich hätte erinnern müssen, daß Ottilies ihm nachgeworfener Fingerkuß, der ihm bei der Dämmerung des Abends zweifelhaft und fraglich erschien, während der Dunkelheit der Nacht und des Traumes zu großer Bedeutung angewachsen war. Nach einer Stunde des Besinnens, Erwägens, des Zweifels und der Hoffnung verschwanden ihm Carinos und das Bild der fremden Frau völlig; nur Tieletunkes Kuß lebte noch und wirkte in seiner Seele.