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Zehntes Kapitel

Ich bin auch im Fuchswinkel gewesen, lieber Leser. Ich kenne die Wege und Schliche, die durch dick und dünn, durch Urwald und Gehege, durch Tannenschonung und junges Laubholz dahin führen, recht gut, weiß aber doch nicht, ob bei Nacht, besonders jedoch in einem Seelen- und Körperzustande wie Antons, ich mich zurechtgefunden haben würde.

Er fand sich zurecht. Ohne daran zu denken, ohne sich nur umzutun nach dem Pfade, der links, rechts, über Gräben, durch stachelichte Brombeerhecken führte, traf er ihn, wie der junge Wandervogel, vom Instinkt gezogen, den Weg findet in Länder, die ihm gar noch fremd sind. Sinnenglut und gekränkte Eitelkeit, Neugier und Todesgrauen, Eifersucht und Wehmut stritten in ihm um die Herrschaft. Er sollte den unzugänglichen, von Menschen gemiedenen Waldwinkel wieder betreten, wo er zuerst um seiner Mutter jammervolles Ende geweint. Und den fast gefürchteten schwarzen Wolfgang, dessen Erscheinung ihn damals erweckt und milderen Gefühlen zugewendet, den sollte er jetzt sterbend finden, wenn anders Bärbel – jene verabscheuungswürdige Schöne – ihm Wahrheit geredet! Einem Sterbenden sollte er die Augen zudrücken, er, Anton, der noch kein Tier sterben gesehen, geschweige denn einen Menschen?

»Ob der Tod wirklich erscheint, wenn er einen abholt? Ob ich ihn wahrhaft vor mir sehen werde, den leibhaftigen lebendigen Tod?«

Das waren Fragen, mit denen unseres Freundes kindisch-unschuldige Unerfahrenheit seinen sonst so scharfen, richtigen Verstand gleichsam übertölpelte. Bis er sich dann wieder selbst zurechtwies und, über eine Baumwurzel stolpernd, ausrief: »Warum nicht gar! den Tod sieht man nicht, den fühlt man nur.«

Je näher Anton der bewußten Stelle kam, desto langsamer ward sein Schritt, desto leiser trat er auf. Der Gedanke an die Mitternacht, an die Geisterstunde, die, wo nicht schon angebrochen, ganz nahe sein mußte, regte sich in ihm. Da vernahm er dumpfes Stöhnen; es schien von dem Platze auszugehen, auf dem er selbst gelegen, als der schwarze Wolfgang ihn aufgefunden.

»Wolfgang, bist du hier?« fragte Anton mit zitterndem Tone. Das Stöhnen schwieg, und eine heisere Stimme erwiderte: »Ja, hier!« Alsobald kniete Anton neben dem Kranken, dessen Hals er sanft umschlang, dessen Haupt er vorsichtig emporhob und stützte.

Und Wolfgang redete: »Gut, daß du kamst; es ist die höchste Zeit. Ich werde leichter sterben, wenn du bei mir bist. Nun ist's aus, Korbmacher. Ich habe meinen Willen, die braune Bärbel hat dem schwarzen Wolfgang den Rest gegeben; sie und der Branntwein. Nimm dich vor beiden in acht. Sie sagte immer, sie liebe mich! Aber sterben wollte sie mich nicht sehen. Sie meinte, das wäre ›grauslich‹. Sie mag recht haben. Ich verzeihe ihr nur, weil sie dich schickte. Zum Leben war sie mir lieber; zum Sterben kann ich dich besser gebrauchen, du bist gut, sie ist schlecht, noch schlechter als ich.«

»Armer Wolfgang«, schluchzte Anton, sich und seinen eigenen Jammer vergessend, »warum suchtest du nicht eine Ruhestelle in einem friedlichen Hause? Warum schlepptest du dich nicht bis zu uns? Gern hätte ich dir mein eigenes Lager als Krankenbett eingeräumt. Und unser alter Herr Pastor hätte dich besucht mit geistlichen Trost und Zuspruch ...«

»Geh' mir mit deinem lutherischen Schwarzrock, der kann mir nicht helfen. Einen Priester von meiner Kirche gibt es in eurer Ketzergegend nicht; ich muß ohne Ölung abfahren, mir wird mein Reisewagen nicht geschmiert. Da war mein Alter besser daran, wie sie ihn aufhingen. Sapperment, war das ein schöner Zug! Tausend und aber tausend Menschen! Und er das Kruzifix in der Linken, von dem ein kleiner, baumlanger, beinerner Heiland aus blutroten Nelken und Rosen hervorguckte, den er einmal ums andere Mal an die bleichen Lippen drückte und küßte. Und ein dicker Kapuziner neben ihm, der ihm unaufhörlich ins Ohr schrie, daß er gen Himmel fahren werde. Ha, wie er dann in der Luft zappelte – da hing er wie eine reife Frucht; und ich muß am Boden verfaulen. O, der Schmerz, Anton, der zerreißt mir die Brust. Jedes Wort, das ich spreche, gibt mir einen Stich.«

»So rede nicht, Wolf. Ruhe ein wenig; versuche, ob du schlummern magst. Ich verlasse dich nicht; ich weiche nicht von dir. Gewiß nicht.«

»Ich muß reden! – Versprich mir, Anton, daß du mit der Bärbel dich nicht einlassen willst, wenn sie dir wieder begegnet. Versprich mir's. Um deinetwillen nicht. Aber auch meinetwegen nicht. Dich tät' sie zugrunde richten – und ihr gönne ich dich nicht. Die Eifersucht würde mich aus dem Grabe treiben, ich müßte als Gespenst zwischen euch fahren. Sonst mag sie's halten, mit wem sie will: nur mit dir nicht. Sonst mit wem sie will. Meinethalb auch mit Onkel Nasus. Trägt der mein schwarzes Pflaster noch? Hahaha – o weh, das Lachen erstickt mich! Luft! In Teufels Namen, Luft! Korbmacher, du erdrosselst mich mit deinem Arme. Wenn du mich ersticken willst, nimm einen Strick, knüpfe mich auf! Hänge mich! Hahaha, Vater und Sohn!«

Auf diese Weise trieb es der Sterbende länger als eine Stunde, daß Anton zuletzt ganz unempfindlich und stumpf wurde gegen seine ruchlosen Phantasien.

Als die Nacht zu scheiden begann, ward er ruhiger. Noch ein heißer Blutstrom stürzte aus seinem zuckenden Munde, dann sprach er sanft: »Das Schlimmste ist vorüber; der liebe Gott hat Mitleid mit mir. 's ist überstanden. Vergiß nicht, mir die Augenlider zu schließen. Offene Augen sind schrecklich bei Toten. Tauche mein Tuch in den Quell dort nahe bei und lege es auf die Augen, wenn sie geschlossen sind. Ich danke dir, lieber, lieber Anton! Sei glücklich!«

Hiernach verstummte der schwarze Wolfgang.

Die Sonne blickte schon durch Morgenwolken, und Anton hielt seinen unseligen Freund noch immer im Arm, gleich einer Mutter das schlummernde Kind, schweigend, um ihn nicht zu erwecken. Wie es aber hell wurde um ihn her, wie er die veränderten Gesichtszüge, das gläserne starre Auge, die Ruhe der nicht mehr keuchenden Brust bemerkte, da durchzog unheimliches Grauen sein junges Herz. Er griff nach der Hand des Verblichenen – sie war steif, jede Lebenswärme aus ihr geschwunden. Er legte die eigene Hand auf Wolfgangs Wange – diese fühlte sich an wie Stein.

»Er ist tot!« schrie er auf, zog den Arm, in welchem er den Leichnam gehalten, zurück, sprang empor und wandte sich ab von dem furchtbaren Bilde, um schaudernd zu entfliehen. Doch kaum waren einige Schritte getan, als er sich beschämt seines Versprechens erinnerte. »Pfui«, sprach er, »wie feige bin ich doch! Das ist halt der Tod, wie er uns allen bestimmt ist, weiter nichts. Damit muß man sich bekannt machen. Und mein Wort gab ich auch: die Augen will ich ihm schließen!«

Nachdem dies geschehen, blieb er auf den Knien liegen, faltete seine Hände und betete. Hernach zwang er sich, auf die eiskalte Stirn des Toten, obwohl mit Grauen, einen Kuß zu drücken. Endlich stand er langsam auf, betrachtete die Leiche mit festem Blick und sagte: »Wie du daliegst, Wolfgang, will ich dich im Gedächtnis behalten, will oft an dich denken und an diese Nacht; das kann nicht schaden.«


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