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Seit länger als acht Tagen hauste Theodor nun in Liebenau. Seine Equipage hatte der gefällige Vater ihm hinausgesandt, aber wahrscheinlich auch gemessene Verhaltungsmaßregeln für das Benehmen gegen den Baron und dessen Familie. Denn seit Christians Rückkehr und seitdem er den Brief gelesen, welchen dieser Vertraute des Stalles und der Küche ihm mitgebracht, benahm er sich noch artiger, noch verbindlicher und – noch schweigsamer als vorher. Tagtäglich ritt oder fuhr er mit Onkel Nasus in Feld und Wald: fortdauernd zeichnete er Ottilie durch gewisse nichtssagende, kalte Phrasen vor ihren Schwestern aus. Doch nicht minder tagtäglich und fortdauernd zog er sich so früh als nur möglich aus der Gesellschaft in seine Gemächer zurück, und von Bewerbungen um die Hand der jungen Baronesse hätte auch das Ohr einer Spitzmaus nichts vernehmen können. Freilich war das ganze Bürschchen erst achtzehn Jahre alt, kam soeben erst aus der hohen Schule, um in eine höhere, Universität genannt, zu treten. Aber, wie Onkel Nasus ganz richtig bemerkte: »Er ist so reif, so fertig, so weise, so altklug, daß er zu jeder Stunde vor den Altar marschieren könnte, und«, fügte Onkel Nasus hinzu, »er muß, ja er muß sich erklären. Wenigstens der Brautstand soll sicher sein. Mag er dann ein Jahr hindurch, der Form wegen, noch Student heißen oder Bursche, wie sie's nennen. Ich bewirtschafte so lange noch Liebenau, lichte den Wald, wo er zu dick steht und wo man ihn vor lauter Bäumen nicht sieht, bringe mich in Nummer Sicher – und dann übergebe ich ihm mit meiner Jüngsten zugleich die Herrschaft. Er mag neu pflanzen; er ist jung, er hat Aussicht zu erleben, wie seine Anlagen heranwachsen! Aber ohne Verlobung kommt er mir nicht aus dem Schlosse, und wenn er Ochsen vorspannte!«
Vergebens wandte der alte Herr sich bittend und fragend an Tieletunke. Diese wies jedoch Andeutungen auf ein Verständnis mit ihrem jungen Gaste entschieden zurück. Sie versicherte dem Vater, daß sie sich gegenseitig vollkommen gleichgültig wären.
Der Alte geriet in Wut: »Es ist mir ebenfalls vollkommen gleichgültig, ob ihr zwei euch gleichgültig seid. Aber Verlobung will ich haben. Braut sollst du werden, ehe der verfluchte Tütendreher mir die Hypothek kündigt, denn sobald dies geschieht, bin ich ein Bettler, meine Töchter müssen nackt und bloß aus ihrer Väter Burg ziehen und nehmen nicht einen silbernen Löffel mit, auf dem unser reichsfreiherrliches Wappen eingegraben steht. Folglich muß geheiratet werden, Tiele, es muß! Du darfst ihn nicht mehr locker lassen. Wirf dich ins Zeug und mache ein Ende.«
Sie schwieg – und ging, was er sich für verschämten kindlichen Gehorsam auslegte.
Der böse Geist trieb sein Spiel, mengte sich in dieses Mißverständnis und richtete seine Sachen so schlau ein, daß am Abend desselben Tages, wo der Baron jene eindringliche Rede gehalten, ihm durch den Gärtner, einen geschwätzigen, dummen Menschen, Nachricht zukam über nächtliche Besuche, die der verehrte jugendliche Gast bei sich empfange. Zuerst, versicherte der Gärtner, pflege sich die hintere Haustür zu öffnen, zu welcher Christian sich einen Schlüssel ausgeliehen, weil er öfters bei Nacht im Stall Geschäfte haben wolle. Dann trete der Fremde heraus und treibe sich im Garten umher. Doch müsse ein Frauenzimmer aus dem Schlosse ihm heimlich nachfolgen, denn man hätte in den Gebüschen lebhaft reden hören. Und dann gingen beide wieder ins Schloß zurück. Und dann hätte er, der Gärtner, in des Fremden Zimmer durch die Vorhänge hindurch noch lange Licht gesehen. Folglich ...
Der dumme Gärtner war nicht wenig erstaunt, statt des Donnerwetters, auf dessen Ausbruch er gerechnet, in des Herrn blaurotem Angesicht heiteren Sonnenschein wahrzunehmen. Jetzt schien dem Vielerfahrenen alles deutlich: »Sie wollen mich zum besten haben! Sie lieben sich wie toll und rasend, und ich soll's nicht merken! Das Geheimnis reizt sie! Gut, desto besser! Macht, was euch gefällt! Je weiter ihr geht, desto sicherer gelange ich an mein Ziel. Noch diese Nacht bringe ich die ganze Geschichte in Ordnung!«
Dem dummen Gärtner wurde der Befehl, sich ruhig zu verhalten, sich auf keine Weise bemerkbar zu machen, nichts zu stören, sondern nur aufzupassen, bis er glaube, daß die Vögel im Nest wären, und dann den Baron zu holen. Auch dumme Menschen, die dümmsten oft am schlauesten, gehen gern und geschickt auf derlei schlechte Kniffe ein. Der Gärtner machte seiner Dummheit Ehre, begriff den Sinn des Befehls; wie ein Kluger ihn vielleicht kaum begriffen hätte, und führte ihn so gründlich aus, daß er Schlag ein Uhr an des Barons Schlafzimmer pochte mit der Meldung: Die Fräulein sei wieder beim Stadtherren drin!
Es war ein ziemlich langer Weg von einem Ende des weitläufigen, halb zerfallenden Gebäu's bis zum andern. Onkel Nasus, in einen brokatenen, verschossenen Schlafrock gehüllt, doch mit Reiterstiefeln, woran die Sporen klirrten, gerüstet, in der Linken eine Kerze auf silbernem Leuchter, in der Rechten sein Schwert führend, schritt voran. Ihm folgten der Gärtner, der Leibjäger, der Koch – denn er brauchte Zeugen!
Vor Theodors Stubentür angelangt, reichte er seinem Büchsenspanner den Leuchter hin und pochte sodann mit der linken Faust dreimal gewaltig an das morsche Getäfel, daß es schier aus seinen Fugen gewichen wäre.
»Zum Teufel, was gibt's?« erschallte Theodors Ruf von innen, »bis du es, Christian? Brennt die alte Räuberhöhle? Was willst du?«
»Ich bin es, Herr Theodor van der Helfft, ich Freiherr von Kannabich«, nahm Nasus das Wort – »der seine Tochter sucht. Öffnen Sie gutwillig, oder ich sehe mich genötigt, durch mein Gefolge die Tür sprengen zu lassen.«
Gärtner, Koch und Jäger stießen allerlei dumpfes Gemurmel aus, um anzudeuten, daß Gefolge wirklich vorhanden sei.
Drinnen herrschte tiefe Stille, die nur augenblicklich durch mühsam zurückgehaltenes weibliches Gekicher unterbrochen wurde. Dann wieder ließ Theodor sich vernehmen: »Ich öffne, sobald ich meinen Schlafrock angelegt.«
»Wir siegen«, murmelte Nasus, »jetzt bleibt ihm nichts übrig, als mich zu seinem Schwiegervater zu ernennen!«
Die Tür ging auf. Der Baron drang hinein, seine Diener blieben im Eingang, denselben durch ihre Personen fest verrammelnd.
Theodor trat dem Baron entgegen; er war gleichfalls in einen Schlafrock gehüllt, in ein Prachtgewand von grüner Seide mit bunten Blumen durchwebt. Die beiden Schlafröcke standen einander gegenüber wie dem schmutzigen, grauen November blühender Mai.
»Wo ist mein Kind, Herr van der Helfft? Wo ist Ottilie?« So schnaubte, sich zornig stellend, der im innersten überglückliche Vater den hochmütigen Jüngling an.
Dieser erwiderte mit der Grazie beleidigter Unschuld: »Wie ich hoffe, zu dieser Stunde in ihrem jungfräulichen Bett, Herr Baron. Es sollte mir leid tun um Sie, wie um Ihr Fräulein, wenn sie ohne des Vaters Vorwissen sich wo anders befände.«
»Sehen Sie dies selbst ein, unwiderstehlicher Verführer? Dann geben Sie uns Genugtuung: Erklären Sie meine Tochter Ottilie in Gegenwart dieser drei Zeugen – (zwischen den Türpfosten regte es sich und die Angerufenen stießen Töne aus) – für ihre verlobte Braut! Sonst bekommt mein treues Schwert zu tun.«
»Ich verstehe Ihre Meinung, mein Herr«, sagte Theodor, »und ich muß Ihnen, als Vater, vollkommen recht geben. Befände sich Ihre Tochter jetzt, nach Ablauf der Geisterstunde, bei mir in diesen mir eingeräumten Gemächern, dann bliebe Ihrem alten, unbefleckten Adel nichts übrig, als mein Herz zu durchbohren, oder mich als Sohn an Ihr Herz zu drücken. Gewiß ziehen Sie das letztere vor, und aus guten Gründen, wie ich vermute. Deshalb auch verspreche ich Ihnen feierlich, im Angesicht jener ehrenwerten Zeugen, Ihrer Tochter Ottilie meine Hand als Gatte zu reichen« –
»An diese Brust, braver Junge! Ihr habt's gehört: sie ist seine Braut. An meine Brust!« –
»Wofern sie sich zurzeit bei mir befindet!«
»So ist's abgemacht! Ich weiß alles. Ich verzeihe euch, ich segne euch. Dort im Kabinett steckt sie: wir haben sie draußen lachen hören, als sie sich versteckte. Komm' heraus, Tieletunke, komm', daß dein Vater dich segne!«
Nasus machte Miene, ins Kabinett zu gehen. Theodor vertrat ihm den Weg. Es entspann sich eine Art von Balgerei, die anfänglich seitens des Barons den Anflug liebevoll väterlichen Scherzes trug, durch Theodors ernsten Widerstand bald eine fast bedenkliche Wendung nahm. Mit Reden und Gegenreden verstrich die Zeit. Aus heftigem Wortwechsel wurde lautes Geschrei, und dies drang durch die offene Tür in die leeren, öden Gänge, erst alle Feldmäuse, endlich die Schläferinnen des Hauses aufjagend. In demselben Augenblicke, wo Nasus in höchster Wut brüllte: »Warum soll ich mein Kind nicht als Braut begrüßen? Ottilie, dein Vater ist's, der dich ruft!« – In demselben Augenblick machte Ottilie selbst sich Bahn durch Koch, Jäger und Gärtner, erschien im flatternden Nachtkleide hinter ihrem Vater und fragte mit dem ihr eigenen vornehmen Wesen: »Was steht zu Befehl? Hier bin ich!«
»Sie werden sich jetzt zufrieden stellen und die Überzeugung gewinnen, Herr Baron, daß Sie mir, mehr aber noch Ihrem hochzuverehrenden Fräulein Tochter unrecht taten«, hob Theodor an. »So gewiß Baronesse Ottilie aus ihrem Schlafzimmer kommt, so gewiß mir nicht die gefährliche Ehre zuteil wurde, sie in dem meinigen zu beherbergen, ebenso gewiß muß ich auf das Glück verzichten, die mir dargebotene Hand derselben« –
»Wer hat gewagt«, unterbrach ihn Ottilie, vor Zorn erglühend, »wer hat gewagt, meine Hand Ihnen darzubieten? Wer überhaupt durfte über meine Hand verfügen wollen? So weit erstrecken sich eines Vaters Rechte nicht und des meinigen wahrlich am wenigsten. Ich muß bitten, meine Herren, mich und meine Person gänzlich aus Ihrem Spiele zu lassen, hören Sie wohl, aus jedem: sei es auch eines um Leben, Gut und Ehre! Denn ein solches wird, fürchte ich, hier gespielt werden. Mich überrascht nichts; ich bin auf alles gefaßt und erwarte das Schlimmste mit Ruhe.«
Ehe noch der Baron auch nur einen schwachen Versuch zustande brachte, in väterlicher Autorität gegen sie aufzutreten, war Ottilie nicht mehr anwesend.
Er rang nach Fassung, nach Kraft, um wenigstens noch einen Wutausbruch versuchen zu können. Fruchtlos! Wie gelähmt sank er in den Lehnsessel vor Theodors Bett, seine Diener umstanden ihn, einen Schlagfluß vorhersehend.
Theodor rief nach Christian und befahl diesem, rasch zu packen, während er selbst sich völlig ankleide; vor Tagesanbruch noch wollten sie abreisen. Das ging mit unerhörter Eile! Bevor noch Onkel Nasus sich erholt hatte, war alles geschehen. Die Stalleute im Hofe hatten angespannt. Theodor schien nur zu warten, ob der Baron das Zimmer nicht verlassen werde. Offenbar wünschte er, dies möge geschehen, bevor kundegeworden, wer im Kabinett versteckt gewesen sei. Der Baron jedoch, der, wenn auch langsam, doch nach und nach sein Bewußtsein wiedergefunden, raffte sich noch einmal empor und begehrte, auf sein Hausrecht gestützt, zu erforschen, wer das nichtswürdige Weibsbild sei, welches solche Schmach über ihn und Ottilie gebracht.
Theodor schwankte zwischen Verlegenheit und Zorn.
Da tat sich die Tapetentür auf, und heraus trat (in Theodors Kleidern begreiflicherweise!) – der schmuckste Bursch, den ein Mensch jemals gesehen. Bei diesem Anblick gewann der junge van der Helfft sogleich wieder die volle Zuversicht des Weltmännchens: »Endlich, Vetter«, rief er dem Eintretenden entgegen, »du hast lange gebraucht, bis du Toilette gemacht! Nun laß uns aber nicht zögern, diesem ungastlichen Hause den Rücken zu wenden. Wenn wir es wieder betreten, sollen andere Sitten hier herrschen; dafür will ich gutsagen.«
Die beiden Stutzer umschlangen sich zärtlich und gingen triumphierend davon. Bald nachher hörte man ihren Wagen aus dem Hofraume rollen.
Onkel Nasus saß wieder im breiten Lehnsessel, tiefer noch daniedergeschmettert, als beim ersten Anfall. Seine Getreuen hatten viel zu tun, ihn auf die knickenden Beine zu bringen. Und als es endlich gelang, schien er die Sprache völlig verloren zu haben. Nur unartikulierte, abgerissene Silben stotterte der alte Herr mühselig hervor, aus denen sich der Jäger nach langem Studium zuletzt jene früher schon vernommenen, ihm auch jetzt noch unerklärbaren Worte: »Brauner Racker!« zusammenbuchstabierte.