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Sechsundsiebzigstes Kapitel

Durch Hedwigs kindliche Aufopferung und sorgfältige Pflicht hatte sich der Rittmeister nach und nach wieder so weit erholt, daß er, von ihr und seiner Krücke unterstützt, alltäglich einen kleinen Spaziergang machen konnte. Wer die beiden Leute miteinander gehen sah, mußte die liebliche Tochter für ein hochbeglücktes Mädchen, den Invaliden aber für einen Verbrecher halten, dem sein böses Gewissen nicht eine heitere Stunde, nicht eine fröhliche Minute gönnte. Sie lächelte, schwatzte, war unermüdlich in kleinen Aufmerksamkeiten für ihn, nickte jedem Vorübergehenden freundlich zu, kurz, gab sich förmliche Mühe, öffentlich darzutun und ihrem Vater zu zeigen, wie zufrieden sie sich fühle. Er dagegen, indem er jede ihrer Bewegungen ängstlich beobachtete, keinen Blick von ihr verwendete, benahm sich nicht anders, wie wenn sie die Kranke, Gebrechliche, er ihr Führer und Arzt sei, der nur aufzumerken habe, ob nicht vielleicht ein heftiger Ausbruch des lauernden Übels bevorstehe. Dabei stöhnte der alte Mann, fuhr sich häufig mit der Hand über die feuchten Augen, seufzte wieder, drückte der Tochter zärtlich den Arm, streichelte ihre Locken und fragte unzähligemal im Laufe eines Tages: »Hast du den lahmen Krüppel, den grausamen Vater, den barbarischen Kerkermeister wirklich noch ein bißchen lieb, Hedwig?«

Es war rührend mit anzuschauen, wie sie sich bemühte, ihn zu täuschen, die Sehnsucht ihres Herzens vor ihm zu verbergen und frohen Mutes zu scheinen, wo doch die arme Seele im Grame schier verging.

Doch er ließ sich nicht täuschen, wußte nur zu gut, woran er glauben sollte; wußte nur zu gut, daß mit Anton seines sanften Mädchens Freude für immer entwichen sei! Ach, wie oft schon seit jener schwarzen Stunde, wo er, von heftigen Schmerzen gequält, das halbverrostete Schwert gegen ihn zückte und sie zwischen ihm und sich wählen hieß; ... wie oft seitdem hat er es bitter bereut, so gewaltsam gehandelt, so rücksichtslos jeden Vorschlag zur Güte abgewiesen, jede Ausgleichung unmöglich gemacht zu haben! Dabei vermied er, des Verwiesenen Namen auszusprechen. Er behandelte Hedwig wie eine Kranke, und dabei pflegte sie ihn, führte ihn, die gute Tochter, wie eine Mutter ihr schwächliches Kind. So lange er, durch seine Schmerzen mürrisch gemacht, sie mit übler Laune marterte, war ihr besser, fügte sie sich leichter in die Trennung von Anton. Seitdem er sanft, dankbar, gütig die freundlichste Teilnahme, ja Reue zeigte, fand sie kaum mehr Kraft, sich neben ihm aufrechtzuerhalten. Die Weichheit des sonst so strengen Mannes löste sie völlig auf.

Sie gingen, sie wankten vielmehr aus, des lauen Abends froh zu werden. Beide, Vater wie Tochter, liebten jene Wege nicht, wo die Kleinstädter zu lustwandeln pflegten, weil er seine krummen Glieder, sie ihren Gram nicht gern zur Schau trugen. Sie hielten sich deshalb gewöhnlich nach einem kleinen Wäldchen hin, zu welchem kein Gasthaus mit Bier und Spiel die ehrsame Einwohnerschaft lockte. Dort hinaus ging's beim »Armen-Spittel« vorüber, wo Dreher sich eingekauft. Weiter hinaus noch lag das ehemalige Hochgericht, jetzt eine Ruine, und diesem gegenüber ein schlecht verwahrter Begräbnisplatz, zunächst für die Hospitanten, daneben auch für Fremde bestimmt, die auf dem schönen, gartenähnlichen Friedhofe der Bürgerschaft nicht Platz finden konnten. Dort auch lag Antoinette begraben, was Hedwig nicht wußte, weil sie in jenen Tagen nichts gesehen und gehört als ihres Vaters Leiden.

Sie gingen also langsam ihren Abendgang. Als sie sich dem Männerhospital näherten, brachten zwei Armendiener einen schlechten Sarg auf einer schmutzigen Trage heraus und schwatzten dabei roh und pöbelhaft. Dann setzten sie sich in Bewegung nach dem Begräbnisplatz, was aber sehr langsam vonstatten ging, da die Last schwer und sie alte, kraftlose Männer waren. Der Rittmeister und Hedwig folgten der Leiche, ohne daß sie es wollten. Sie mußten, da sie nicht voraneilen konnten, hinter den keuchenden Trägern herziehen.

»Hm«, sagte der Rittmeister, »wenn's dir sonst recht ist, Hedwig, gehen wir vollends mit bis auf den Kirchhof. Der arme Teufel hat keine Seele gehabt, die ihm die letzte Ehre erwiese. Wollen wir's tun?«

»Gern, lieber Vater«, antwortete Hedwig.

»Wen begraben wir denn hier?« fragte der Rittmeister die Träger.

»Den Puppenkomödianten, Herr Oberstwachtmeister, das versoffene Schwein, Gott habe ihn selig.«

Hedwig zuckte unwillkürlich mit der Hand, die des Vaters Arm stützte; dieser erwiderte den Druck, ohne eine Silbe zu reden.

Sie gelangten durch die verfallene Umzäunung bis an das offene Grab, wo der Totengräber, seine Schnapsflasche zur Hand, den Trägern entgegenrief: »Wie lange schleppt ihr denn an dem alten Bierfasse?«

Die Träger setzten ihre Last weg und baten den Totengräber um einen Schluck aus seiner Flasche.

Dann senkten sie den Sarg in die Erde und machten sich auf den Rückweg.

Während der Totengräber die Öffnung wieder zuschaufelte, wobei der Rittmeister ihn andächtig, seiner eigenen Gebrechlichkeit gedenkend, beobachtete, war Hedwigs Aufmerksamkeit auf ein Kreuz des benachbarten Grabes gerichtet. Auf diesem stand in schwarzen Lettern zu lesen:

»Antoinette.«

»Wer liegt hier daneben, Totengräber?« fragte sie.

»Des Komödianten sein Weib!«

»Die kranke Frau!« flüsterte Hedwig.

Und der Rittmeister sprach: »Wir wollen nach Hause gehen.«

*

Zu Hause saßen sie lange stumm und betrübt.

»Hedwig«, hob der Alte an. »ich habe seinen Namen nicht genannt, seitdem ich mit dem Schwerte zwischen euch getreten bin, wie der Strafengel, der die ersten Menschen aus ihrem Paradiese vertrieb. Ich habe dich aus dem deinigen vertrieben. Und du klagst nicht! Du schweigst und schluckst Gram und Tränen hinab. Mir wäre besser, ich läge beim Puppenspieler und der Antoinette, als daß ich den sprachlosen Jammer mit ansehen muß. Sprich nur, weine nur, mache mir nur Vorwürfe, ich bitte dich um Gottes willen! Tadle meine Grausamkeit, meinen Hochmut, meine Härte mit harten Worten, damit ich Worte finde, mich gegen deine Anklagen zu verteidigen! Wenn du so schweigend duldest, werde ich an mir selbst irre und komme mir vor wie ein Bösewicht. Habe ich denn wirklich so unrecht getan?«

»Du hast recht getan, mein Vater, und alles Unrecht ist auf meiner Seite. Deshalb schweige ich. Wie sollte ich mich auch verteidigen? Habe ich nicht, von meiner Jugend und Unerfahrenheit irregeführt, einem jungen Manne Gehör gegeben, der es unmöglich gut meinen konnte? Der mein kindisches Vertrauen mißbrauchen wollte für seine herzlosen Zwecke? Ja, ich liebte ihn. Liebte ihn schon damals, da er unseren alten Tanzlehrer begleitete; liebte ihn, wie vielleicht nur ein Kind – denn was bin ich anderes gewesen – lieben kann: so rein, so innig, so wahr! In der Erinnerung an ihn lebte ich von ihm getrennt. In meiner heiligen Liebe lebte ich, als du ihn ins Haus brachtest. Ich bedachte nicht, daß er ein heimatloser Abenteurer sei! Ich sah in ihm nur den bescheidenen, wohlerzogenen, anmutigen Freund. Von den Gefahren, die mir drohten, habe ich keine Ahnung gehabt. Und wollte in den letzten Tagen meines Zusammenlebens mit ihm eine solche Ahnung aufkommen, so wurde sie immer wieder zurückgedrängt durch die unbeschreiblichen Gefühle, die seine Gegenwart in mir erregten. Warum sollte ich dir's verschweigen, – dein Zorn gegen uns machte mich sehr unglücklich, und wärest du damals nicht auf den Tod krank gewesen, hättest du nicht deiner Tochter Pflege bedurft, hätte ich dich verlassen dürfen, ohne dich zu morden, – wer weiß, was ich in jenem schauderhaften Momente getan, wo du mir die Wahl ließest. Ja, damals klagte ich dich an! – Ach, die Zeit hat mich belehrt, daß du keine Klage verdienst, nur Dank! Denn, sprich selbst, würde der Mensch, den ich liebte, von dem ich mich geliebt wähnte, so lange geschwiegen haben, wenn sein Herz des meinigen sich würdig hielte? Würde er, dessen Namen ich nicht mehr aussprechen will, der vor einer Drohung entfloh wie ein Feiger, ebenso feig gewesen sein, wenn sein redlicher Wille, seine gute Absicht, seine treue Gesinnung für mich ihm Waffen, gute, gerechte Waffen ihm dargeboten hätten? Sein Verstummen klagt ihn an und rechtfertigt dich! Mag mein Herz bluten, mag meine Seele sich grämen, – für dich habe ich nur Verehrung, Liebe, Gehorsam; für dich, mein Vater, habe ich nur kindliche Hingebung. Diese dir zu beweisen, gönne mir. Begehre nicht ferner, daß wir zwei uns trennen sollen, daß ich einen Platz, sei es der glänzendste, in einem großen Hause aufsuche! Laß mich bei dir. Nur bei dir ist Trost für verratene Liebe; nur an des Vaters Brust wohnt Friede für meine Brust; nur indem ich dich hüte, mich in dir vergesse, kann ich vergessen lernen, wie sehr ich ihn liebte, – wie ich ihn immer noch liebe.«

Der Rittmeister lüftete den grünen Schirm, der seine kranken, einst von einer Granate geblendeten Augen verdeckte, um sich die Tränen besser trocknen zu können.

»Weine nicht!« rief Hedwig, »es ist dir schädlich, deine armen Augen sind immer entzündet.«

»Weine nicht!« entgegnete der Vater, »weine nicht! Wie oft müßte ich dir das zurufen! Du weinst so viel. Meinst du, ich höre das nicht? Laß mir auch die Freude; solche Tränen sind Freudentränen; sie gelten der besten Tochter, die ich Unwürdiger gar nicht verdiene; und wenn sie den Augen wehtun, so hole der Teufel die Augen; dem Herzen tun sie wohl. Oder glaubst du, ich hätte kein Herz?«

»Horch, Vater, ein Posthorn! – Ein Reisewagen! Vier Pferde vor. Sie halten bei der Post!«

»Es wird der Divisionsgeneral sein; er geht zur Truppenübung. – Na, da mußt du mir wohl die gute Uniform heraussuchen; da heißt's morgen früh seine Aufwartung machen. Ja, der Herr General! War Fähnrich, da ich schon Leutnant war! Jetzt ist er General, und ich bin ein armer, alter Krüppel. Aber, weißt du was, Hedwig? Seine Tochter ist eine kalte, hochnäsige Dame! Ich tausche nicht mit Ihnen, lieber General. Behalten Sie Ihre Würde und laßt mir meine Hedwig! Daß du's nur weißt, in sein Haus, zu seinen Enkelchen solltest du kommen als Gouvernante. Er ist ein braver Kamerad, hatte mir's versprochen, wollte mir den Vorzug gönnen. Jetzt, nichts da; jetzt bleiben wir beisammen, und morgen sage ich's ihm.«

»Dann will ich dir die Uniform herzlich gern hervorsuchen, Vater, will sie ausklopfen und bürsten, als ob der König hier wäre; denn sobald ich bei dir bleiben darf, ist mein liebster, mein einziger Wunsch erfüllt; ja, mein einziger, ich habe jetzt keinen anderen mehr.«

Der Rittmeister holte wieder einen von den tiefen Seufzern aus der Brust heraus, mit denen er seit einigen Monaten sehr freigebig war, und setzte hinzu: »Wollte Gott, du dürftest noch andere Wünsche hegen, wärmere, deiner Jugend und Schönheit mehr angemessene! Wollte Gott, du dürftest sie hegen, – und ich könnte sie erfüllen!«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als man weibliches Geflüster und das Geräusch eines Männertrittes auf dem Flur vernahm. Bald nachher wurde angepocht. Hedwig ging, zu öffnen. Ein Stubenmädchen aus dem Gasthofe stand vor der Tür, und indem sie einen Livreediener mit den Worten: »Hier ist!« vorschob, lief sie verlegen und eilig davon.

Der Diener fragte nach dem Rittmeister. Hedwig ließ ihn eintreten. Er meldete »seinen Herrn« an, der um eine Unterredung mit dem Herrn Rittmeister bitte, in einer für beide Teile wichtigen Angelegenheit.

»Das muß ein Irrtum sein«, sagte der Rittmeister, »ich wüßte wahrlich keinen Menschen, für den eine Unterredung mit mir von Wichtigkeit sein könnte. Wie heißt Ihr Herr?«

»Hahn.«

»Und sein Stand?«

»Gutsbesitzer.«

»Und er kommt?«

»Von Liebenau.«

»Wenn Sie sicher sind, daß er mich wirklich aufsucht, so sagen Sie ihm, es wird mir eine Ehre sein, ihn zu empfangen. – Keine Idee, Hedwig, wer dieser Mann, was er sein mag, was er von mir will. Hahn von Liebenau? Hast du dergleichen jemals gehört?«

»Niemals, lieber Vater!«

»So ist er's am Ende gewesen, der da mit Extrapost anlangte, nicht unser General. Vier Pferde, sagtest du? Hm, Hahn von Liebenau scheint hoch zu fliegen, scheint ein reicher Hahn zu sein! Aber was sucht dieser Hahn in meinem Korbe? Bei einem zusammengehauenen Rittmeister auf Halbleutnantssold? Unerklärlich. – Ich glaube, ich höre ihn schon. Geh', Hedwig, laß uns allein; ich fürchte, der Hahn kräht mir schlechtes Wetter oder sonst etwas Schlimmes. Mir ist so unruhig zumute wie vor meiner ersten Schlacht. Geh', Hedwig, laß mich mit ihm allein.«

Hedwig gehorchte, und im Gehen sagte sie: »Ich weiß nicht, Vater, was du hast. Mir ist nun gerade zumute, als ob dieser Hahn gutes Wetter prophezeite.«

Sie hatte kaum das Zimmer verlassen, um sich nach der Küche zu begeben, da trat Anton durch die Tür vom Flur herein.

Der Rittmeister machte Miene, sich zu erheben. Anton bat ihn dringend, sitzen zu bleiben.

»Ihre Stimme klingt mir sehr bekannt, doch halb blind, wie ich bin, sehe ich Sie nicht deutlich und weiß wahrlich nicht, ob ich Sie schon früher sah und kannte.«

»Sie kannten mich, Herr Rittmeister. Als wir uns sahen, verwünschten Sie mich und wiesen mir als einem Unwürdigen Ihre Tür.«

»Mensch – Sie – Anton –«

»Anton, derselbe Anton, den Sie zu sich beriefen, damit Ihre Tochter mit ihm Französisch rede; derselbe, den Sie als Verführer fortschickten, damit er niemals wiederkehre! Derselbe und dennoch ein anderer. Daß ich mich vor Ihnen zu zeigen wage, mag Ihnen Bürgschaft sein, ich komme mit ehrlichen Absichten, mit gutem Willen. Nicht als ob es dem armen Anton daran gefehlt hätte, so lange er noch der arme Anton war. Ach nein, der Wille war immer gut, die Liebe immer aufrichtig und rein; – doch wodurch konnte ich das beweisen in meiner Stellung, ein Landstreicher ohne Mittel, ohne Aussichten! Sie trieben mich hinaus in die weite Welt und ich gehorchte, ich ging; ich bemühte mich, zu vergessen. Da wendet sich mein Schicksal: was ich seit sieben Jahren für einen unerfüllbaren Traum gehalten, was ich in nebelhafter Ferne wie Torheit betrachtet, senkt sich auf einmal als Wahrheit, als Wirklichkeit zu mir herab. Ich finde einen Vater, – eine Mutter öffnet mir die Arme, – ich werde ein wohlhabender Mann, ich bin selbständig, frei, Herr meiner Zukunft. Und der erste Gebrauch, den ich von dieser Freiheit, dieser Selbständigkeit des Besitzes mache, ist der, daß ich zu Ihnen eile, daß ich Ihre Hand ergreife, Verzeihung erflehend für den Leichtsinn, aus dem Ihr Zorn, Ihre gerechte Entrüstung mich aufschreckte: daß ich komme, Sie zu fragen, ob Ihre Tochter für mich empfindet wie sonst, daß ich den Vater bitte, bei Hedwig mein Freiwerber zu werden.«

Der Rittmeister hielt die dargebotene Hand mit der Rechten fest, mit seiner Linken streichelte er sie und zitterte dabei so heftig, daß Anton ihn ängstlich befragte, ob er einen Fieberanfall befürchte. Der alte Soldat jedoch fand keine zusammenhängenden Worte: »Überraschung, – grausamer Vater gewesen, – Ehre, – guter Ruf, – gehorsame Tochter, – Tränen. – Liebe, – kann's nicht glauben, – zu großes Glück, – arme Hedwig, – Herr Graf, Herr Graf! –« Dann fing er laut zu schluchzen an, wie ein kleines Kind, und sank mit krankhaftem Zucken dem erschrockenen Anton in die Arme.

Dieser schrie ängstlich nach Hedwig.

Als Hedwig aus der Küche herbeigestürzte, fand sie den geliebten Vater am Herzen ihres Geliebten.

*

»Reisen wir geraden Weges nach Liebenau?« fragte am anderen Morgen der Rittmeister, der wie neugeboren durch seines Kindes Glück überglücklich schien.

»Geraden Weges«, sagte Anton.

»Und ist es wahr«, fragte wieder Hedwig, indem sie von den großen Koffern weglief, welche die Leute aus dem Gasthause von Antons Reisekutsche abgeschraubt, und die jetzt eilig gepackt werden sollten, – »ist es wahr, daß Sie gestern abend noch zwei Stafetten fortgeschickt haben, Anton?«

»Vollkommen wahr. Die eine direkt nach Liebenau, die andere nach Sophiental.«

»An die Gräfin?«

»An Gräfin Julia.«

Hedwig sah ihn an, als wollte sie sagen: »Ich kann mir schon denken, warum diese Stafetten gesandt wurden; es ist wegen der Voranstalten für ...« aber ehe ihre Gedanken noch Worte wurden, stand sie schon wieder zwischen Körben und Koffern, ihre und ihres Vaters Wäsche zu ordnen.

»Was für eine Geborene ist Ihre Pflegemutter, mein teurer Graf?«

»Bester Vater, Sie nennen mich immer Graf –«

»Graf oder Anton oder lieber Sohn, wie sich's gerade fügt. Warum sollte ich Sie nicht Graf nennen?«

»Weil ich's nicht bin.«

»Ja, sind Sie denn nicht wirklich adoptiert?«

»Nein, durchaus nicht! Mein Vater ist gestorben, ehe noch die Vermittlung seiner Gemahlin –«

»Freund, Sie führen doch seinen Namen?«

»Seinen Namen? Ich heiße Hahn

»Ganz richtig. Und hieß denn Ihr Herr Vater anders?«

»Sie verlangen doch nicht, daß mein Vater Hahn geheißen haben soll?«

»Allerdings, Anton, wie denn sonst? Hab' ich ihn doch selbst gekannt, den guten, wunderlichen Grafen, der ein königliches Vermögen, ein ungeheures Besitztum in seiner Leidenschaft fürs Theater durchgebracht hat. Ja, lieber Sohn, ich habe ihn gekannt: zuerst wie er als Kavalier aus dem Mecklenburgischen nach der Residenz kam, die berühmtesten Mitglieder des Hoftheaters zu sich einzuladen, daß sie bei ihm Gastrollen geben und sich mit Gold überschütten lassen mußten; dann, späterhin, wie die Millionen bereits verschwunden waren, und er, um seine Theaterwut zu stillen, mit reisenden Truppen das Land durchzog, gleich einem gewöhnlichen Theaterprinzipal, dabei immer generös, liebenswürdig, immer Kavalier ...«

»Bester Vater, mir schwindelt der Kopf, von wem sprechen Sie?«

»Bester Schwiegersohn, von Ihrem Vater, dem weltbekannten Grafen Hahn.«

»Nun, dann bin ich nicht von dieser Welt, denn mir ist er wirklich nicht bekannt.«

»Sie sind nicht der Sohn des Grafen Hahn aus Mecklenburg oder Holstein, oder ich weiß nicht, wo seine Herrschaften lagen oder liegen? Genug, meines alten Hahnes, Sie junger Hahn!«

»Mein natürlicher Vater hieß Graf Erlenstein.«

»Also meine Kombinationen, die plausibelsten, die man machen kann, wären falsch gewesen? Er ist nicht der junge Hahn – Hedwig, höre doch, er ist nicht der Sohn des Grafen –«

Hedwig, einen Pack Wäsche auf dem Arme, rief aus dem Nebenzimmer hinein: »Mir ist völlig gleich, wessen Sohn er ist, lieber Vater, wenn er nur ist, wie er ist.«

»Nein, ich kann mich nicht zufrieden geben, solch eine logische Folgerung fallen zu lassen. Ich habe Sie, mein teurer Anton, als einen jugendlichen Vagabunden, noch obenein als theatralischen – denn Puppenkomödie gehört auch zum Theater – kennen gelernt. Als diesen habe ich Sie sozusagen aus dem Hause gejagt, nachdem ich Sie mühsam hereinberufen. Nun kehren Sie mir zurück als Gutsbesitzer, als natürlicher Sohn eines Grafen, als reicher Erbe, als Pflegesohn einer Gräfin, als ein Hahn ... ja, wer hätte da nicht einen Fahneneid schwören mögen, daß Sie kein anderer sein könnten als der von seines Vaters freiwilligem Vagabundentume unfreiwillig angesteckte Sohn?«

»Es tut mir leid, Vater, Ihre Hedwig nicht zur Gräfin machen zu können. Das heißt, um Ihretwillen tut es mir leid, wofern Ihnen dieser Titel angenehm gewesen wäre. Ich bin nur imstande, eine Frau Hahn vom Altar zu führen. – Doch dieses Gespräch führt mich auf einen Wunsch zurück, den ich gern erfüllt sähe, bevor wir aufbrechen, daß Hedwig erlauben möchte, mich auf den kleinen Begräbnisplatz zu begleiten ...«

»Wo Ihr alter Puppenspieler liegt? Ja, wir haben ihn gestern begleitet. Geht in Gottes Namen, mir schenkt Ihr wohl den Marsch?«

Hedwig ging an Antons Arme den Weg, den sie gestern an ihres Vaters Seite gemacht. Heute ging sie rascher und mit anderen Empfindungen.

Als sie draußen angekommen waren, sprach Hedwig, auf den frisch aufgeworfenen Grabhügel deutend: »Hier liegt dein Puppenspieler.«

»Und hier«, sagte Anton, mit dem Finger die Aufschrift »Antoinette« berührend, »hier unter diesem Kreuze liegt meine arme Mutter.«

*

Der Pastor Julius Karich in Liebenau hielt seine Sonntagspredigt. Die »andächtigen Zuhörer« verdienten heute diesen Namen weniger als sonst. Denn auf heute war Erntetanz angesagt. Knechte und Mägde dachten an nichts anderes. Vergebens mühte sich der Prediger, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, sie waren im Herzen schon beim Feste, und sogar die älteren Dorfbewohner fragten sich bedenklich: was soll das werden? Heute ist Erntekranz, und der neue Gutsherr ist von seiner Reise noch nicht heim? Die ganze fromme Versammlung war weltlich zerstreut. Diese weltliche Zerstreuung nahm mächtig zu, da man während der Predigt verschiedene Equipagen bei der Kirche vorbeirollen hörte.

»Der Herr kommt«, murmelten die jungen Burschen.

»Und er bringt Gäste mit«, flüsterten die Mädchen.

Der Pastor sagte: Amen!

Während er die üblichen Kirchengebete verlas, kam der Schullehrer Kickelier samt seinem Sohne und Gehilfen Gottfried Kickelier, und sie breiteten einen wunderprächtigen Teppich, wie noch niemals ein Liebenauer gesehen, über die Stufen des Altars. Auch Herbstblumen aller Art und Gattung wurden ausgestreut.

»Ist Hochzeit?« fragten sich die Weiber in den Bänken und Kirchenstühlen.

»Wer macht denn Hochzeit?« fragte die Frau Verwalterin ihre Schwester, die Frau Pastorin, mit dem Ellbogen stoßend.

»Er hat mir nichts gesagt«, antwortete die Pastorin, ihrem Gatten einen zornigen Blick auf die Kanzel sendend, trotz des Amtsornates.

Als der Prediger Karich in den vorgeschriebenen Gebeten an die Stelle gelangte, wo des Gutsherrn gedacht wird, fügte er hinzu: und seine Braut.

Ein Gemurmel des Erstaunens ging durch die Kirche.

Der Prediger fuhr fort: »Als Verlobte empfehlen sich der Gnade Gottes und der Fürbitte dieser christlichen Gemeinde und werden hiermit aufgeboten zum ersten, zweiten und durch Dispensation des Hohen Konsistorii zugleich zum dritten Male: Herr Anton Hahn, Herr auf und zu Liebenau, mit Fräulein Hedwig von Lubenski, einziger Tochter des königlichen Rittmeisters von der Armee, Herrn Friedrich von Lubenski. Sollte jemand wider diese Verbindung noch etwas einzuwenden haben, der melde sich beizeiten und am gehörigen Orte, schweige aber nachher. Der Himmel gebe den Verlobten seinen Segen.«

Es wäre einem jeden, der wider diese Ehe erhebliche Einwendungen auf dem Herzen gehabt hätte, wirklich schwer geworden, dieselben am gehörigen Orte vorzubringen, denn schon öffneten sich die Flügeltüren der Kirche, und das Brautpaar wurde sichtbar.

Glücklicherweise war niemand zugegen, der Lust oder Beruf gehabt, sich aufzulehnen. Miez wie Linz hatten zwar, bevor der Name der Braut ertönte, einige unschwesterlich neidische Besorgnisse gehegt, doch da es nur nicht Ottilie war, sich sogleich wieder beruhigt.

Gräfin Julia, den durch seine ehrenvollen Wunden geschmückten Brautvater sorgsam führend, machte in ihrer tiefen Trauer einen gewaltigen und erschütternden Eindruck, den jedoch Hedwigs heitere bräutliche Erscheinung sogleich in einen fröhlichen umwandelte. Ottilie ging als Brautjungfer neben ihr. Stolz und ernst wie immer, strahlte doch ihr bleiches, mageres Angesicht von teilnehmendem Glücke.

»Pastor Puschel« übertraf alle Erwartungen, die Anton auf ihn gesetzt. Er sprach einfach, natürlich und wahr. Er rief der ganzen Gemeinde das Bild des Korbmacherjungen Anton ins Gedächtnis, erinnerte die Leute daran, daß dieser junge, freundliche Mann, der jetzt als Gutsherr, als Bräutigam einer liebenswürdigen Jungfrau vor diesem Altar stehe, dereinst, wie er ein armer Junge, ein verwaister Fremdling hieß, der Liebling des Dorfes gewesen sei. »Und warum«, sagte er, »sollte er dies nicht bleiben, jetzt, wo ihm Gelegenheit ward, eure Liebe von damals zu vergelten?«

Und dann führte der junge Geistliche mit ungeheuchelter Rührung, mit einer von innerster Bewegung bebenden Stimme zwei Namen vor, die unvergessen in aller Herzen lebten, die alte Mutter Goksch, des Bräutigams Großmutter, – und seinen eigenen Vater, den guten Pastor Karich. »Sie beide«, sprach er, »haben unserem Herrn und Freunde scheidend ihren Segen hinterlassen, an seiner Großmutter Grabe verkündete mein Vater dem weinenden Jüngling eine glückliche Zukunft, und heute steht der Sohn vor diesem Altar, um emporzurufen: Vater, deine Verheißungen sind Wahrheit geworden.«

Die Dorfleute weinten recht nach Herzenslust.

Als die Ringe gewechselt wurden, steckte der Pastor an Hedwigs Finger denselben Ring, den Anton seiner verstorbenen Mutter auf ihr Geheiß von der Hand gestreift, denn so hatte sie es gewollt.

Und die Sonne stand hoch und klar am blauen, reinen Himmel, da der lange Zug aus der Kirche sich nach dem Schlosse hin bewegte.

*

Um vier Uhr nachmittags brachten sie den Erntekranz.

Bis in die Laube hinaus wogte die Menge der Dörfler.

Die Musikanten bliesen den »Polnischen«. Gräfin Julia sprach: »Meine Trauerkleider untersagen mir, den Tanz zu eröffnen; Hedwig soll mich vertreten, und den Vortänzer werd' ich ihr zuführen.« Dies gesagt, machte sie sich Bahn durch das Gewühl, das ehrfurchtsvoll vor ihr sich öffnete. Über alle Köpfe ragte ein grauer Kopf hervor, dem Riesen Schkramprl gehörig. Diesen holte sie herbei, daß er mit Hedwig tanze! »Ohne ihn«, sagte die Gräfin zu Hedwig, »wären wir heute nicht hier.«

Der Rittmeister hinkte neben Ottilie her, die zu Anton hinüberrief: »Seit sieben Jahren mein erster Tanz!«

Alsogleich sprang Anton unter die Musikanten, ergriff eine Geige und spielte zum Tanze auf, wie vor sieben Jahren. Ottilie trocknete die Tränen aus lächelnden Augen.

Schkramprl sagte zu Hedwig: »Der Teufel soll mich holen, Madame, wenn ich eine so selige Stunde im Leben gehabt habe, seitdem mein Sohn mit zwei Köpfen auf die Welt kam. Aber weinen und tanzen zugleich ist wirklich eine Riesenarbeit!«

Der Ball dauerte gar nicht lange.

Die Mägde zogen samt ihren Tänzern nach dem Wirtshause.

Im Schlosse wurde es zeitig Nacht.

Die Bewohner lagen um zehn Uhr schon alle in ihren Betten.

Die Neuvermählten auch.


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