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»Gibt es viele solche Schauspieler?« fragte am nächsten Tage Anton seinen Arzt.
»Es kommt darauf an, wie die Frage gestellt wird«, erwiderte dieser. »Der außerordentliche Mensch, den Sie gestern kennen lernten, bleibt eben auch ein Mensch, und als solcher findet er nicht nur Grenzen für sein Genie, die er meiner bescheidenen Ansicht zufolge nicht so häufig überschreiten sollte, als er tut; – es geschieht auch sonst von seiner Seite gar vieles, diese Grenzen täglich beschränkender zu machen, weil er förmlich darauf hinarbeitet, seinen Organismus zu zerstören, sich körperlich wie geistig aufzureiben. So jung er noch ist, Sie würden ihn, wenn Sie ihn in mancherlei Darstellungen sehen sollten, zu denen seine Kräfte nicht mehr ausreichen, für eine Ruine halten, und noch dazu für die Ruine eines sehr inkorrekten Gebäudes. Deshalb will ich glauben und hoffen, daß es in Deutschland an Schauspielern nicht fehle, die ihn in solchen Rollen zu überbieten vermögen. Handelt sich's aber um Charaktere, die ihm zusagen, die ihn ganz erfüllen und von ihm ganz ausgefüllt werden, ... nun, da habe ich Ihnen ja bereits meine Meinung eröffnet: Da denke ich, hat es nichts Gleiches gegeben – und wird es auch nicht so bald.«
»Ist er wohl im Umgange ebenso hinreißend wie auf der Bühne?«
»Im ganzen neigt seine Natur zur Schweigsamkeit. Wie wir ihn gestern stumm sitzen, seinen Wein schlürfen, die Nachbarn durch Blicke zu ihren Hahnenkämpfen anspornen sahen, so kann er's lange aushalten. Dann belebt er sich wohl einmal, und dann redet er klug und gut, wie ein geistreicher, bedeutender Mann. So habe ich ihn öfters gehört. Auch darin macht er eine Ausnahme von den meisten Schauspielern.«
»Wie soll ich das verstehen? Wollen Sie dadurch andeuten, die meisten dieser Herren wären nicht geistreich, nicht liebenswürdig und belehrend im Umgang, nicht wissenschaftlich gebildet? Ich denke doch, dies alles müßten sie notwendig sein durch ihren Beruf und für denselben?«
»O Gott, du hörst das Lallen der Unmündigen!« rief der Arzt mit aufgehobenen Armen. »Antoine, Sie sind ja eine völlige Unschuld, – was diesen Punkt betrifft.«
»Warum, wenn es nicht so wäre, würden so viel junge Leute die Gesellschaft von Schauspielern aufsuchen, wie Sie selbst mir neulich erzählten, als wir von meinem und Adeles Gegner, dem kleinen Grafen, redeten?«
»Warum? Kind, das ist ein kurzes Fragewort, brauchte aber eine lange Antwort, sollte dieselbe erschöpfend sein. Zu solcher habe ich heute nicht Muße, denn ich soll noch einigen meiner Kundschaften auf dem Wege zum Friedhofe behilflich werden: nehmen Sie also mit einer kurzen vorlieb: Die Sucht, mit Schauspielern zu verkehren, kann zweierlei Gründe haben. Bei jungen Männern, die entweder Neigung und Beruf zur dramatischen Kunst, zur theatralischen Poesie in sich selbst spüren oder doch von deren Wirkung entzündet sind, ist es begreiflich, daß sie mit denen umzugehen trachten, welche beides üben und darstellen. Sie erblicken in ihnen nur den Priester vom Tempeldienste des Schönen, halten sich an ihre besseren persönlichen Eigenschaften, übersehen, entschuldigen, verzeihen ihre Schwächen und Fehler. Ja sogar, wenn sinnliche Verirrungen den Konflikt mit Schauspielerinnen herbeiführen, bleiben sie doch auf der Höhe reiner Begeisterung für eine Sache, um derentwillen unliebenswürdige Personen liebenswürdig erscheinen können. Diese Art von Verkehr kann ich weder schädlich noch gefährlich finden. Eltern und Erzieher haben unrecht, darüber zu klagen und die Schuld auf den Umgang mit Schauspielern zu schieben, wenn solche Burschen, dem Verbot entgegen, auf die Bretter laufen. Denn das würden sie früher oder später auch ohne solchen Umgang getan haben, wofern ihr Trieb wirklich ein unbesieglicher war. Ist er dies aber nicht, dann dient gerade die nähere Bekanntschaft mit Theaterleuten dazu, sehr nützliche Enttäuschungen hervorzubringen. Man lernt endlich Sache und Personen voneinander sondern und bleibt der Liebe zur Kunst getreu, ohne auf die Künstler zu schwören. Das ist, wie Sie mich alten Kerl hier vor sich sehen, mein eigener Kasus gewesen. Als ich vor beinahe vierzig Jahren, ein munterer Junge in Ihrem Alter, von der Universität zurückkehrte, gefiel mir das Döbbelinische Theater ungleich besser wie das anatomische. Wir besaßen damals noch keine stehende Bühne; reisende Schauspielerunternehmer wechselten mit ihren Truppen. O, mein lieber Antoine, Sie merken es diesem grauen Kopfe nicht an, wie süß heute noch die Namen ›Witthöft, Mekour, Brückner, Schüler, Böheim, Tilly, Scholz‹ und andere theatralische Vagabunden in meinem Herzen nachklingen! Wäre ich nicht zu dem Volke gehörig gewesen, welches im großen und allgemeinen das Vagabundentum für die ganze Erdkugel gepachtet zu haben scheint, – (zum Volke der Juden, meine ich) – ich würde vielleicht der Arzneikunde entsprungen sein, um auf der Bühne mein Unheil zu versuchen. Das Vorurteil ward mein Retter. Dennoch ging ich fleißig mit Schauspielern um und habe diesem Umgange viel zu verdanken; ja, wäre mir auch nichts davon verblieben als die Erinnerung, die mich wundersam frisch erhalten für alles, was groß und schön bleibt im Gebiete jener Kulissenwelt. Dabei bin ich doch ein solider Arzt geworden, der seine Kranken ganz erträglich behandelt, wie Figura zeigt. Meinem Jugendumgang zum Trotz! Solchen Umgang hat auch seine Philistermitwelt dem großen Gotthold Ephraim Lessing vorgeworfen, – während die Nachwelt gerade demselben Umgang Werke zuschreiben muß, die ohne ihn wahrscheinlich nicht entstanden wären. Das ist denn die Lichtseite. Aber auf der Schattenseite erblicken wir die Neigung junger Männer, sich mit Schauspielern unterzutreiben, – und diese nimmt immer mehr überhand, je mehr die Schranken fallen, welche sonst den ›Komödianten‹ vom Leben trennten, – einer Neigung, die lediglich aus Langerweile, innerer Hohlheit, dummer Oberflächlichkeit, geistiger Armut entspringt. Im Kaffeehause, ihrer hohen Schule, beim Billard oder Spieltisch, ihren Kathedern, aufgewachsen, suchen jene Tagediebe unter den Schauspielern nichts als privilegierten Müßiggang, gedankenlose Liederlichkeit, fades Kulissengeträtsch und Kuppelei. Ohne Begeisterung für die Kunst, ja ohne Teilnahme dafür, gehen sie nur auf die handwerksmäßige Erbärmlichkeit ein, die von jeder Kunst unzertrennlich, bei Ausübung der theatralischen gerade aufs widrigste hervortritt. Die verbrüdernden Zunftverhältnisse ehemaliger wandernder Truppen haben aufgehört, so weit dieselben noch fürs Ensemble, fürs gemeinsame Wirken nützlich werden konnten. Sie sind leider in voller Geltung geblieben für alles, was Gemeinheit, rohe Gesinnungen, Lumperei heißt. Und deshalb behaupte ich: wer viel mit Theaterpersonen umherzieht, ohne für Poesie und Kunst zu schwärmen, wer eben nur mit ihnen kneipen, leben, lieben, hassen, lästern, verleumden, klatschen will, – der ist entweder oder wird ein verlorener Mensch! – Doch da kommt Ihre treue Pflegerin, und der alte Schwätzer verstummt. Denn jetzt heißt es, Französisch reden, und damit will's mir nicht gelingen.«
»Wie sieht's aus, cher Docteur?« fragte Adele im fröhlichsten, freundlichsten Kontra-Alt ihrer sonoren Stimme. »Ist ihm der Abend im Theater gut bekommen?«
»So gut«, erwiderte der Arzt, »daß ich nur wünschte, Ihnen den günstigen Effekt desselben in besserem Französisch zu beschreiben, als mir vom Munde geht.«
»Folglich wird er, – werden wir bald reisen dürfen?«
»Antoine ist gänzlich hergestellt. Bis gestern habe ich mit dieser Erklärung gezaudert, weil ich besorgte, eine Nervenaufregung könne vielleicht schädlich sein. – Man tappt im Finstern, weil keine Klappe im Hirnschädel angebracht werden darf. Doch nehme ich heute alles zurück. Er ist gesund. Seine Jugendkraft wird das übrige tun und auch den Haarwuchs treiben. Wollte Gott, er könnte mir, da er so viel hat, ein geringes davon abtreten. – Aber ich muß fort, ehe ich wieder ins Plaudern gerate, das ist mein Erbfehler, – bei Menschen, die ich gern habe.«
Fast war er schon in der Tür, als Adele sich noch einmal zu ihm wendete, um ihm mit einem »Adieu!«, welches feierlich klang, die Hand zu reichen.
»Ist das ein Abschied?« fragte der Gehende.
»Vielleicht«, erwiderte sie, »jedenfalls ein armes Zeichen meiner Dankbarkeit.«
»O, wir sehen uns noch«, rief der Doktor von der Treppe hinauf, »ich komme wieder, auch wenn er meiner nicht mehr bedarf. Ich komme wieder, Kinder, ich habe euch lieb.«
»Braver Mann!« sagte Adele und schloß die Tür. »Nun, Antoine«, fuhr sie fort, »zu uns beiden. Guillaume wird ungeduldig: er braucht mich. Die Felix schlägt nicht ein, wie er's wünschte. Sie haben, Gott sei Dank, keine Wärterin mehr nötig. Lassen Sie mich voranreisen. Es ist besser. Nur um wenige Tage. Schonen Sie sich noch. Unser Freund, der Arzt, wünscht es selbst. Er hat es mir heimlich gesagt. Das Gold, welches wir von Guillaumes Vorschuß erübrigt, behalten Sie zurück. Sie müssen auch noch den Arzt honorieren – und reichlich: das sind Sie Ihrem guten Namen schuldig. Adieu, ohne Adieu! Wir sehen uns bald wieder.«
»So rasch, Adele?«
»Ich liebe die raschen Entschlüsse.«
»Sie lassen mir nicht Zeit, Ihnen zu danken« –
»Sie mir, Antoine? Wofür? Ich bin es, die Ihnen zu danken hat. Aufgewachsen unter Pferden – und Menschen, oftmals schlimmer als Pferde, ohne Erziehung, ohne Erkenntnis meiner selbst, habe ich ein elendes Dasein geführt. Als Kind schon eingeweiht in alles, was gute Eltern ihren Kindern so lange wie möglich fern halten, lebte ich ein leichtsinniges Leben, gleich den anderen. Nicht weil es mich reizte, – nur weil ich es so sah und hörte. Ich fühlte mich nie glücklich. Man fand mich erträglich, man lobte meine Bravour, ich hatte Liebhaber, ich liebte keinen! Ich schwamm in Überfluß, mein Herz blieb leer ... bis ich Sie erblickte. Die Liebe für Sie, eine heilige, reine Liebe, füllte jene Leere eines ganzen nichtigen Lebens aus. Ich bin noch zu jung, Ihre Mutter zu sein; dennoch war etwas von der Liebe einer Mutter in die Empfindung gemischt, die Sie mir gaben. Sie liebten eine andere. Ich hielt mich fern. Sie wurden betrogen, – ich machte Sie frei! Vielleicht wäre ich elend genug gewesen, den Preis Ihrer Freiheit in Ihren Armen zu suchen, ... da trat ein Wunder zwischen uns. Der Tod berührte Sie mit eiserner Faust, als wollte er mich warnen: rühre du nicht an, was dir nicht beschieden ist, was du nicht verdienst. Ich begriff diesen Wunsch. Ich gehorchte ihm. Ich entsagte willig, aus voller Seele; ich wurde Ihre Schwester. Daß ich nichts weiter sein und bleiben wollte, gelobte ich der Jungfrau Maria. Sie vernahm wohlgefällig dies Gelübde, denn kaum war es ausgesprochen, kehrte Ihr Bewußtsein zurück, und von diesem Augenblick waren Sie außer Gefahr. So reich bin ich durch Sie geworden, und Sie wollen mir danken? Keine Silbe mehr davon! Nie mehr, mein – Bruder! Lebe wohl!«
Ihre Lippen berührten die seinen, und sie flog mehr, als sie ging, die Treppe hinab.
»Auf Wiedersehen in Dr.«, rief er ihr nach. »Auf baldiges Wiedersehen!«
Und »Auf Wiedersehen, gewiß!« klang es zurück.