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Achtundvierzigstes Kapitel

Es ist dem Verfasser, der Anton liebt, schmerzlich und peinvoll, diese finstere Periode im Leben des Wanderers umständlich zu behandeln.

Ich wünsche, bald davon loszukommen, und hoffe dabei auf Zustimmung meines gütigen Lesers, insofern dieser bereits auch schon einige Neigung für unseren Liebenauer gewonnen hätte! Der schönen Leserin glaube ich ohnedies sicher zu sein; sie wird sich jedenfalls danach sehnen, Anton gerettet zu wissen, wenn auch diese Rettung nur durch schwere, fast tödliche Kämpfe erreicht werden soll.

Deshalb nehme ich nicht den geringsten Anstand, über jene Monate, die Anton mit Theodor und dessen unwürdiger Gesellschaft verschweigt, einen Sprung zu machen, damit wir nur über den kotigen Winter und über den unseligen Frühling hinausgelangen, dessen lauer Blütenduft Bärbels wildeste Lockungen und Leidenschaften hervorrief. So fessellos tobte die Glut dieses verführerischen Weibes, daß sogar die ihr fast zur zweiten Natur gewordene schlaue Besonnenheit unterlag; daß sie es nicht mehr der Mühe wert hielt, listige Ränke zu ersinnen, wie dieselben Theodor bisher in seinem Köhlerglauben bestärkt hatten. »Mag er es endlich begreifen, der hochweise Schwachkopf«, höhnte sie, »was will er einwenden? Was will er unternehmen? Er muß ja doch ducken; er kann ja doch nicht von mir los! Er bleibt ja doch mein Sklave!«

Anton, dem Theodors eifersüchtige Unruhe und Bangigkeit nicht entging, vermied den Betrogenen, wo dies nur irgend tunlich war. Dagegen nahm jetzt Bärbel keine Rücksicht mehr, die Wohnung in der Straße d'Enfer zu besuchen, und zwar als Mann gekleidet, wie wir sie schon früher in Onkel Nasus' Schloß gesehen.

»Aus der Spielhölle in die Liebeshölle!« pflegte sie jedesmal bei ihrem Eintritt auszurufen.

Begreiflicherweise nahm sie mit ihren unersättlichen Forderungen jeder Art Antons ganzes Dasein in Anspruch, wodurch dieser sogar dem oberflächlichen Tröste anderweitiger Zerstreuungen entzogen wurde, sich auch verhindert sah, die Theater zu besuchen, was er sonst recht gern und oft getan hätte. Wochenlang mußte er sich zufriedenstellen mit Durchlesung der Programme. In diesen fand er denn eines Tages angezeigt, daß eine Signora Carina in Rossinis Othello als Desdemona auftreten solle. Signora Carina konnte keine andere sein als jene Frau, die mit dem Hute einsammeln ging, während Herr Carino auf des armen Geigers Violine spielte; keine andere: dieselbe Frau, die ihn so durchdringend betrachtete, mit ihm zu reden begonnen hatte, wie sie seine Gabe empfing und von der Bärbels Dazwischenkunft ihn abgelenkt. War ihm doch seitdem auch Carino samt allen Liebenauer Erinnerungen gänzlich aus dem Gedächtnis geraten! »Wie wär's«, meinte er, »wenn ich es darauf anlegte, Theodor und Bärbel heute in die Oper zu überreden? Es wäre mir interessant, diese Frau wiederzusehen, sie als Sängerin kennen zu lernen, und daraus ergibt sich vielleicht eine Möglichkeit, meinen alten Gönner und Freund, den Musikdirektor, aufzufinden, der nicht weit sein dürfte, wo seine Gattin erscheint!«

Sogleich sicherte er sich eine kleine Loge, zog Bärbel ins Interesse, verschwieg ihr nicht, welche jugendlich beseligenden Träume von Onkel Nasus und dessen Weinlaube sich für ihn mit Carino verknüpften, und beschwor sie, diese unschuldige Freude ihm nicht zu mißgönnen.

Bei »Onkel Nasus« brach die Unbändige in freches Jubelgeschrei aus, da sie des schwarzen Pflasters, auf dessen rote Nase geklebt, dachte; doch mitten im gellendsten Hohngelächter hielt sie inne und schwieg nachdenklich; wahrscheinlich weil ihr damaliger Gefährte, der schwarze Wolfgang, ihr in den Sinn kam. Von diesem reden, nur sein Andenken bei Bärbel rege machen, hieß soviel als sie für einige Minuten sanft und nachgiebig stimmen. Sie willigte ein. Theodor, der Musikhasser, ward zur Oper gezwungen.

Othellos Auftreten erschütterte Anton. Der Anblick des Afrikaners versetzte ihn neben Vlämert, Käthchen führte ihn im Geiste unter jene Schar lebloser Menschengesichter, die er solange gehegt, gepflegt, abgestäubt, ein- und ausgepackt, vor denen er sich bis zum letzten Tage gefürchtet hatte. Er konnte nicht umhin, die Veränderung zu beseufzen, die mit ihm vorgegangen seit der Trennung von Käthchen. »Ich bin viel schlechter geworden als ich im vergangenen Jahre gewesen!« murmelte er vor sich hin, während Bärbel hinter Theodors Rücken ihm die unverschämtesten Vertraulichkeiten zumutete.

Signora Carina war allerdings die Begleiterin Carinos, war dieselbe, die für den armen Geiger gesammelt und dabei mit Anton beredte Blicke gewechselt hatte. Er erkannte sie augenblicklich.

Die Arme mußte sich abquälen. Man hörte ihr an, daß sie einst vortrefflich gesungen; einiges gelang ihr noch heute. Aber Kraft wie Schmelz der Stimme schienen verloren; sie entwickelte kein Selbstvertrauen mehr; einige hohe Töne versagten; einige kunstreiche Figuren mißrieten; jung war sie auch nicht mehr; die Spuren einstmaliger Schönheit vermochten nicht, sie vor Unglück zu schützen; ihr Urteil war gefällt.

Schon im zweiten Akt ließen sich gellende Töne des Tadels vernehmen, deren feindselig schauderhafte Schärfe das Herz der Unglücklichen zu durchschneiden schien. Sie zuckte zusammen, wie wenn Messer ihre Brust verwundeten. Anton empfand mehr als gewöhnliches Mitleid, er fühlte innige Teilnahme für sie, fühlte sich zu ihr hingezogen in jener Sympathie, die oftmals eben nur vorhanden ist, ohne daß man Gründe für das Vorhandensein anzugeben vermöchte. Er applaudierte aus Leibeskräften, obgleich Theodor seinen schlechten Geschmack bespöttelte. Endlich schlug dieser sich gar auf die Seite der lautesten Gegner, stimmte fast wütend in die rohen Äußerungen des Mißfallens ein und gebürdete sich dabei so rücksichtslos und absichtsvoll, daß es wirklich den Anschein gewann, sein Zischen und Höhnen gelte minder einer ihm höchst gleichgültigen Sängerin als vielmehr dem sie protegierenden »Hausfreund«, dem er durch die Opposition das erwünschte Zeugnis lange verhaltenen und ausbrechenden Grolles ablegen wollte.

Bei der Romanze von der Weide, dieser einfachen, himmlischen Melodie, durch die der Schwan von Pesaro, wenn er sonst nichts gesungen, unsterblich sein würde, bildeten sich im Saale zwei entgegengesetzte Parteien. Die Carina trug dies Sterbelied eines scheidenden Engels mit so vollendeter Meisterschaft vor, der Schmerz ihrer Seele über schon erlittene Schmach redete so tief und ergreifend aus diesen Klängen, daß böser Wille und unerbittliche Kritik verstummten. Für einen Augenblick beruhigten sich die Gegner, – vielleicht hätte diesmal der Beifall unbefangener Hörer gesiegt! Da rief Theodor das Gesindel aufs neue wach; er gab das Signal zum Wiederausbruch des Pfeifens. Aber kaum hatte er, durch Bärbel ermuntert, diese Heldentat vollbracht, – durch Bärbel, die der beklagenswerten Sängerin Antons Teilnahme und Mitgefühl nicht zu gönnen schien, – als dieser auch schon dem sehr edlen Herrn Theodor van der Helfft einen überschwenglichen Backenstreich ins hämisch lächelnde Antlitz geschlagen und dabei in lautem, allgemein verständlichem Französisch ausgerufen: »Sie sind ein feiger, infamer Schurke!«

»Das kostet Blut, Baron«, schrie Theodor, der ihn an der Brust packte.

»Ich verlange es nicht besser«, antwortete Anton, »aber erst noch eine Brandmarke auf die andere Backe!«

Der Tumult wurde allgemein. »A la porte!« erscholl es von oben bis unten.

Bärbel riß die Schäumenden auseinander, ergriff Antons Arm, weil es ihr um den Geliebten am meisten zu tun war und sie verhindern wollte, daß er sich heute abend aus ihren Augen entfernte. Er selbst, dem Zorn und Rache den Kopf durchwirbelten, ließ sich fortziehen, ohne zu wissen, wohin.

Theodor folgte, vom spöttischen Gezisch der Umstehenden begleitet, die sich in den Korridors zusammengedrängt. Nur Bärbels schier unweiblicher Körperkraft war es möglich, die Rasenden im engen Wagen auseinanderzuhalten. Theodors Nägel suchten fortwährend Antons Gesicht und Kehle. Dieser wies ihn zurück mit den stets wiederholten Worten: »Geduld, mein Herr, scharfe Klingen kratzen tiefer!«

Im Hotel angelangt, bei verschlossenen Türen, begannen diese drei Menschen einen jener Auftritte, wie sie nur da möglich sind, wo ungezügelte Leidenschaften zu bestalischer Wildheit ausbrechend, den letzten Zaun zerreißen, den herkömmliche Sitte ihnen bisher noch auferlegte.

Jetzt galt auch für Bärbel kein Bedenken, kein Zurückhalten mehr. Die Lüge, die sie seit länger als drei Jahren durchgeführt, konnte nicht weiterdauern.

Einer von beiden, die sie ihr gehörig wähnte, mußte verbluten. Nach ihrer Meinung, nach ihrem Willen war Theodor schon zum Opfer ausersehen; sie sagte sich jetzt offen von ihm los.

»Ich habe dich nie geliebt«, schrie sie ihm entgegen, wie er mit Anton wieder anbinden wollte. »Du Schwächling bist nicht der Mann, die unergründlichen Tiefen meiner Begierde auszufüllen. Dir habe ich mich ergeben, um dich zu beherrschen und durch dich dein Geld. Diesen liebe ich; diesen habe ich geliebt, während ich an deiner Seite lebte. Und weißt du, wer es ist, den ich dir vorziehe? Kennst du deinen beglückten Nebenbuhler? Eitler Tor! Dieser Baron aus meiner Fabrik, aus der Mache einer Zigeunerin, ist kein anderer als der schöne Korbmacherjunge aus Liebenau, den ich liebte, dessen ich begehrte, wo ich noch nackend und bloß umherschweifte, der mich damals verschmähte, den ich mir jetzt gewonnen, den ich nicht mehr aufgebe. O schlage dich nur mit ihm! Wie er dir überlegen ist im Kampfe der Liebe, wird er es auch im Kampfe der Waffen sein. Zwiefacher Sieger wird er aus diesem lächerlichen Streite hervorgehen. Denn du hast keinen Mut, keine Kraft, keine Tapferkeit. Glühte nur ein Funke Mannheit in dir, flösse nur ein Tropfen kühnen Blutes in deinen Adern, so läge Anton entseelt auf dem Fußboden unserer Loge im Theater. Wie er dich ins Gesicht schlug, war es noch in deiner Hand. Den kecken Beleidiger erwürgen mußtest du und über seiner Leiche mich zwingen, die deinige zu bleiben. Dann hätte ich wenigstens Furcht vor dir gehabt wie vor dem schwarzen Wolfgang, vor dem ich heute noch bebe, obschon er tot ist. Aber du – geh', ich verachte dich. Und nun holt Degen herbei, laßt euch zur Ader. Doch aus deinen Wunden wird nur Wasser fließen.«

Nicht blaß, nicht bleich, – grün im Gesichte stand Theodor vor ihnen.

»Also nicht der Baron de la Vannière? Ein Imposteur? Ein gemeiner Dorfjunge, der von meiner Herrschaft entwich? Ein Betrüger? Desto besser, so brauche ich ihn nicht zu züchtigen mit eigener Hand; so darf ich, ohne meiner Ehre nahezutreten, ihn den Behörden zur Bestrafung übergeben. Und das wird geschehen. Morgen früh setze ich unsere Gesandtschaft in Kenntnis, diese mag das übrige tun. Jetzt, Schlingel, hinaus, oder meine Leute sollen dich mit Peitschen hinaustreiben!«

»Wirf ihn nieder! Durchbohre ihn!« keuchte Bärbel, ein spitzes Vorschneidemesser vom Büfett nehmend. Und sie erhob es drohend.

Theodor wankte. Zu ihr gewendet, flüsterte er, daß es der Gegner nicht hören solle: »Treulose, Verräterin! Undankbare!« Er sank schluchzend in einen Sessel.

Anton entblößte seine Brust. »Hier hinein senke diesen Stahl«, sprach er zu Bärbel gewendet, »vollende dein Werk an mir. Zaudere nicht. Wenn du's nicht tust, tue ich's.«

Bärbel schleuderte die blitzende Klinge weit weg, daß die Spitze des Messers im Rahmen eines Wandspiegels steckenblieb. Dann flog sie in Antons Umarmung.

Dieser wies sie kalt und düster zurück.

»Herr van der Helfft hat wahr geredet«, fuhr er fort.

»Ich bin ein Betrüger, ein Fälscher, ich bin reif fürs Zuchthaus. – Dank sei dir und dem sündlichen Zauber deiner Schönheit. Ich schaudere vor mir selbst. Noch ist der Bann nicht aufgehoben, den deine Liebestränke über mich verhängt haben; – doch die Binde ist von meinen Augen gefallen. Geschehe mir, was da wolle, ich füge mich. Was du beginnen wirst, gilt mir gleich. Bleibe bei ihm, mache dich los von ihm, – gleichviel! Wir beide sehen uns nie mehr wieder.«

Es lag soviel Aufrichtigkeit der Zerknirschung, eine solch innerste Vernichtung in Antons Ausspruch, daß Bärbel davon betroffen aus ihrem Toben in eine Art von Stumpfsinn überging.

»Wir? – nie mehr?« Weiter brachte sie nichts hervor.

»Niemals! Bei dem Andenken meiner Großmutter!« sagte Anton.

»Es kann dein Ernst nicht sein!«

»So wahr ich's dem schwarzen Wolfgang gelobt, da er – dein Opfer – in diesem meinem Arme starb.«

»Du hast die Versprechen unzähligemal vergessen.«

»Dafür hat mich diese Stunde um so fürchterlicher daran gemahnt. – Laß mich ziehen, Weib! Ich berühre dich nicht mehr. Ich schwöre es bei Gott!! Zwinge meine Lippen nicht, einen fürchterlichen Fluch für dich auszusprechen; – im Kusse werden sie die deinen nicht mehr berühren. Laß mich ziehen und bringe den da zu sich. Er liegt im Starrkrampf. Nimm dich seiner an.«

»Mag er verfaulen, ich hasse ihn! – Toni, bleib'! Sage mir, daß wir uns wiederfinden, daß du mein sein wirst wie bisher. Wenn du mich meidest, es ist dein Tod oder der meine!«

»Dein Tod ist mein Leben; mein Tod ist mir lieber als ein Leben mit dir!« –

Er ging.

Bärbel ließ ihn gehen, ohne sich zu regen. Einem Leichnam ähnlich stand sie vor dem Sessel, auf dem Theodor bewußtlos lag.

Anton schwankte wie ein Schlafender durch die Diener im Vorzimmer.

Auf der Straße tat er einen Atemzug, sog die Nachtluft gierig ein und betete zu den Sternen hinauf: »Lieber Himmel, laß mich morgen von diesem furchtbaren Traume erwachen.«

Dann eilte er seines Weges.

An der Ecke der Straße hörte er »Anton! Anton!« hinter sich her rufen, wie wenn der Klang der Stimme aus der Höhe über ihn käme.

Er verdoppelte die Hast seiner Schritte. Nach Mitternacht erreichte er seine Wohnung in der Straße d'Enfer.


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