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Einundvierzigstes Kapitel

Was man von frühester Kindheit auf als groß, als ungeheuer zu denken gewöhnt ist, woran die Phantasie wie an einem Wundermächtigen ihre Bildungskraft geübt; das, wenn es dann im reiferen Leben uns wirklich vor die Augen tritt, erscheint uns gering, befriedigt unsere Erwartungen nicht, weil es hinter den schwärmerischen Träumen weit zurückbleibt. So ergeht es uns leider mit den wichtigsten Dingen, die des Menschen ganzes Geschick aufwiegen; – warum sollte es Anton mit dem Elefanten anders ergehen?

»Das ist ein Elefant?« sprach er fast geringschätzend, wie er vor ihm stand, »ich hätte ihn mir viel größer gedacht!«

»Na, wie groß soll er denn sein?« fragte nicht wenig beleidigt der erste Wärter. »Haben Sie vielleicht schon größere Elefanten geritten?«

»Ich sah noch gar keinen!«

»Dann dürfen Sie auch den unsrigen nicht herabsetzen. – He, Jacques, gib mir die gute Jacke heraus, da kommen Frauenzimmer; der Herr Professor ist mit ihnen, weißt du, der immer erklärt, warum die Tiere gerade so sein müssen wie sie sind!«

Das Erscheinen der kleinen Gesellschaft erlöste Anton von den ferneren Vorwürfen des an der Elefantenehre gekränkten Kornak, der sich nun mit aller Aufmerksamkeit seiner Pflicht widmete, den gehorsamen, gutmütigen Gefangenen zur Erfüllung der seinigen anzutreiben. Ein Pferd, des Elefanten Schützling und Begleiter, hob sich von der Streu; erst, als dieses neben ihm stand, erschien er in seiner Größe. Anton mußte unwillkürlich an Schkramprl denken, der umgekehrt sein in Ruhestand versetztes Riesentum noch als Folie benützte, um durch Vergleichung mit sich die Kleinheit seiner Zwerge hervorzuheben.

Der Herr Professor dozierte drei aufmerksamen Zuhörerinnen, was man von den Eigenschaften wilder wie gezähmter Elefanten weiß – oder nicht weiß, und ließ sich besonders über ihre märchenhafte Schamhaftigkeit aus, wobei der Kornak seinem Gehilfen Jacques ungläubig zulächelte. Auch versicherte der Dozent, daß er durch häufige Besuche dem Koloß ebenso befreundet sei wie der Wärter; daß er sich durchaus nicht vor seinen etwaigen Launen fürchte. »Ich mache mich anheischig«, sagte er, wobei er eine reichliche Prise Spaniol schlürfte, »jede seiner Übungen mit ihm vorzunehmen.«

»Um Gottes willen!« baten die Damen, welche ängstlich flehend ihre Hände erhoben: »Herr Professor, seien Sie nicht allzu kühn!«

Doch der Herr Professor wollte dartun, daß er Mut besitze. Er schob die goldene Tabatiere, das Geschenk eines jüngsten Sohnes von dem jüngsten Lohne eines apanagierten Prinzen, dem er ein Privatissimum über Naturkunde gelesen, in die Tasche, näherte sich lustig dem Elefanten und klopfte diesem schäkernd auf den Rüssel.

»Wagehals! Für die Wissenschaft setzt er sein Leben ein!« rief die älteste der Damen.

Der Elefant, angelockt vom Dufte des spanischen Schnupftabaks, den er als Kitzel für die Zungennerven liebt, schlang zierlich seinen Rüssel um den Gelehrten, bevor dieser zurückweichen konnte, hob ihn sodann, daß er wie der Taufengel in einer Dorfkirche schwebend hing, zu sich empor, griff mit dem agilen Finger des Rüssels in die Rocktasche, holte sehr geschickt die Tabatiere vom jüngsten Sohne des jüngsten Sohnes des apanagierten Prinzen heraus, setzte den vor Todesangst aschgrau verblichenen Professor wieder auf die zitternden Füße, schüttelte den Inhalt bis zum letzten Krümchen auf die dicke, fleischige Zunge und gab die leere Dose verbindlich ihrem Eigentümer zurück.

Die Damen lagen in verschiedenartiger Stellung in unterschiedlichen Ohnmächten. Anton hatte zwei Sinkende in seinen zwei Armen aufgefangen. Der Kornak und Bruder Jacques begnügten sich, dem Professor, so lange er in der Schwebe hing, warnend zuzurufen, er möge keine widerstrebende Bewegung wagen, weil ein leiser Druck des Rüssels hinreiche, ihm die gelehrten Rippen zu zerknacken. Um die ohnmächtigen Damen hatten sich beide, die mit schadenfroher Teilnahme des Naturforschers Luftfahrt verfolgten, nicht weiter bekümmert. Die dritte Dame würde folglich genötigt gewesen sein, auf eigene Hand in Ohnmacht zu sinken, wäre nicht gerade im rechten Augenblick ein Helfer eingetreten: Herr Terzy, nächster Wandnachbar des Elefanten, vielgereister Lehrer, Führer, Unternehmer einer sich in allen Lüften aller Länder und Zonen überschlagenhabender Springertruppe, vom Genre des seine Laura zärtlich prügelnden Herrn Amelot.

Terzy, bekannt als Weiberhasser und erklärter Gegner des schönen Geschlechts, machte zwar gute Miene zu seiner bittersüßen Last, schien aber doch seelenvergnügt, wie er sie los wurde. Die Damen erholten sich nach und nach; sie verließen mit niedergeschlagenen Augen den Schauplatz ihrer Schwäche. Der Professor, nachdem er vergebens in seiner Tabatiere ein Stäubchen gesucht, um Fassung zu gewinnen, folgte ihnen fassungslos und beschämt.

Terzy wendete sich alsbald zu Antoine, den er im Zirkus gesehen, richtete einige oberflächliche Lobeserhebungen an sein Talent, erklärte sich aber völlig einverstanden mit seinem Vorsatz, eine Laufbahn zu verlassen, die er, was jeder Kenner bestätigen müsse, zu spät angetreten, um einen hohen Grad von Ausbildung zu erreichen. »Sie sollten«, riet er ihm, »Ihr Violinspiel benützen zu anderen Zwecken. Sie haben einen schönen, zum Gefühl dringenden Ton, und Festigkeit bei Führung des Bogens fehlt gewiß nicht, da Sie imstande sind, auf galoppierendem Pferde die Melodie zu halten. Ich will Ihnen nicht zureden, sich zum eigentlichen Virtuosen zu machen; dafür dürfte es auch schon zu spät sein, nicht allein bei Ihren Jahren, sondern hauptsächlich bei den Ansprüchen der Welt und bei der Überfülle von Nebenbuhlern. Wenn es fortgeht, wie es sich anläßt, werden wir binnen kurzem ungleich mehr reisende Virtuosen zählen als bezahlende Zuhörer. Bei meinem letzten Aufenthalte in W. trafen zusammen: eine Klarinette, fünf Flöten, ein Kontrabaß, drei Cellos, eine Baßposaune, eine Klappentrompete, zwei Waldhörner, ein Fagott, eine Maultrommel, eine Gitarre, sieben Geigen und einundzwanzig Klaviere. Alle wollten Konzert geben, gaben es auch, jeder Warnung zum Trotz! Wo soll das hinaus? Aber wenn Sie sich der Musik widmen, um Platz in einem Orchester zu nehmen, so können Sie wenigstens existieren. Wie wäre es, wenn Sie's bei mir versuchten? Schkramprl hat mir im Vorübergehen von Ihnen gesprochen. Ich kann eine erste Violine gebrauchen, die mir das übrige Musikvölkchen, wie ich's zusammenraffen muß, wo ich anlange, im Zaune hielte. Die Stücke, die zu unserer Arbeit aufgespielt werden, sind nicht schwierig; doch höre ich sie gern im Takte und rein. Große Trommel samt Blechinstrumenten bleiben bei mir stumm. Wissen Sie was, kommen Sie mit mir zum Mittagstisch. Meine Jungen warten längst auf mich mit dem Essen; ich war nur hierher gegangen, Sie zu finden. Reichen Sie mir den Arm. Zu Hause können wir das Nähere verabreden.«

Anton willigte ein, und sie gingen miteinander.

Der Weg nach Terzys Wohnung führte sie bei verschiedenen Buden vorüber, die Anton an Schkramprls Seite noch nicht besucht. Nordische Herkulesse, Steinfresser, Jongleure. Beim Anblick eines solchen, der vor dem Eingange seiner geringen Hütte vor etlichen Bauern der Umgegend Übungen in der Überredungskunst anstellte, um ihr Geld aus der Tasche und sie in die Hütte zu locken, brach Terzy in fanatische Lobpreisungen aus für den Indier Moto Sami, der diese Spielerei zuerst nach Deutschland gebracht und dann ein unübersehbares Heer plumper Nachahmer hervorgerufen habe. »Was bei diesen langweilig und ermüdend wird, sobald man es einmal angesehen, war bei jenem hinreißend schön. Der ernste Geschäftsmann, der unerbittliche Richter, der tapfere Feldherr, die Betschwester, der strenge Gelehrte wie die Kinder der Erde und des Leichtsinns ... jeder ohne Ausnahme, jeder war gleich entzückt von ihm. Kraft und Grazie vereinten sich bei diesem jungen Menschen mit einer Fertigkeit, von der unsere Jongleure keine Ahnung haben. Was bei ihnen ein einzelnes Kunststück bildet, war bei Moto Sami nur das Fünfteil einer Produktion. Mit den großen Fußzehen schwang er goldene Ringe in Kreisen nach innen; mit den Daumen der Hände andere Ringe in entgegengesetzten Kreisen nach außen; auf der Stirn balancierte er einen Sonnenschirm, den ein chinesisches Dach, von kleinen Vögeln besetzt, schmückte; mit den Lippen hielt er ein Blaserohr, durch welches er Erbsen nach jenen Vögeln schoß und deren nicht einen verfehlte, und während dies alles geschah, reihte er eine Handvoll Korallen, die er vorher in den Mund genommen, mit der Zunge an einen Faden, der sodann als perlender Faden herauskam. Der arme Teufel, der so viel erlernt, konnte unser gesegnetes Klima nicht ertragen lernen. Er starb aus Sehnsucht nach den Ufern des Ganges und nebenbei ein klein wenig an den Beweisen indischer Erkenntlichkeit, die er verschiedenen Damen aus der vornehmen Welt gegeben haben soll für ihre Herablassung zu einem Paria, wie die skandalöse Chronik der Vagabunden behauptet. – Ja, lasse sich nur einer mit Weibern ein! Aber hier ist meine Wohnung.«

Terzys kleine Bande, aus allerliebsten Burschen von zwölf bis siebzehn Jahren bestehend, war schon um den Eßtisch versammelt. Der Herr gab einen Wink, und augenblicklich wurde noch ein Gedeck für den Fremden aufgestellt. Die Küche schien von den jungen Leuten selbst, und zwar nicht schlecht, besorgt zu werden: einige gingen ab und zu, volle Schüsseln herbeiholend, wobei sie sich wie kokette Mädchen gebärdeten, denen sie auch durch Haarschmuck und durch andere Toilettenkünste ähnlich waren. Alle betrachteten den Gast mit unverhohlener Neugier, belauschten jedes Wort, welches Terzy mit ihm wechselte, und gaben sich versteckte Winke und Zeichen, die immer bedeutsamer, für den aber, dem sie galten, immer unheimlicher wurden, nachdem zur Sprache gekommen, daß ihm die Stelle eines Musikdirigenten zugedacht. Terzy, der seinen Gast zu trinken aufforderte und selbst den Wein nicht schonte, zeigte sich mit jedem Glase zärtlicher, wobei er nur bedauerte, daß er, weil er täglich zwei aufeinanderfolgende Vorstellungen gäbe, gezwungen sei, früher aufzubrechen wie Anton, der noch einige Stunden Zeit habe!

Anton benützte diese Andeutung, sich eilig zu entfernen, schied, dringend aufgefordert, er möge des Abends wiederkehren, nahm sich aber vor, wegzubleiben, weil ihm die ganze Wirtschaft wunderlich vorkam. Er beurlaubte sich schriftlich und dankte für die angebotene Versorgung.

Und daß dieser Entschluß durch steigende Verlegenheit wegen seiner nächsten Zukunft nicht wankend werden möge, vermittelte das Geschick, welches ihn, den planlos weiter Suchenden, an eine große, mit besonderer Sorgfalt konstruierte Bude geleitete, deren Anschlagezettel das große Wachsfigurenkabinett des Herrn Vlämert verkündeten. An der geöffneten, reich verzierten Kasse, vor der ein wächserner Gardist schulterte, saß eine junge Dame, die er beim ersten Anblick für seine aus dem Brünetten in das Blonde transponierte Laura Amelot halten wollte. Auch sie hatte das an solchen Kassen unvermeidliche Buch vor sich auf dem Tische liegen und las emsig; auch sie verwandte, wie damals Laura, kein Auge von der Lektüre. Anton näherte sich dem Gardisten, als mit welchem er – o biederer Liebenauer! – eine Konversation anzuspinnen beabsichtigte, indem er ihn bescheiden fragte, ob er vielleicht ein Orientale sei, da er ins Olivenfarbige spielte. Das war Madame Vlämert zu stark. Sie erhob das Gesicht vom Lesebuche und erkannte Antoine, den violinenspielenden Reiter. Wahrscheinlich hielt sie seine an den Wachsklumpen gerichtete Frage für verfängliche List, vermeinend, der mit allen Hunden gehetzte Franzose habe dadurch nur ihre Aufmerksamkeit vom Buche weg auf sich lenken wollen! Denn sie wurde – was sie nicht übel kleidete – über und über rot. Daß er den Wachssoldaten für ein lebendiges Menschenkind gehalten, konnte ihr nicht einfallen. Sie lud ihn durch eine graziöse Bewegung des Kopfes ein, den Schauplatz zu besuchen und deutete, ohne zu sprechen, mit der Hand auf den Vorhang, durch den er sich zu schieben habe. Antoine gehorchte; mehr aus Hochachtung für die schöne Dame als auf eigenen Wunsch. Er war ebenso rot wie Madame Vlämert. Diese wußte nicht, was davon zu denken sei, und las weiter in Shakespeares »Cymbeline«.

Ich will mich gar nicht hinter meiner Kinderdummheit und deren törichte Furchtsamkeit verstecken; ich will vielmehr treuherzig eingestehen, daß ich mich auch noch als überreifer, vielerfahrener Mann fürchterlich gefürchtet habe, wenn ich mich zufällig, weil die Aufseher gerade abwesend und andere Zuschauer nicht zugegen waren, allein vor einer solchen Parade von Wachsfiguren befand. Fast kenne ich nichts Schauerlicheres, als eine Gesellschaft ausgeputzter Kadaver; ich behaupte auch, daß es, ich weiß nicht warum, wie in einer Totenkammer riecht! Deshalb bin ich nicht berechtigt, meinem Helden sein Entsetzen übel zu nehmen. Es findet sich eine Zeile in seinem Tagebuche, auf das zurückzukommen wir im nächsten Kapitel ohnehin genötigt sein werden, – worin er ausspricht, daß er sich unbedenklich durch die Flucht gerettet haben würde, hätte er nicht die schöne, stumme Blondine an der Kasse gewußt und ihren Hohn gefürchtet. Er stählte sich folglich mit dem Mute der Furcht, welcher, obgleich nichts anderes als Furcht vor der Furcht am gehörigen Orte Wunder zu wirken vermag. Er blieb; rückte den hohen und höchsten Herrschaften, die, mit berüchtigten Räubern, Dichtern, Delinquenten, Gelehrten, Kartenspielern, Trinkern, Giftmischern abwechselnd, hier zu Gruppen vereinigt, dort in ungeselliger Abgeschlossenheit zu sehen waren, zuversichtlich auf den Leib, warf ihnen drohende Blicke zu, forderte sie auf, ihn zu beleidigen! kurz, er verfuhr nach jener Theorie, deren Anwendung ihm damals behilflich gewesen, das nächtliche Gespenst im Fuchswinkel zu verscheuchen. Nichtsdestoweniger gestand er sich's aber: ich will lieber mit Tigern und Leoparden zu schaffen haben, die doch mindestens durch ihr Gebrüll aufrichtig bezeugen, wes Geistes sie sind: lieber mit jenen Vierfüßlern, als mit diesen zweibeinigen, sprachlosen, hochzuverehrenden Herrschaften.

Eine Seitentür öffnete sich. Zwei Herren traten heraus, zum Hauptausgange geleitet von einem dritten, dem Schöpfer dieser kalten Welt, der im Vorübergehen Anton artig begrüßte, sogleich zurückkehrend sich noch artiger entschuldigte, daß er, ein Kurzsichtiger, von seiner Frau erst habe erfahren müssen, wer es sei, den er hier zu finden sich freue.

Der Holländer, fertig Französisch redend und lebendiger, als die meisten seiner Landsleute, begann ein recht interessantes Gespräch, das freilich zunächst den von ihm ausgearbeiteten Köpfen und Figuren galt, ihn dabei aber doch, durch nahe liegenden Bezug auf dieselben, wie einen künstlerisch und nicht unwissenschaftlich ausgebildeten Mann erscheinen ließ. »Was Sie hier sehen«, sagte er, »ist nur für die Menge berechnet, denn ich muß mich ernähren. Andere, bedeutendere Arbeiten verwahre ich in jenem Seitenkabinett, aus dem ich soeben mit den beiden Herren trat. Darin verberge ich – denn verborgen müssen sie bleiben des lieben sittlichen Anstandes halber – die Erzeugnisse meiner Mußestunden. Nachbildungen teils verschiedener Naturmysterien, wie dieselben vor Damen, Kindern – überhaupt öffentlich nicht ausgestellt werden dürfen. Den Ausdruck des Menschlichen zu treffen, insofern er dem Antlitz geistige Weihe gibt, gelingt Künstlern meiner Gattung nur unvollkommen. Wir sollen plastische Bildner sein und Maler, beides zugleich; deshalb sind wir streng genommen keines von beiden. Ich sehe das deutlich ein, bin darum auch unzufrieden mit dem, was hier prunkt und prangt. Aber meine kleinen Arbeiten da drin, in der heimlichen Kammer, darf ich vollkommen nennen in ihrer Weise. Sie maßen sich nicht an, Leidenschaften, Gefühle, Charaktere auszudrücken, sie bedürfen keiner Augen, die Feuer, keiner Mienen, die inneres Leben verlangen. Was durch Fleiß und Geschicklichkeit erreichbar ist, genügt für diese Arbeiten. Für den Augenblick befinde ich mich mit Vorzeigung derselben in peinlicher Verlegenheit. Ich kann dafür, als für eine nur im stillen gegebene und geduldete Begünstigung, natürlich auch nur einen zuverlässigen, anständigen Diener gebrauchen, und einen solchen gelang es mir nicht aufzufinden, seitdem der vorige, den ich noch aus Holland mitnahm, nach unserer Heimat zurückgekehrt ist. Nun bin ich genötigt, selbst zum Rechten zu sehen, was mich höchst unangenehm in Anspruch nimmt und mich am Arbeiten hindert. Und dies gerade jetzt, wo ich gesonnen bin, nach Frankreich zu gehen, das einzige Land, das ich noch nie bereiste, und für welches ich gern noch einige längst gehegte Ideen, halbbegonnene Arbeiten zur Ausführung gebracht sähe!«

»Sie denken nach Frankreich zu reisen? Vielleicht nach Paris?«

»Womöglich auch nach Paris.«

»Wollen Sie mich zum Diener haben?«

»Herr Antoine, Sie scherzen.«

»Antworten Sie kurz und aufrichtig: würden Sie mich nehmen, glauben Sie mich brauchen zu können, wenn ich mich anbiete?«

»Auf Ehre, ich verlange es nicht besser; doch scheint mir unbegreiflich ...«

»Alles wird Ihnen sehr begreiflich sein, sobald Sie mich gehört. Jetzt ruft mich meine leider noch nicht beendigte Leibeigenschaft in den Zirkus. Darf ich nach Erfüllung der heutigen Pflicht bei Ihnen vorsprechen?«

»Sie machen mir die größte Freude; hier unsere Adresse. Wenn ich aber nur klug werden könnte aus diesem überraschenden Anerbieten ...«

Anton war schon verschwunden und so leicht und fröhlich an der an der Kasse lesenden Dame vorübergeflogen, daß er gänzlich vergessen, ihr seine Empfehlung zu machen. Ebenso eilig entfloh er nach vollbrachter Arbeit aus der Manege, trieb sich in den Spaziergängen umher, bis er endlich die Lampen vor Vlämerts Kasse erloschen, die Türen der Bude geschlossen sah, und begab sich sodann mit klopfendem Herzen dahin, wo über seine nächste Bestimmung entschieden werden sollte. Die Eindringlichkeit seiner Gründe, die innerste Selbstüberzeugung, mit der er dieselben vortrug, die Offenheit seiner Bekenntnisse (so weit er nötig fand, dergleichen in das, was er sagte, zu verweben) gewannen des aufmerksamen Hörers volles Vertrauen, sowie Antons ganze Persönlichkeit Vlämerts Neigung. Ohne Bedenken ging der letztere auf das Anerbieten ein, zeigte über solch glückliches Zusammentreffen unverstellte Freude, deren Ursache er auch seiner Gattin, einer stummen, teilnahmlosen Zeugin der Unterhaltung, von der sie noch keine Silbe verstanden, in ihrer Sprache mitteilte. Denn sie war eine Engländerin und erst seit elf Monaten mit ihm auf Reisen.

Käthchen hatte bis dahin, mild wie ein Sommerabend – obgleich sie noch immer im wilden Cymbeline studierte – sittsam, freundlich, ernst dagesessen, Anton nur oberflächlich betrachtet, gleich wieder in ihr Buch geblickt und sich kaum geregt. Nachdem Vlämert sich ihr mitgeteilt, glaubte Anton zu bemerken, daß ihre Züge ein Ausdruck tödlicher Angst überflog, daß ihre Hände zitterten; er hörte, wie sie ihrem Gemahl einige Worte erwiderte. Schon wähnte er jede Hoffnung abermals aufgeben zu müssen.

Doch der Gatte schien Käthchens Einwürfe siegreich zu beschwichtigen. Sie verstummte wieder, holte tief Atem und las weiter.

Vlämert reichte Anton die Rechte: »Schlagen Sie ein. Wir sind in Ordnung. Die Geldbedingungen halte ich annehmbar für beide Teile. Sie empfangen Kost und Wohnung bei uns. Sie gehören zu meiner Familie. Ihre Gage beträgt monatlich zwei Louisdor; sie wird aus der Kasse bezahlt, in welche die Extraspenden fließen für Anschauung des Ihrer Obhut anvertrauten verschlossenen Kämmerleins. Den Überschuß teilen Sie mit mir. Sind Sie's zufrieden?« Anton schlug ein. Vlämert schüttelte ihm tüchtig die Hand und sagte: »Sie fürchtet sich noch vor Ihnen. Das gibt sich bald. Sie ist schüchtern wie ein Kind; bürgerliche Erziehung; kleine Häuslichkeit; fremd in der Welt, obgleich aus einer Weltstadt gebürtig. Aber gerade weil sie so ist, habe ich sie in London zur Frau genommen.«

Anton empfahl sich Käthchen mit einer artigen Verbeugung, die mehr verlegen wie freundlich erwidert wurde. Vlämert leuchtete seinem neuen Gehilfen über die Stiege.

Als die blonde Katharina, von ihrem Gatten Käthe genannt, allein war, faltete sie die weißen Hände über ihrem Shakespeare, schlug die blauen Augen empor und betete:

To your protection I commend me, gods!
From fairies and the tempters of the night
Guard me, beseech ye!
In euren Schutz befehl' ich mich, ihr Götter! Vor Elfen, vor Versuchern bei der Nacht Bewahrt mich, steh' ich euch! Cymbeline Akt II, Szene 2.


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