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Anton war eben wieder zu seiner Arbeit gegangen, einige Bündel frisch eingeweichter Weidenruten lagen vor ihm, und flocht rüstig, als er scharfe Trommelwirbel die Dorfgasse herab vernahm.
»Was ist das, Alte?« fragte er, ohne aufzustehen, »fängt etwa der Siebenjährige Krieg wieder an?«
»Was wird es sein«, sagte Mutter Goksch, »Dorfkomödianten sind es, die ihre Torheiten ausschreien!«
Dorfkomödianten!? So lange Anton denken konnte, hatten dergleichen sich nach Liebenau niemals verirrt. Er erhob sich vom Arbeitsschemel, als wollt' er zum kleinen Fenster treten, ließ sich aber sogleich wieder zum Sitzen nieder. »Was geht's mich an?« sprach er leise, »ich mag sie doch nicht sehen. Das ist nur für lustige Leute, und mir ist nicht so lustig zu Sinne.«
Jetzt verhallte die Trommel; und eine helle Stimme wurde hörbar:
»Heute, zum Feierabend, mit obrigkeitlicher Bewilligung, beim Wirtshause im Oberdorfe wird die Schauspielertruppe des großen Samuel aufführen zum allerersten Male das Leben und unschuldige Leiden der Prinzessin Genoveva, ein schönes, auferbauliches Schaustück; keine Puppen, lauter lebendige Menschen. Der Anfang ist um acht Uhr. Männer bezahlen einen Groschen, Weiber einen halben, Kinder drei Pfennig, ganz kleine bringen ein Ei. Es wird niemanden nicht gereuen, denn so was Schönes hat er noch niemalen gesehen und wird es nicht sehen, so lange das Dorf steht. Immer heran, ihr Leute, wem's nicht gefällt, kriegt sein Geld retour!«
Der Ton dieser Stimme kam Anton bekannt vor; er hatte ihn gehört und wußte doch nicht von wem. Er trat ans Fenster. Er sah den Trommelschläger, wie er gerade aufs neue wirbelnd weiterzog. »Möcht' ich doch schwören«, sprach er kopfschüttelnd, »das sei der schwarze Wolfgang. Doch wie käme der unter die Komödianten? Aber nun muß ich auf jeden Fall hingehen und zuschauen.«
Und er ging. –
Ich habe die Aufführung, von welcher hier die Rede ist, auch gesehen. Ich, der Verfasser dieses Buches, kannte die Truppe des großen Samuel recht gut. Ihr Repertoire bestand aus zwei Stücken. Dieselben Stoffe bildeten es, welche fast ausschließlich den Gegenstand ähnlicher Darstellungen auszumachen pflegten. Der erste ist der unerschöpfliche Mythus vom keuschen Jüngling, in welchen jedoch bei diesen rohen Verarbeitungen stets die sündhafte Stiefmutter hineinspielt: halb biblischer Joseph, halb antike Phädra. Der König oder Kaiser lebt in zweiter Ehe mit einem jungen Weibe, das vom alten Vater hinweg nach dem holden Sohne schielt. Dieser, ein Gemisch von Hippolyt und Jakobs tugendsamem Joseph, weist sie verschmähend zurück, verwandelt ihre Neigung in Haß, erweckt ihre Rachsucht, wird von ihr verleumdet, angeklagt, durch den leichtgläubigen Vater in den Kerker geworfen, zum Tode verurteilt und natürlich gerettet, nicht durch Dazwischenkunft der »sieben weisen Meister«, sondern der lustigen Person, die man zu jener Zeit, obwohl wahrscheinlich hispanischer Abkunft, nicht Grazioso, vielmehr ehrlich genug Hanswurst nannte. Nach den oberflächlichen Proben, die ich bisher von Bärbels Redeweise gab, wird man mir kaum glauben, wenn ich versichere, daß sie sowohl als ihre nicht besser sprechenden Kunstgenossen dennoch einigen Eindruck auf mich gemacht haben durch ihre Aufführung. Freilich war ich noch sehr jung, hatte jedoch schon manches Große und Erhabene gesehen auf den Brettern der Hauptstadt und schäme mich nicht, zu bekennen, daß ich trotzdem ergriffen wurde von etlichen Auftritten jener Dorfkomödie.
Der zweite Gegenstand, dem man fast noch häufiger begegnete, durch den auch unser Anton in die Zauberwelt dramatischer Poesie eingeführt werden sollte, war die stets wiederkehrende Geschichte der heiligen Genoveva, bisweilen untermengt mit einigen Zügen und Andeutungen aus der getreuen Griseldis (siehe das Volksbuch vom Markgrafen Walther), späterem Geschlechte durch Halms Griseldis in die Herzen gerufen. Das edle, duldende, vom Gatten verstoßene, endlich durch den Lohn ihrer Tugend selige Weib.
Die Rollenbesetzung bei der Wanderbühne in Liebenau war nicht so übel. Der große Samuel gab einen stolzen Siegfried, Schwester Bärbel eine schöne, wenn auch keineswegs heilige Genoveva; doch wußte sie gar trefflich die Mienen der Unschuld nachzuahmen, wobei nur zu erforschen blieb, wen um alles in der Welt aus dem Kreise ihrer Bekanntschaft sie sich zum Vorbilde hätte nehmen können, wenn Erfahrung nicht lehrte, daß ein Naturtalent häufig keines Vorbildes bedarf. Genovevas Zofe und Vertraute wurde durch die Schwägerin, Schmerzensreich durch den kleinen Rosse lenkenden Neffen gegeben. Vom Darsteller des verräterischen Golo werden wir späterhin zu sagen haben, wollen jedoch nicht unbemerkt lassen, daß die Mitspielenden (wahrscheinlich Freunde der deutschen Karte) ihn Solo zu nennen beliebten. An Rittern und Knappen lieferten die jüngeren Landstreicher genügenden Vorrat; sie verwandelten sich aus halb nackten Raubfischern gar leicht in wackere Kämpen mit Hilfe einiger buntgefärbten Federn und Pferdeschwänze auf glanzlederne Kappen gesteckt.
Für die Hirschkuh, die nicht fehlen durfte, war man genötigt gewesen, einen Dilettanten aufzusuchen, weil die zur Bande gehörige gelbbraune Vorsteh-Hündin, welche bisher mit Glück und Geschick dieser wichtigen Rolle vorgestanden, gestern auf der Reise, von unbesiegbarer Jagdlust verlockt, einem strengen Revierjäger zum blutigen Opfer gefallen. Die »umsichtige Direktion« hatte in dem an Jahren weit vorgerückten, halb erblindeten Dachsschliefer des Gastwirtes Naturell und ruhige Besonnenheit zur Genüge gefunden, um ihn mit diesem Part zu belehnen. Das Stirnband, auf welchem zwei kleine Rehgeweihe prangten – seltsamer zwiefacher Widerspruch in den Augen jagdgerechter Kenner! – und wodurch man die Hirschkuh zu bezeichnen gedachte, wurde dem armen, alten Waldmann so fest um sein ehrwürdiges Haupt nebst dazu gehöriger Kehle geschnürt, daß er fast erstickte, und daß sein Auftreten – (der kleine Schmerzensreich half ihm durch einen Strick, woran er ihn hinter sich her zerrte, über das erste Kulissen- und Lampenfieber hinweg) in fortdauerndem Würgen und sich Sträuben bestanden, was verschiedene einsichtsvolle Beurteiler im jugendlich ländlichen, strumpflosen Publiko für Kunstaufwand zu nehmen geneigt schienen. In der großen Versöhnungsszene, wo Siegfried Genoveva reuig in die Arme schließt, als Schmerzensreich, auch in das erneuerte elterliche Bündnis mit aufgenommen, nicht mehr Muße fand, seine vierbeinige männliche Amme zu überwachen, gelang es dieser, das heißt dem halbtoten Waldmann, seinen ihn schwerer als manche Krone drückenden Hörnerschmuck abzustreifen. Er feierte solchen Triumph der Freiheit augenblicks durch eine Stellung, wie freie Hunde dieselbe allerdings häufig einzunehmen pflegen, wie man sie aber bei offener Szene nicht zu sehen gewöhnt ist. Er vergaß – was so manchem Künstler geschieht – den Charakter seiner Rolle als Hirschkuh und fiel gänzlich in den Hund zurück. Die Tränen, welche dem rührenden Schauspiele zu Ehren aus den Augen reichlich versammelter Zuschauer strömten, würden durch Waldmanns Beitrag zum Ensemble wahrscheinlich gehemmt worden sein, wenn nicht Samuel-Siegfried so viel Fassung gewonnen hätte, seinen pfalzgräflichen linken Fuß aus der Gruppe, in die er samt Gattin und Kind verschlungen stand, momentan zu lösen und den rücksichtslosen Improvisator in dieselbe Kulisse, die dieser eben entweihte, tief hineinzuschleudern. Der Effekt des Dramas war gerettet – aber Waldmann hatte ausgerungen; sein erster Auftritt auf der Bühne war sein letzter fürs Leben geworden. Der Gastwirt machte nicht viel Aufhebens davon; denn, meinte er, ich hätte ihn ja doch totschlagen lassen müssen, er war schon zu »infallied«.
Das Schauspiel hatte eine gute Stunde gedauert, nicht länger. Möchten sich manche Bühnendichter an solch gediegener Kürze ein Beispiel nehmen.
Die Landleute zerstreuten sich bald. Bier und Schnaps hatten sie schon während der Darstellung genossen, nicht minder ihre Pfeifchen geraucht, ganz wie man es jetzt, zu Zeiten unserer geistigen Fortschritte, in großstädtischen Sommertheatern zu tun liebt. Am nächsten Morgen hieß es zeitig aufstehen. Sie gingen also gleichgültig von dannen. Hie und da hörte man eine weibliche Stimme ausrufen: »Wunderschön haben sie's gemacht!« Damit war alles gesagt und vergessen.
Aber Anton!?
Zwar hatten sich unter den mancherlei »Lesebüchern«, die er vom Schlosse dargeliehen erhalten, auch bisweilen ältere Schauspiele befunden. Diese waren von ihm mit lebhafter Teilnahme durchflogen worden. Auch war seiner stets aufmerksamen Wißbegier der Unterschied zwischen Erzählung und Drama aufgefallen, und die fesselnde Handlung einiger Stücke hatte ihn beängstigend ergriffen. Niemals jedoch war ihm der Gedanke klar zum Bewußtsein gekommen, daß derlei Werke in der Absicht geschrieben würden, von Menschen leibhaftig versinnlicht zu werden. Nun trat ihm eine solche allerdings verstümmelte, in erbärmlicher Sprache abgefaßt und ebenso unrichtig vorgetragene, nichtsdestoweniger in ihrer ewig poetischen Grundlage unverwüstliche Dichtung vor das leibliche Auge, nahm Form und Gestaltung vor ihm an und ließ ihn in raschem Fortgange des beibehaltenen, ursprünglich meisterhaften Szenenbaues den teilweise albernen, fast gemeinen Dialog vergessen, dessen Mangelhaftigkeit ihm sonst gewiß nicht entgangen sein würde. Dazu bewegte sich Bärbel schön und edel, sah bezaubernd aus, so daß sie in ihm neben schuldigem Mitleid für ein grausam verstoßenes Weib nicht minder Gefühle ganz entgegengesetzter Gattung erweckte, von denen er zwar nicht verstand, sich Rechenschaft abzulegen, die aber mit jenen des verbrecherischen Golo ein wenig harmonierten.
Und dieser Golo! Kein Zweifel mehr, es war der Ausrufer mit der Trommel, war der Herold der Komödianten, war der schwarze Wolfgang im abenteuerlichsten Putze, welcher ihn sehr gut kleidete.
Wolfgang, der Vagabund nachbarlicher Kirchspiele, ist unter die Schauspieler gegangen!? – Wie war er darauf geraten; wie dazu gelangt? Wie hatte er erreicht, binnen kaum zwei Monaten so viel Übung zu gewinnen, daß er neben Samuel und Bärbel sich leidlich ausnahm? Und was bedeutete überhaupt das Leben und Treiben dieser Menschen, ihr Umherziehen von Dorf zu Dorf, ihr ganzes Gewerbe? Was wollten, was sollten sie in der Welt? Welchen Nutzen schafften sie? Gab es viele solche Leute? Gab es ihrer auch in Städten; in Städten, von denen er so vielerlei gelesen und gehört, deren keine er gesehen? Ei jawohl, denn Puschel und Rubs erwähnten bisweilen des »Theaters«, hatten es, wie Anton sich zu erinnern meinte, sogar einmal besucht. Also das war das Theater! Aber in der Stadt mußte es anders sein! Größer! Schöner! Und gebildete Spieler darauf! Dort würde Wolfgang nicht bestehen samt all seiner Keckheit! Wolfgang, derselbe schwarze Wolfgang, der sich in Branntwein zu Tode sau – –
Gerade soweit war Anton mit seinen rasch aufeinander folgenden, sich gleichsam überstürzenden Gedanken gediehen, als der nämliche Wolfgang, dem letztere gegolten, hinter einem mit verblichenem Baumschlag beklecksten Leinwandflügel hervortrat, noch in die bettelhafte Pracht des Dorfkomödianten gehüllt, worin er sich allzusehr gefiel, um sie fürs erste abzulegen.
Anton wurde durch dies unerwartete Erscheinen aus tiefem Sinnen aufgeweckt und der Wirklichkeit wiedergegeben, wo er denn staunend bemerkte, daß er – die hinter dem Vorhang befindlichen, mit Einpacken beschäftigten Schauspieler abgerechnet – der einzige im öden, düsteren Gastgemach geblieben sei. Sogar der Wirt und Wirtin hatten das Haus verlassen, um den abgeschiedenen »Waldmann« anständig unter die Erde zu bringen.
Wolfgang trat raschen Schrittes in den leeren Raum, als ob er jemand suchte. Und sowie er den in der entgegengesetzten dunklen Ecke stehenden Anton erkannte, sprach er ihn barsch mit den Worten an:
»Was willst du noch hier? Auf wen wartest du?«
Diese Anrede, die fast feindselig klang und deshalb durchaus nicht zu den freundlichen Worten stimmte, welche Wolfgang im Fuchswinkel mit ihm gewechselt, entsetzten Anton dermaßen, daß der Schreck ihm Fassung verlieh, was bei milden und nachgiebigen Naturen häufig geschieht, so daß er kaltblütig zu erwidern vermochte: »Nur auf dich, überzeugen wollte ich mich, ob du das wirklich bist, der heute« –
»Na, nun hast du dich überzeugt«, unterbrach ihn Wolfgang, »nun geh' deiner Wege.«
»Was hast du denn im Sinne, Mensch«, fragte Anton, zum Gehen schon gewendet, »daß du so wild und grob gegen mich bist? Was hab' ich dir denn in den Weg gelegt? Oder bist du stolz geworden, seitdem du das Komödiantenhandwerk treibst?«
»Verhöhne mich nicht, Korbmacherjunge«, schrie jener. »Meinst du, ich hätte nicht bemerkt, wie sie den ganzen Abend nach dir schaute! Du gefällst ihr, das weiß ich. Sie ist ein leichtsinniges Weibsstück. Aber so lange ich noch da bin, kommt ihr kein anderer nahe, sonst gilt's ein Leben. Wenn mich der Teufel geholt hat, macht was ihr wollt; eher nicht. Und jetzt drücke dich! Sie soll dich nicht mehr sehen!«
Damit schob er den verblüfften Anton hinaus.
Dieser wußte selbst nicht, wie ihm geschehen. Er blieb draußen im Freien mit offenem Munde, völlig erstarrt, einige Minuten lang mitten auf dem Fahrwege stehen, um sich nur erst wieder zu sammeln. Die Nacht war undurchdringlich finster, die Sterne in Wolken verhüllt, die Landleute hatten sich längst verloren. Tiefes Schweigen ringsumher, nur von Antons bewegter Stimme unterbrochen: »Also ist der schwarze Wolf wirklich ein Hexenmeister, daß er weiß, was mit mir vorgegangen, während ich die Genoveva gesehen habe; daß er Kenntnis hat von den sündhaften Gefühlen, die in mir wach wurden? Er muß mich besser kennen, wie ich mich selber. Denn ich weiß durchaus nicht, was mit mir vorgeht. Ich weiß doch, daß ich Ottilie noch immer unveränderlich liebe, und wenn ich an sie gedenke, ist mir zwar wehe, weil sie mich verachten will, aber es ist mir doch auch wohl dabei, wahrscheinlich, weil ich in dieser Liebe emporwuchs. Gedenke ich aber an die Schauspielerin, so wird mir gleich ganz anders, ganz bange und angstvoll, es hämmert und pocht mir im Herzen wie wenn es zerspringen sollte. Was ist denn das? Liebe ich auch die Genoveva? Und gibt's denn zweierlei Arten von Liebe? Und kann man denn zwei Frauenzimmer auf einmal lieben? In den Büchern lieben sie doch immer nur Eine, und die nennen sie ihre Einzige!«
»Sie hat mich betrachtet«, spricht der Wolfgang; »ich gefalle ihr! Er ist eifersüchtig auf mich; deshalb ist er mein Feind geworden, der sonst mein Freund sein wollte. Umbringen will er mich, sobald ich ihr nahe komme! Also, er ist ihr Liebhaber. Darum ist er unter die Komödianten gegangen? – Wie glücklich muß er sein, weil er immer bei ihr ist, weil sie immer zärtlich gegen ihn – – dennoch schilt er sie, nennt sie ein leichtsinniges Weibsstück? Wenn er weiß, daß sie das ist, warum ist er dann ihr Liebster? Kann man schlechte Weiber auch lieb haben?? Ach, ich weiß ja vom lieben, langen Tage nichts, ich bin doch ein erbärmlich dummer Dorfteufel. – Jetzt, denke ich, wäre es an der Zeit, heimzuschleichen. Die Großmutter ängstigt sich, daß ich zu Schaden gekommen. – Wenn sie nur schon schliefe! Denn säße sie etwa noch beim Lämpchen an der Arbeit und sähe mir ins Angesicht – ich verginge vor Scham und Schande. Nein, ich will mich gleich ins Bett vergraben und alles verschlafen wie einen verrückten Traum!«
Mit diesem redlichen Entschlusse trat unser Freund den Rückzug an. Kaum hundert Schritt im Finstern weiter gedrungen, vernahm er Tritte, Flüstern, unterbrochenes Lachen hinter sich her. Wie von banger Ahnung gewarnt, schlüpfte er hinter einen dicken Weidenstamm, der ihn schützend barg, als dicht bei ihm vier glühende Augen vorüberleuchteten. Von den Gestalten der beiden Personen, denen diese Augen zugehörten, konnte er kaum einen Umriß wahrnehmen; doch hörte er, was sie sprachen und verstand deutlich die Worte: »Kirchhof – der alte Baron – Pflaster!«
Daß es Golo mit Genoveva gewesen, die auf eine nächtliche Fahrt auszogen, darüber blieb ihm kein Zweifel. Hätte er sich in seiner Seele frei und rein gewußt, würde wohl auch eine Besorgnis, es könne seinem Erb-, Grund- und Gerichtsherrn etwas Übles zugedacht sein, ihn angetrieben haben, dem leichten Pärchen zu folgen. Furcht war es nicht, was ihn zurückhielt. Weil er sich aber nicht verhehlen mochte, daß in den Eindruck, den des braunen Mädchens bedenkliche Schönheit auf ihn gemacht, sich neidische Bitterkeit gegen den schwarzen Wolfgang mische, so fand er sich nicht berufen, zwischen sie und ihre Abenteuer zu treten. Er eilte vielmehr nach dem großmütterlichen Häuschen, so rasch es die dunkle Nacht gestatten wollte, dankte Gott, daß er die Alte schlafend fand, kroch unter seine Decke, betete das kurze, vielsagende Gebet, welches er aus der Kindheit fromm bewahrt, und brachte es wirklich zu einem gesunden, stärkenden Schlummer, aus dem erst die Großmutter ihn zur Morgensuppe emporschütteln mußte. Außer dieser gewöhnlichen Suppe brachte diesmal der Morgen zwei ungewöhnliche Neuigkeiten, die von einer Haustür, von einer Obstgartenumzäunung zur anderen aus gesprächiger Nachbarinnen Mund eiligst durch Liebenau wanderten und so auch die Ohren der Mutter Goksch erreicht hatten, von welcher sie dem staunenden Anton mit seinem Frühstück zugleich aufgetischt wurden.
Die erste meldete, daß der große Samuel zusamt der ganzen Bande bereits vor Sonnenaufgang Liebenau verlassen habe, und daß folglich jene für heute abend angekündigte Aufführung des »keuschen Stiefsohnes« zweifelsohne unterbleiben müsse.
Die zweite, ungleich wichtiger, fast rätselhaft, lautete folgendermaßen: Seine reichsfreiherrliche Gnaden, Baron von Kannabich auf Liebenau, habe gestern abend in einer Anwandlung von tiefem Schmerze und liebevoller Erinnerung an seine unvergeßliche Frau Gemahlin auf einmal das Bedürfnis empfunden, in eigener Person an ihrer Gruft einige höchsteigene Zähren zu vergießen, habe sich demzufolge nach reichlich genossenem Nacht- und Schlaftrunk auf den Kirchhof begeben, jedoch ohne Fackeln, habe vielmehr jede Begleitung entschieden untersagt, um durch nichts in seiner Rührung gestört zu werden. Eine Viertelstunde später, nachdem er dem Kirchhofe zugewandelt, sei aus schwarzer Nacht eine Art von Hilfegeschrei und Jammergebrüll erklungen, welches sogar die Hof- und Dorfwächter sehr übel im ersten Schlafe unterbrochen. Bald jedoch, als man im Schlosse einige Anstalt getroffen, mit Laternen zum Rechten zu sehen, sei der gnädige Herr höchst ungnädig und verstört zurückgekommen, mit der Versicherung, daß es gefährlich spuke und daß ihm sogar ein Geist erschienen. Das Hofgesinde war voller Angst und Schrecken auseinandergestoben. Die Leute vom Schlosse aber hatten – (unter dem Siegel der Verschwiegenheit, welches die Frau Schulmeisterin nur ihren Vertrautesten löste) – letzterer mitgeteilt, ihr Baron habe vom Kirchhofe ein kohlpechbrandrabenschwarzes Pechpflaster heimgebracht und solches sitze so zauberhaft fest auf seiner berühmten Nase, daß es seit Mitternacht bis dato den vereinten Bestrebungen der beiden Baronessen Linz und Miez noch nicht gelungen sei, die väterliche Nase zu befreien. Auch befürchte das ganze Schloß, dieses schändliche Pflaster, wahrscheinlich aus noch schlimmeren Bestandteilen als einfachem Pech zusammengesetzt, werde nur dann weichen, wenn Onkel Nasus darein willige, sämtliche darunter befindliche Haut mit in den Kauf zu geben. Als Linz und Miez diesen Antrag ihm in töchterlicher Zärtlichkeit stellten, wurde er höchst aufgebracht, nannte sie Rabenäser von Kindern und erklärte auf Ehrenwort, lieber wolle er zeitlebens seinen »Gesichtserker« mit Trauertuch austapeziert tragen, als sich schinden und abhäuten lassen wie ein geschossenes Wasserhuhn, und sie möchten sich zum Henker scheren, wenn sie nicht seine Hetzpeitsche zu schmecken Appetit hätten. Auf Erklärungen über Geisterspuk und wie das Pflaster damit zusammenhänge, ließ er sich weiter nicht ein.
Anton malte, während er langsam einen Löffel Suppe nach dem andern und mit jedem zugleich einige Brocken dieser heiteren Morgenmär schlürfte, ein ziemlich klares Bild in seinem Geiste aus von den Vorfällen, die allen übrigen Dorfbewohnern wie Zauberkunde klangen. Die rasche Abreise der Samuelschen Truppe bestätigte ihm aufs neue seinen gestern gefaßten, schier schon wieder verschlafenen Argwohn, daß Genoveva und Golo darauf ausgegangen seien, Onkel Nasus zu schädigen. Er hütete sich aber wohlweislich, die Großmutter in seine Malereien blicken zu lassen, begnügte sich, mehrfach den Kopf zu schütteln und versuchte allen Ernstes, an die gefährliche Schöne gar nicht mehr zu denken.
Was Onkel Nasus betrifft, so hat erst einige Tage nachher ein aus der Nachbarschaft herbeigeholter Wundarzt mit Beihilfe warmen Öles das häßliche Pflaster, wenn auch nicht schmerzlos, doch am Ende glücklich dem Patienten abgestreift, ohne daß der leidende Teil etwas dadurch eingebüßt hätte, wenn wir nicht weniger borstenartiger Haare Erwähnung tun wollen, die auf dem roten Grunde gediehen waren.
Onkel Nasus wurde wieder, der er gewesen. Doch beobachtete er ausdauernd ein brummiges Schweigen über den ganzen Vorfall, duldete auch nicht, daß seine Umgebungen desselben gedachten.
Seine Töchter hörten ihn wohl noch in Augenblicken, wo er sich unbelauscht wähnte, die geheimnisvollen Worte: »Brauner Racker!« wiederholen, doch mit unverkennbar anderem Ausdruck, als die ersten Male, wo er sie mehr zärtlich gelispelt.