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Siebzigstes Kapitel

Anton brachte eine schlaflose Nacht im Dorfgasthause zu. Doch erhob er sich, nachdem er sein ganzes Geschick ernst und ruhig durchdacht, mit vollkommener Resignation vom schlechten Lager und schaute gefaßten Mutes in den göttlichen Frühlingsmorgen hinaus. »Was ist's weiter«, sprach er zu sich selbst, »eine getäuschte Hoffnung mehr! Und habe ich nicht dennoch dabei gewonnen? Meiner armen Mutter letzten Willen habe ich erfüllt, so gut ich vermochte; – denn daß Gräfin Julie abwesend, ist nicht meine Schuld; – und einen Mann, der mir das Leben gab, den ich beinahe haßte, vor dem ich mich fürchtete, habe ich nun kindlich lieb; trage sein Andenken mit mir, wie das eines gutmütigen, gefühlvollen Menschen, den seine Schwäche unglücklich macht, den ich mehr bemitleiden als anklagen darf. Ich kann meinen Vater lieben, ich kann meine Mutter selig preisen, weil sie's überstanden hat, folglich bin ich reicher als ich jemals war; – und für das übrige wird der Vormund weiter sorgen, dem ich mich anvertraute, da ich Liebenau verließ. – Aber Hedwig? Der Weg, den ich jetzt wieder einschlagen muß, führt mich nicht zu ihr. Diesmal hat der Blick einer Sterbenden nicht den Schleier der Zukunft zu durchdringen vermocht; deine Prophezeiung, du arme Mutter, geht keineswegs in Erfüllung, und deines unsteten Sohnes Erbteil bleibt der alte Fluch, der stärker wirkt als dein Segen, als meines Vaters guter Wille.«

Mit ähnlichen Gedanken ging Anton munter durch die Waldungen, ohne recht zu wissen wohin. War es ihm doch gleichgültig. Lag ihm doch nur daran, so schnell wie möglich aus dem Gebiete der gräflichen Besitzungen sich zu entfernen. Er fragte einige Holzleute, die ihm begegneten, wie weit er noch habe? Sie bezeichneten ihm die Grenze, die er binnen einer Viertelstunde erreichen werde, wenn er mäßig fortschreite. Je näher sie rückte, desto dringender wurde seine Besorgnis; eine Angst, die er sich gar nicht zu erklären wußte, schnürte ihm die Brust zusammen; eine Ahnung, als drohe ihm etwas Furchtbares. Er atmete leichter auf, als er am Grenzpfahle stand, der die gräflichen Farben und obenauf eine Tafel trug mit den Worten: Herrschaft Erlenstein. Unter diesem Pfahle machte der Wanderer Halt, ließ die Last von seinen Schultern gleiten und wollte eben am Rande eines grünbewachsenen Grabens sich zur Ruhe niederlassen, als er etwa dreißig Schritt von sich hinter einem Wacholdergesträuch das Gesicht des Grafen Louis hervorblicken sah. Zwischen den Zweigen, von der Frühlingssonne beschienen, flimmerte der Lauf einer Kugelbüchse.

Antons erster Gedanke war, sich hinter den Grenzpfahl zu flüchten, doch augenblicklich verwarf er ihn. Vor einem solchen Gegner fliehe ich nicht, war der nächste Gedanke. Nach jenem Gesträuch gewendet, bot er gleichsam die Brust dar, auf die schon der Büchsenlauf sich richtete.

»Hund, jetzt will ich dir zeigen, wie ich meine Händel ausfechte! –«

Diese Warte vernahm Anton noch ... ein Blitz vom Gewehr ... ein heftiger Schmerz in der Nähe des Herzens ... Nacht um ihn ... und er lag blutend am Boden.

»Du versprachst mir Ruhe, Mutter; gottlob, nun finde ich sie.«

Nachdem er es gemurmelt, verlor er die Besinnung.

*

Als er wieder zu sich kam, stand die Sonne schon ziemlich hoch. Seine Wunde blutete, er fühlte sich unendlich matt, aber dabei fühlte er auch, daß er daran nicht sterben dürfe, wenn ihm Hilfe zuteil werde, ehe es zu spät sei. Doch woher sollte hier die Hilfe kommen? Kein lebendiges Wesen zeigte sich außer den kleinen Waldvöglein, die neugierig um ihn herflatterten und sanfte Klagetöne ausstießen, wie wenn sie Mitleid mit ihm hätten. Der Schmerz, den die Wunde ihm verursachte, wurde mit jeder Minute heftiger, schien aber gering, gegen den Schmerz verglichen, den seine Seele fühlte über des feigen Mörders Tat.

Jeder Versuch, sich aufzurichten, mißlang. Ein Tuch, gegen die Wunde gepreßt, saugte sich an und hemmte die Blutung.

So lag er nun und ergab sich ins Unvermeidliche. Ohne bewußtlos zu sein, verfiel er in jene Apathie der Entsagung, wo jedes Bestreben endet, wo jeder Wunsch erlischt, wo fröstelndes Fieber mit halb wollüstigem Schauer durch alle Glieder rieselt, wo die Außenwelt verschwindet, und im Übergang vom Wachen zum Traume unsere Einbildungskraft tun kann, was ihr beliebt. Diese nun führte an seinem inneren Auge alle Personen vorüber, mit denen er in Berührung gestanden, zeigte ihm Freund und Feind, erweckte ihm Abneigung oder Wehmut, je nachdem die Erscheinungen waren. Sein alter Arzt fand sich, der ihn nach seinem Sturze gepflegt, und untersuchte die Wunde; Adele verband sie mit kunstfertigen Händen; Käthchen labte ihn durch einen Schluck frischen Wassers, wonach seine Zunge lechzte; Amelot trieb Laura mit Schlägen von des Verwundeten Seite; Antoinette, an des Grafen Guido Arm, beugte sich mütterlich über ihn; Adelheid lief vorüber und lachte; Bärbel zeigte ihm jammervoll ihre blutigen Arme, der schwarze Wolfgang riß sie fort; Hedwig blickte hinter jenem Gesträuch hervor, aus dem Louis nach ihm geschossen, und neben ihr stand eine schöne Frau in tiefer Trauer, die Anton nie gesehen, die er aber sogleich als Gräfin Julie erkannte; Theodor steckte das erdfahle Totenantlitz aus einem Grabhügel und rief ihm zu: »Liebenau ist dein!« Die kleinen Vögel um ihn her verwandelten sich in große Krähen, die ihn verfolgten, weil sie ihn für Koko hielten; der indianische Bär brach aus dem Dickicht hervor, seinen Freund zu schützen, doch der wilde Tiger zerriß den Bären; schon hob er eine Tatze, um auch in Antons verwundete Brust die scharfen Krallen zu schlagen, da erschien mit einer Keule bewaffnet der Riese Schkramprl, schmetterte den Tiger zu Boden, kniete neben Anton hin und rief so laut, daß alle krächzenden Krähen entflogen: »Bei den zwei Köpfen meines hoffnungsvollen Sohnes, hier liegt Freund Antoine!«

Anton öffnete die Augen, alle Bilder seiner Fieberphantasie verschwanden; nur Schkramprl blieb in Wirklichkeit neben ihm, denn er war es.

»Mein langer Gönner, von wannen kommt Ihr, mich sterben zu sehen?« fragte der Verwundete mit lächelndem Geflüster.

»Hier handelt sich's nicht darum, woher ich komme, sondern einzig, wie wir Euch fortbringen. Wohin? das weiß ich schon. Heilige Barmherzigkeit, liegt der schönste Reiter hier in seinem Blute wie ein wildes Schwein, und wenn ich nicht vorüberkam, war's vielleicht geschehen um ihn! Allons, Peterl, mache lange Beine, reiß aus, und schnurstracks zurück zum Herrn Förster; ich laß ihn beschwören bei den Geistern aller Ratzen und Mäuse, die ich in seinem Hofe getötet, er soll Knecht und Magd mit einer großen Misttrage herausschicken; und lege Stroh darauf und stiehl ihm ein paar Federkissen aus seinem Bett! Lauf, Peterl, was du kannst; der Herr ist mein bester Freund! – Seht Ihr, wie der Junge fliegt? Die fürstliche Försterei liegt ganz in der Nähe. Und das Pferdeglück! Der Pflasterkasten vom Schützenbataillon, des Försters leiblicher Bruder, ist auf Besuch dort. Es konnte sich gar nicht schöner zusammenpassen. O, Schkramprl ist ein großer Mann, er trifft zu rechter Zeit ein, Tod und Leben liegt in seiner Hand. Gift für die Verbrecher, Balsam für die Tugendhaften. Blickt auf diesen Ranzen, Antoine, Arsenik, um eine ganze Räuberbande an Bauchgrimmen verrecken zu lassen. Soll er schlucken, soll er zappeln, Euer Mörder! Sagt mir, wer Euch angeschossen! Ich finde ihn, und wenn er im tiefsten Mauseloche steckte!«

»Ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, wer es war!« – Diese Lüge stieß Anton mit heftiger Anstrengung aus. Dann ließ er sein Haupt in Schkramprls Schoß zurücksinken, wo er ruhig lag, bis der aus dem Försterhause erbetene Beistand anlangte. Der Förster und dessen Bruder, der Bataillonsarzt, begleiteten die Träger. Unter ihrer Aufsicht wurden die besten Anstalten getroffen, die Wunde jedoch vorher sorgsam besichtigt, ehe man den Leidenden in eine andere Lage brachte. Der Bataillonsarzt, mit jenem scharfen Blick, den eine auf Schlachtfeldern angeübte Sicherheit gewährt, rief lustig aus: »Das nenne ich mir doch eine Kugel, die Lebensart versteht; dringt in der Nähe des Herzens ein, wo sie allerdings einen tüchtigen Preller gegeben und zurück empfangen haben mag, schleicht sich dann zwischen Rippen und Haut bescheiden durch, und als ob sie wüßte, daß sie inwendig nichts zu suchen hat, macht sie sich gleich wieder einen Ausweg ins Freie.«

»Also keine Lebensgefahr, Bruder?« fragte der Förster. »Keine«, war die Antwort. »Sechs Wochen, oder so etwas, unter guter Pflege, das ist alles.«

Und Antons Wunden wurden nach allen Regeln der Kunst verbunden. Dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung.

Schkramprl drang mit flehentlichen Bitten in den Förster, er möge ihm gestatten, als Krankenpfleger so lange im Forsthause zu weilen, bis Herr Antoine wieder auf den Beinen sei. Dabei pries er Antoines Talente und Vorzüge, stellte seine Liebenswürdigkeit in das hellste Licht und wurde nicht müde, von jenen Zeiten zu erzählen, wo sie beide, Antoine und Schkramprl, als Sterne reinsten Lichtes am Himmel der reisenden »Künstlerwelt« glänzten. Der Förster, ein braver, schlichter Waldmensch, der bei all seiner praktischen Tüchtigkeit und inmitten eines abgeschlossenen Lebens heiteren Sinn und fröhliche Frische bewahrte, nahm des närrischen Schwätzers gutmütige Übertreibungen freundlich auf. Er hatte sich schon gestern, wo der wandernde Kammerjäger – denn bis zu diesem »soliden Beruf« war unser Riese erniedrigt worden – ihm seine Dienste angeboten, nicht wenig an ihm erlustigt, hatte auch einen Vertrag mit ihm abgeschlossen, vermöge dessen Herr Schkramprl den vollen Preis für seine »totale Vertilgung sämtlichen hochfürstlichen Ungeziefers« im Forsthause erst dann empfangen solle, wenn nach Ablauf einiger Monate die Prozedur ihre unzweifelhafte Nachwirkung getan habe. Zu diesem Endzweck hatte Schkramprl ja doch bisweilen wieder einsprechen und zum Rechten schauen müssen. Auf einen Esser mehr kommt es in einer großen Landwirtschaft ohnedies nicht an, und der bleiche, männlich duldende, freundlich leidende Anton hatte durch sein stoisches Verhalten bei dem Untersuchen der Wunde wie durch seine bescheidenen, dankbaren Worte den Förster schon für sich gewonnen. Es wurden also gar keine Schwierigkeiten gemacht. Antons Lager bereitete man in einem Dachstübchen neben jenem, das die Jägerburschen bewohnten; Schkramprl erhielt ein Bett bei Anton; Peter wurde ausgesandt, um in der ganzen Nachbarschaft umherzuspüren, wo Mäuse und Ratten zu vertilgen seien, und empfing den Auftrag, Berichte darüber an seinen Herrn abzustatten, der sein Amt als menschenfreundlicher Krankenwärter mit seinem Geschäft als mäusefeindlicher Zauberer zu vereinen hoffte; des Försters Bruder unterwies ihn auf das genaueste in allen Hilfeleistungen, die beim Reinigen und Verbinden der Wunde nötig waren und versprach außerdem, einen Tag um den anderen aus seiner Garnison einen Spazierritt zum Forsthause zu machen, so lange es nötig sei. Der Förster aber setzte sogleich einen Bericht an die Behörde auf, den er seinem Bruder, dem Arzt, zur baldigen Besorgung mitgab.

Gegen Abend stellte sich das heftigste, als unvermeidlich vorherverkündigte Wundfieber ein, gegen das der scheidende Arzt alle zweckmäßigen Vorkehrungen und Milderungsmittel angeordnet hatte, welches also niemand erschreckte. Anton phantasierte heftig und mengte wunderliche Dinge durcheinander, behielt aber dennoch, sogar im exaltiertesten Zustande, Willenskraft übrig, keine Silbe sich entschlüpfen zu lassen, die sein Verhältnis zu der gräflichen Familie auf Erlenstein andeuten konnte. Dagegen ergingen sich seine lebhaften Träume gleichsam lustwandelnd in allen Richtungen des verflossenen Lebens, von Lust zu Gram, von Glück zu Leiden überspringend. Dadurch regte er, weil er die Namen von Personen und Orten im buntesten Wechsel durcheinander warf, den redelustigen Schkramprl auf, mit hineinzuschwatzen, seine eigenen Abenteuer mit den Phantasien des Kranken zu vermischen, ihn an Tollheit zu überbieten. Die Jägerburschen, nur durch eine dünne Wand von ihnen getrennt, wußten zuletzt nicht, wer größeren Unsinn schwatzte, ob der Kranke im Fieber, ob der Wärter, der dem Kranken Lüge über Lüge erzählte.

Gegen Morgen stellte sich Ruhe ein, mit ihr durch sie der Schlaf. Und als die Gerichtspersonen, durch des Försters Rapport entboten, in den Hof einfuhren, erwachte unser Freund zu neuem, klarem Leben.

Jede Gefahr schien beseitigt.

In dem Verhöre, das man mit ihm anstellte, blieb er dabei, daß der Mensch, der nach ihm geschossen, den er nur undeutlich durchs Gebüsch gesehen, ihm fremd sei; daß er ihn durchaus nicht beschreiben oder bezeichnen könne; daß er keine Ahnung habe, welche Absicht dieser Tat zugrunde gelegen; und daß von seinen Habseligkeiten, die er unberührt beim Erwachen neben sich gefunden, nichts fehle. Der Richter, dessen Schreiber, der Förster schüttelten die Köpfe und beruhigten sich endlich bei der Ansicht, es könne wohl ein Raubanfall beabsichtigt, die Ausführung desselben aber durch Dazwischenkunft des Zeugen Schkramprl verhindert worden sein, die den Raubmörder veranlaßt habe, die Flucht zu ergreifen. Diese Meinung fand um so mehr Beifall, da Anton sich wohl hütete, zu sagen, welch eine Frist zwischen Louis' Schuß und Schkramprls Erscheinen gelegen. Das Resultat der Untersuchung lautete auf einen in diesen Gegenden umherschweifenden, höchst gefährlichen, gänzlich unbekannten Bösewicht, für dessen Habhaftwerdung die Forstbeamten außergewöhnliche Mittel anzuwenden, auch sich deshalb mit dem gräflich Erlensteinschen Wirtschaftsamt ins Einvernehmen zu setzen haben würden.

Welchen Erfolg »diese außergewöhnlichen Mittel« samt ihren Patrouillen, Streifereien, nächtlichem Aufgebot umliegender Gemeinden und ähnlichen Unternehmungen erzielten, brauchen wir, als Eingeweihte, nicht erst anzudeuten. Der Täter blieb unentdeckt, wurde bald vergessen, und es redete schon niemand mehr von ihm, als Antons Wunde lange noch nicht geschlossen war.

Schkramprl ging ab und zu, verfolgte meilenweit in der Runde alles, was Maus und Ratte heißt, kehrte treulich zu Anton zurück, benahm sich als Gehilfe des Wundarztes so vorsichtig, exakt und pünktlich, daß dieser, wenn er Zeit fand, selbst zu kommen, dem Riesen alle möglichen Lobsprüche erteilte, ihm sogar einen Platz im Lazarett anbot, welches Anerbieten jedoch schnöde zurückgewiesen wurde, weil eine solche Stelle mit der »persönlichen Freiheit« nicht vereinbar sei. »Als Vagabund bin ich geboren, habe ich gelebt, will ich sterben; auf einem Flecke verbleiben ist meinen Anlagen und Fähigkeiten zuwider; ich würde sogar hier, wo Freundschaft und Kameraderie mich fesseln, nicht aushalten, wenn ich nicht zwischendurch Erlaubnis hätte, meine alten Beine in Bewegung zu setzen und umherzuschnüffeln!«

Dies letztere tat Schkramprl wirklich, und zwar nicht nur um Ratten, sondern auch um Neuigkeiten auszuspüren. Anton ist selbst nicht klar darüber geworden, ob es eigene Neugier gewesen, die den Riesen dazu angetrieben, oder ob das Bedürfnis bei ihm vorwaltete, Neuigkeiten und Klatschereien zu erzählen. Er selbst behauptete das letztere, indem er versicherte, ihm sei es durchaus gleichgültig, zu wissen oder nicht zu wissen, was die Bewohner umliegender Dörfer und Schlösser taten. Ihm liege lediglich daran, bei seiner Heimkehr den Patienten durch lebhaftes Gespräch zu amüsieren; der eigene Lebenslauf und eines Riesen Schicksale wären ausgepreßt wie eine Zitrone, deshalb müßten nun andere Menschen und andere Schicksale an die Reihe!

Anton hörte ihm häufig zu, ohne auf ihn zu hören; während Schkramprls Geschwätz waren Antons Gedanken gewöhnlich bei Hedwig. Der Erzähler, der die Tugend besaß, mit Leib und Seele bei der Sache zu bleiben, achtete nicht darauf, ob man ihn hörte, wenn er nur ununterbrochen reden durfte. Damit war beiden Teilen geholfen.

Anders jedoch gestalteten sich die Dinge, als der »Kammerjäger« von Schloß Erlenstein wiederkehrte, wohin ihn sein in der Nachbarschaft verbreitetes Renommee eine durch Peterl überbrachte Aufforderung hingeführt. Ohne zu ahnen, wie tief sein Zuhörer dadurch berührt wurde, machte er eine traurige Schilderung der dortigen Verhältnisse, mit denen er durch Dienstboten und Landleute bekannt geworden war. Zwischen Vater und Sohn sollten schreckliche Auftritte vorgefallen sein, deren Schuld von sämtlichen Dorfbewohnern auf den Sohn geworfen und dem Vater nur insofern zugeschoben wurde, als er viel zu nachgiebig und gut gegen den bösen Buben wäre. Einzig und allein die Autorität der Gräfin, von der alle und jeder wie von einem Wesen höherer Gattung redeten, wende bis jetzt noch das Äußerste ab; wozu es jedoch beinahe schon gekommen sein sollte, nachdem ein fremder junger Herr während ihrer Abwesenheit auf dem Schlosse beim Grafen war und mit dem Sohne in heftigen Wortwechsel geriet. Seitdem darf der junge Graf des Vaters Zimmer nicht mehr betreten; er treibt sich fluchend und laut lästernd bei den Beamten herum; der Vater ist kränker geworden, so daß man für sein Leben besorgt sein muß; die Mutter, mit himmlischer Sanftmut und Würde, sucht zwischen beiden zu vermitteln; das ganze Hauspersonal ist in verschiedene Parteien zerspalten, die sich wechselseitig auch anfeinden; die Wirtschaft geht drüber und drunter; die Hunde schleichen mit gesenkten Ohren knurrend vor der Schloßtreppe auf und ab; und die Ratzen sind so frech geworden, daß sie in vorvoriger Nacht einem im Stalle schlafenden Roßwärter die große Zehe des rechten Fußes angefressen haben. »Für die Ratten«, fügte Schkramprl hinzu, »habe ich Rat geschafft und ihnen das Beißen einstweilen vertrieben; aber für die Herrschaften weiß ich keinen. Das beste Mittel wäre freilich, wie der Kammerdiener meinte, wenn man dem jungen Herrn auch ein Rattenpülverchen in den Wein rührte. Doch wer mag so etwas riskieren? Es ist untersagt, wie ich gehört habe. Sonst wär's so übel nicht, denn der Patron ist von einer herausfordernden Unverschämtheit. Nannte er mich doch ›Er!‹ Solch ein Bürschchen! Mich, den Riesen Schkramprl! – Ich habe es ihm aber wiedergegeben. ›Monsieur le comte‹, sagte ich, – und was für Augen machte der hohläugige, ausgemergelte Jüngling, weil ein Rattenfänger, ein Kammerjäger ihn Französisch haranguierte, – ›ich bin weder Ihr Stiefelputzer noch Ihr Hausknecht; ich bin ein freier Künstler, den Seine gräflichen Gnaden Dero Herr Vater auf sein Schloß entbieten lassen, weil man es daselbst vor Ungeziefer nicht mehr aushalten konnte. Ich vermag nicht allein Ratten und Mäuse zu vertreiben, ich bin auch Meister einiger anderer Geheimnisse, und wo man mich unwürdig behandelt, verstehe ich Rache zu üben.‹ Ehrlich gesagt, ich dachte mir bei dieser süperben Phrase weiter gar nichts, als ihm einen Schrecken einzujagen, indem ich auf die alte Fabel anspielte, daß die Kammerjäger Gewalt besitzen sollen, Mäuse und Ratten wie eine ägyptische Landplage zu vermehren. Der junge Herr Graf muß es aber anders ausgelegt haben, denn er entfärbte sich siebenmal in einer Minute und ging seiner Wege, ohne mir zu antworten, woraus ich zu schließen geneigt bin, er habe irgend eine Niederträchtigkeit verübt, deren Entdeckung er fürchtet, und von der sein schlechtes Gewissen ihn glauben läßt, ich sei zufällig dahintergekommen.«

»Freund Schkramprl«, sprach Anton, der diesen Vortrag seines gesprächigen Pflegers mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt hatte, »ich bin Euch unendlichen Dank schuldig geworden für die liebevolle Sorgfalt, so Ihr an mich wendet; wollt Ihr aber Eurem Werke die Krone aufsetzen, dann versprecht und gelobet mir, Euch um die Verhältnisse in Schloß Erlenstein weiter nicht zu bekümmern, vorzüglich insofern dieselben jenen jungen Grafen Louis betreffen. Ich, – nun ja, ich will's nicht leugnen, ich kenne ihn; er und ich hatten einstmals in B. eine unsanfte Begegnung miteinander; ich habe gegen ihn gefehlt, und es liegt mir aus wichtigen Gründen sehr viel daran, daß er von mir nichts erfahre; wie ich Euch denn auch ersuche, mir von ihm nichts weiter mitzuteilen. Glaubt mir, es ist um so besser für mich, und ich bitte Euch herzlich, mir diese Gefälligkeit zu erweisen.«

Schkramprl versprach augenblicklich, was von ihm verlangt wurde. Kaum jedoch hatte er Antons Lager verlassen und wieder das Freie erreicht, als er ausrief: »So will ich doch ein Schurke sein und gehängt werden wie ein räudiger Hund, wenn ich dies Versprechen halte! Dahinter steckt mehr, als auf den ersten Blick scheint. Sie kennen sich ... sie waren Feinde ... Antoine kam aus der Richtung von Erlenstein, als ich ihn im Graben fand ... Schkramprl, nimm dich zusammen!«


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