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Einundfünfzigstes Kapitel

Es war ein langer, hochgewölbter Saal. Am Ende desselben brannte vor dem Altarbilde der heiligen Elisabeth die ewige Lampe. Zwei Reihen wohlgehaltener Lagerstätten, jede von der anderen durch den Zwischenraum einiger Fußbreiten getrennt, nahmen die Seitenwände ein. Die Kranken, sorglich gepflegt, mit jeder Bequemlichkeit versehen, von jeder Labung erfrischt, die des Arztes Vorsicht ihnen nur gestatten wollte, schliefen – oder stöhnten, je nachdem ihr Zustand es mit sich brachte. Dienende Schwestern gingen ab und zu, dort Arzneien reichend, hier Trost und freundliche Worte spendend.

Bei Antons Bett saß Schwester Antonina. »Nichts als Erschöpfung, Elend, Gram, Hunger, versichert unser Arzt. Hunger? Du armer Freund!

Er schläft. Mag er schlafen, ich wache für ihn. O, mein Gott, wie gnädig warst du mir!«

Als der Morgen anbrach, schlug Anton die Augen auf.

»Adele!« sprach er, »Adele! Endlich gefunden.«

Und leise wurde ihm geantwortet: »Adele ist gestorben. Ich bin die Schwester Antonina.«

Anton blickte umher in den Räumen, die ihn aufgenommen. Er wußte nicht mehr, wie er hierher kam. Aber er begriff, wo er war. Er begriff, wer ihn von der Straße, wo er hilflos lag, aufgehoben und vor qualvollem Hungertode, vor Wahnsinn geborgen. Doch ebenso begriff er in jenem scharfen Ahnungsvermögen der Seele, welches häufig durch körperliche Leiden, vorzüglich aber in Zuständen ohnmächtigster Ermattung sich bis zum Hellsehen steigert, was mit Adele vorgegangen; erinnerte sich – jetzt erst, wo er wiederum daniederlag! – jener Äußerungen, die sie damals an seinem ersten Krankenlager von der heiligen Jungfrau und von einem Gelübde getan.

Sie war also entwichen, um der Welt und ihm zu entfliehen, hatte sich hier dem Beruf hingegeben, in welchem sie Tröstung suchte für ihres Lebens Weh! Und nun hatte er sie gefunden, nur um zu erfahren, daß er sie für immer verloren, daß Adele Jartour tot sei für ihn.

Dabei jedoch mußte er sich sagen, war er von ihr gefunden worden, um gerettet zu werden.

»Gerettet! Wofür gerettet?« fügte er ungläubig, an sich selbst verzweifelnd, hinzu, »für welchen Endzweck? Was soll ich dem Leben fürder nützen? Was das Leben mir?« –

Sehr langsam, mit äußerster Behutsamkeit durften die Stärkungsmittel angewendet werden, welche diesem durch Ausschweifungen, wildes Leben, Verzweiflung und endlich Mangel und Not an den Rand des Grabes geworfenen Körper die vorige Jugendkraft wiedergeben sollten.

Auch war solch eiserner, unerschütterlicher Wille wie der einer Schwester Antonina nötig, um den flehenden Bitten des Kranken zu widerstehen, wenn er über unersättlichen Hunger klagte und sich, um diesen zu stillen, mit den spärlichsten Gaben zu begnügen hatte. Ein ernster Blick der frommen Pflegerin reichte aber jedesmal hin, sein Murren in dankbares Gebet zu verwandeln.

Und wie eine Prophezeiung wohltuenden Genesens strömte erquickendes Gefühl ihm durch die Adern, sobald er ihren Schwesternamen von anderen aussprechen hörte oder ihn selbst aussprach.

»Antonina! Da sie diesen Namen erwählte, hat sie meiner gedacht!«

In dem Bette zunächst dem seinigen siechte ein junger deutscher Landsmann, ein armer Handwerker, für den der Arzt keine Hoffnung mehr gab; in dem Grade, wie Anton sich der Gesundheit näherte, zehrte sich der dahinsterbende Tischlergeselle sichtlich ab und schwand dem frühzeitigen Ende zu. Sie wechselten bisweilen deutsche Grüße miteinander, Zauberklänge aus heimatlicher Gegend.

Der Tischler, seiner guten, alten Mutter einziges Kind, war ihr davongegangen, »die Welt zu sehen!« In Paris war er in liederliche Gesellschaft geraten und hatte sich, seinem eigenen Ausdruck nach, auf »die schlechte Seite gelegt«. Und auf dieser, setzte er mit bitterem Scherze hinzu, bleibe ich nun liegen, bis sie mich auf den Rücken legen.

Wie sie zum letztenmal miteinander redeten, fragte der Tischler, ob Anton nicht große Sehnsucht empfände nach seiner Mutter.

»Ich habe keine«, erwiderte dieser.

»Wenn ich meine Mutter noch einmal sehen könnte, dann wollte ich gern sterben«, sprach der Tischler.

Sie entschlummerten beide.

In der Nacht wurde Anton aufgeweckt von einem heiseren, durchdringenden Zuruf seines Nachbars: »Herr Landsmann, ich sehe meine Mutter, sie ist bei mir!«

»So ist er wenigstens im Traume glücklich«, flüsterte Anton.

Des Morgens, wie sie ihm Arznei reichen wollten, fanden ihn die verpflegenden Schwestern tot. Er hatte seine Mutter noch einmal gesehen.

Anton blieb einen ganzen Tag ohne Nachbar.

In der darauffolgenden Nacht, gegen Morgen, wurde ein Kranker gebracht. Schwester Antonina trug Sorge, daß er in das leere Bett neben Anton gelegt werde. Sie gab diesem zu verstehen, der neue Ankömmling kenne ihn, habe den Wunsch geäußert, mancherlei Mitteilungen zu machen. Bis jetzt sei er in seiner Wohnung verpflegt worden, nachdem jedoch die fromme Schwester, die ihn daselbst unter ihrer Aufsicht gehabt, die üblen Umgebungen in jenem Hause geschildert, sei der Transport hierher verfügt worden. Leider nur zu spät; denn die nahe bevorstehende Auflösung lasse sich nicht mehr bezweifeln.

Anton war sehr begierig, zu erfahren, welche Mitteilungen das sein könnten; wer derjenige wäre, der ihm sie machen wolle, und woher Antonina vermutete, daß sie ihm gälten.

»Das ist höchst einfach«, antwortete diese. »Ich war selbst in dem jammervollen Gemach, wo er bis heute krank gelegen, um Obacht zu geben auf sein Eigentum, und was er noch etwa besäße, für ihn zu retten. Da fand ich ein Blatt Papier, in großen Schriftzügen mit Bleistift beschrieben. Es sind deutsche Buchstaben darunter, die ich nicht kenne. Doch zwei Wörter mit französischen Lettern sprangen mir ins Auge: ›Anton‹ und ›Liebenau‹. Da ich nun«, sagte sie wehmütig lächelnd, »von meiner Freundin Adele diesen Namen oft nennen hörte, so benützte ich einen lichten Augenblick des Fiebernden, ihn zu befragen. Aus seinem eifrigen Wunsch, denjenigen zu finden, an welchen diese Zuschrift begonnen worden, entnahm ich, daß etwas Wichtiges für Sie daran geknüpft sein könne. Diese Entdeckung veranlaßte mich, den Sterbenden noch hierher schaffen zu lassen, was ich nur mühsam, nur mit Hilfe mächtigen Einflusses durchsetzen konnte.«

»Das Blatt! Um Gottes willen, Adele – Antonina, das Blatt!«

Hier ist es.

»An
einen genannten Anton aus Liebenau in †††, der sich wahrscheinlich noch hier befindet.

Es wird gebeten, nach meinem Tode diese Zeilen – Deutsch und Französisch – öffentlich – – – der Finder erwirbt – – – ( unleserliche Stellen) – – – eines Sterbenden, dessen Schuld – – – genaue Nachricht, – – – Herkunft – Aufenthalt seines Vaters – – – bessere Verhältnisse – – Tod seiner Mutter. Einzige Mitwisserin des Geheimnisses – – Turin oder Pisa – – Donna assoluta«

»Carino? Der Sterbende ist Carino!« rief Anton so laut, daß es in den hohen Hallen des Krankenhauses widerschallte.

Und ein von Leiden entstelltes, totenähnliches Antlitz richtete sich empor:

»Ah, bist du es, mein Knabe? Desto besser. Vor Schluß der Szene, ehe noch der Vorhang niederfällt. Er bedeckt nichts Gutes. – Hast du des ewigen Ritters Gluck ewige Grabschrift gelesen? ›Il préferait les muses aux syrènes!‹ Bei mir hieß es umgekehrt: Il préferait les syrènes aux muses! In Welschland hausen die Sirenen. Ziehe auch gen Welschland! Zum schiefen Turme. Bringe ihr meinen Abschiedsgruß, meine Bitte um Verzeihung. Sie meinte es treu; sie war keine Sirene, sie ist ein Muse! Eine verkannte. Das Große wird immer verkannt, so lange es lebt. Komm', Anton, nimm die Geige; mein alter Oheim, der Pastor, wünscht es auch. Spiele mir ein deutsches Lied – ein deutsches, ehe ich sterbe ... Die Saiten zerschnitten? Nimm meine Geige! Wie, versetzt? Ja, so. Hier ist Gold, löse sie mir ein! Jetzt spiele ... schöner Ton! Sie geht einsammeln mit dem Hute des Bettlers ... Nun laß uns singen – dreistimmig: sie, ich, du: Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus, – Ade – Ade – Ade!«

Und auf dem Lager, worauf der arme deutsche Tischleigeselle gestorben, tat auch der Neffe des ehrlichen Pastors von Liebenau, der vielgereiste Virtuose und Musikdirektor Carino, seinen letzten Atemzug, indem er mit brechender Stimme jene Volksweise sang, die Anton einst ihm vorgespielt.

Sie begruben ihn wie jeden anderen.

*

Antons Wiederherstellung wurde befördert durch dies Ereignis. Mit dem Streben nach einem neuen, wenn auch fernen und ihm fast unerreichbaren Ziele drang frisches Leben in seine jugendlichen Glieder. Schwester Antonina nährte des Jünglings kühne Hoffnungen. Sie zeigte ihm mit allerlei bedeutungsvollen Winken die Möglichkeit im Hintergrunde seiner übrigens so finster umhüllten Zukunft; sie deutete ihm an, daß dieselben mächtigen Hände, welche ihr so rasch und gewaltig zur Erfüllung ihrer frommen Wünsche behilflich gewesen, durch passende Vermittlung in Anspruch genommen, auch seine Zwecke zu fördern bewegt werden könnten.

Wenn sie sich bei diesen schmeichlerischen Verheißungen in Geheimnisse hüllte, so machte das seinen wiedererwachenden Glauben keineswegs schwankend. Denn was Adele sprach, konnte nur Wahrheit sein; ein Dunkel, in welches Antonina sich hüllte, mußte zur Klarheit führen. Er überließ sich ihr! Überließ sich dem Glauben an ihr Herz, der Achtung für ihren Verstand, dem Vertrauen auf Gott, dem Gefühl wiederkehrender Genesung und Jugendkraft. So ausgerüstet hätte er die Stunde seiner Befreiung aus dem Krankenhause gar nicht erwarten können, wäre sie nicht zugleich wie die Stunde ewiger Trennung von Adele vor ihm erschienen.

Als Schwester Antonina ihm verkündigte, daß diese Stunde geschlagen, was Anton, vor Wonne und Schmerz bebend, vernahm, gab sie ihm auf, den Wagen zu besteigen, der draußen seiner harre, und sich in jene kleine Wohnung zu verfügen, wo er sich zuletzt aufgehalten habe und wo jetzt alles für ihn vorbereitet sei. Dort möge er behutsam das Dasein des Gesundeten beginnen, die schönen Nachsommertage zu mäßigen Spaziergängen benützen und sich durch einfache Kost kräftigen. »Für die Mittel haben unbekannte oder doch ungenannte milde Gönner gesorgt. Ihre alten Wirtsleute sind unterrichtet, was Sie bedürfen. Das übrige, wenn wir uns wiedersehen.«

»Sehen wir uns wieder, Adele?«

»Antonina wird mit einer ihrer Schwestern bei Ihnen vorsprechen, um notwendige Anordnungen wegen einer Reise nach Italien zu treffen; einer Reise, die Anton tun muß. Bis dahin adieu! Und verlieren Sie nicht die Geduld, denn es zeigen sich noch mancherlei Schwierigkeiten. Aber wir wollen alle überwinden, – und wir werden es.«


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