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Sechzigstes Kapitel

Am vierundzwanzigsten Dezember gegen zehn Uhr morgens brach Anton auf. Der Abschied von Papa Kästner war kurz, doch herzlich. Adelheid gab ihm die Hand und sagte: »Nichts für ungut, jetzt sind wir gute Leute zusammen.«

»Aber nicht beisammen«, sagte Anton.

Er wanderte von den Bergen der Ebene zu.

Gegen Mittag kehrte er in einem Wirtshause ein, um Speise und Trank zu nehmen, ohne sich aufzuhalten.

Nachmittags schlug das Wetter um, wurde weicher, die Sonne ging in weißlich grauen Wolken unter, die sie scheidend rötete. Schnee fiel in sanften Flocken.

Um fünf Uhr abends gelangte Anton zu einem offenen Städtchen, das fast nur aus einer Gasse bestand.

In allen Häusern und Häuschen sah man Kerzen auf Weihnachtsbäumen.

Er zog abermals weiter. Wo hätte er auch rasten sollen? Für ihn grünte kein Weihnachtsbaum, für ihn brannte keine Kerze.

Ein kurzes Stück Weges hinter dem Landstädtchen erhob sich dicker, dichter Wald, den Waldungen um Liebenau ähnlich: meist Nadelhölzer; alte, schöne Bäume, von Schnee und Eiszapfen geziert.

Der Himmel wurde wieder blau, die Luft rein; die Sterne blitzten und glänzten; die Eiszapfen an den Bäumen flimmerten.

Der ganze große Wald trug ein weißes Kleid.

Alles war still und feierlich.

»Bis zehn Uhr«, sagte Anton, »gehe ich langsam durch den Wald; es ist zu schön.«

Er ging lächelnd, wehmütig froh gestimmt, ohne zu wissen, warum er froh sei.

Ihm war ums Herz, als ginge er seinem Glücke zu.

Mitten im Walde lag eines Forstwärters Wohnung; eine hölzerne, einfache Hütte, doch fest gebaut.

Anton guckte durchs Fenster ins Gemach. Auf dem Herde loderten Kienspäne. Mitten im Zimmer, um den grob gezimmerten Tisch, saßen drei schlafende Kinder, ihre Köpfe auf die Tafel gelegt.

Auf dem Tische stand ein Tannenbaum mit herabgebrannten dünnen Kerzchen.

Die Mutter, beim Spinnrad vor dem Herde, ließ auch schlummernd ihr Haupt sinken. Das Rad stand still.

Der Waldbelaufer saß nicht fern vom Fenster und blies dicke Rauchwolken aus einer kurzen hölzernen Tabakpfeife.

Sein brauner Hund stand neben ihm, die Schnauze auf des Mannes Knie gelegt.

Man hörte deutlich den Schlag der verräucherten Wanduhr.

Da war es unserem Anton, wie wenn die selige Mutter Goksch hinter ihm spräche:

»Heute vor dreiundzwanzig Jahren bist du zur Welt gekommen.«

In diesem Augenblicke knurrte der Hund; die Frau erwachte; der Mann fuhr aus seinen Träumen auf; Anton klopfte ans Fenster und bat, sie möchten ihm erlauben, diese Nacht bei ihnen zuzubringen.

Die arme Frau öffnete ihm sogleich die Tür.

Er trat hinein.

»Gelobt sei Jesus Christus«, sprach die Frau.

Die drei Kinder hoben schlaftrunken ihre blonden Lockenköpfe und sagten wie aus einem Munde: »In Ewigkeit!«


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