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Neunundsiebzigstes Kapitel

Die Ernte hatte begonnen. Anton ritt von einem Vorwerk, von einem Felde zum anderen, seine Arbeiter zu begrüßen und sich von den Mägden der »Hofegärtner« »binden« zu lassen; der alten guten Sitte getreu, nach welcher bei Eröffnung der Erntezeit der Gutsherr, sobald er sich draußen zum erstenmal blicken ließ, mit bunten Bändern um den Arm geschmückt wurde, wofür er natürlich ein reichliches Geschenk zu spenden nicht versäumen durfte.

Die »Hofegärtner« von Liebenau und den dazu gehörigen Wirtschaftshöfen wollten von der ihnen freigestellten Ablösung der sogenannten Robotpflichtigkeit durchaus keinen Gebrauch machen. Sie fanden es ihrem Vorteile angemessener, des Gutsherrn Fruchtfelder zu mähen, die Garben zu binden im Schweiße ihres Angesichts und dafür »den Zehnten«, den ihnen gebührenden Arbeitslohn, in Empfang zu nehmen, als nachzuahmen, was viele Gemeinden in der Nachbarschaft bereits getan hatten. Der alte Vormäher vom Oberhofe ließ sich darüber etwa so aus:

»Ist's nicht gescheiter, wir tragen Glück und Unglück, gute Jahre und Mißwachs zu gleichen Teilen mit dem Dominium, statt daß wir Tagelöhner vorstellen und uns in Gelde bezahlen lassen? Jetzt kommt der Herr, oder meinetwegen der Verwalter, und fragen, was meint ihr, Leute, wollen wir hauen oder warten wir noch? Oder wo fangen wir heuer an? Oder was meint ihr vom Wetter? Wird's heimlich bleiben? Nu ja, warum sollen sie uns nicht fragen; es ist ja unser eigener Vorteil, wenn's gut geht, und wir bringen das bissel Gottessegen trocken unter Dach. Ich arbeite doch lieber, wenn ich für mich mit arbeite. So ein Tagelöhner fragt den Kuckuck danach, was verdirbt oder nicht. Und seinen Lohn versauft er und im Winter hat er nichts zu fressen.«

Deshalb hatten sich die Liebenauer noch nicht von ihren Hofediensten abgelöst und bewahrten noch ein letztes Restchen patriarchalischer Überlieferung in ihren Hütten, auf ihren Feldern, in ihren Herzen.

Anton plauderte mit ihnen, herzlich und vertraulich.

Der eine nannte ihn Herr Goksch, der andere Hahn, ein drittel Musje Anton, und ein altes Gärtnerweib Gärtner wurden in jenen Gegenden alle ländlichen Hausbesitzer genannt, die nicht wirkliche Bauern waren. Sie wurden in Frei- und Hofegärtner geteilt. redete ihn gar »Gestrenger Herr Korbmacher von Ober-Liebenau« an, worüber er so heftig lachte, daß alle Mädel mit zu lachen anfingen und fünf Minuten lang keine Hand anlegten, bis der Vormäher fragte: »Habt ihr nu bald ausgekichert, ihr dummen Frauvölker?«

Anton sah einen Seitenweg längs dem frischgemähten Stoppelfelde, den man, so lange die Frucht stand, nicht bemerkt hatte, und fragte, wohin dieser führe.

»Über die Wiesen auf die Landstraße nach Polen!« lautete die Antwort.

»Behüt' euch Gott, ihr Leute!« rief er aus, trieb sein Pferd an und flog diesen Weg entlang. In einer halben Stunde war der Graben erreicht, den er einst überspringen mußte, als er den Fußpfad vom Eichberg herab die große Straße suchte, um bei schlechtem Novemberwetter auf Reisen zu gehen. Heute, am schönsten Erntetage, quälten ihn nur Hitze und Staub, den seines Rosses Galopp aufjagte. Doch das hinderte ihn nicht, dem Wirtshause zuzusprengen, in dem er damals seine erste Rast gehalten hatte. Eine krankhafte Ungeduld bemächtigte sich seiner, noch einmal auf der Bank am Ofen zu sitzen, auf welcher ihm der Milchkaffee so gut behagt, den er mit Koko teilte; die Wirtin wiederzusehen, die ihm verstohlen seine Locken gestreichelt; sich in den Anblick jenes Gastzimmers zu versenken, das in seiner Erinnerung vom Rosenschimmer süßester Jugendpoesie strahlte. Er vergaß in fieberhafter, kindlicher Freude, daß sie zu Hause mit dem Essen auf ihn warten, daß Hedwig in Besorgnis geraten, alles im Schlosse unruhig werden könne. Er jagte wie rasend durch Mittagshitze und Staubwolken dem Ziele seiner Phantasie entgegen.

Da ist das Dorf erreicht. Dort liegt das ersehnte Haus. Er muß mit voller Gewalt sein Pferd zurückhalten, um die halbnackten Kinder nicht zu überreiten, die vor der Tür, dicht an der Straße, ein Luft- und Sandbad genießen. Dem Hausknecht, der soeben die Pferde vor einem Frachtwagen tränkte, wirft er seines Tieres Zügel zu, schärft ihm ein, es langsam auf und ab zu führen, damit es sich gehörig abkühle, und eilt dann in die Schenke.

Das große, düstere Gemach ist leer und still. Nur Millionen von Fliegen summen ihr eintöniges Klagelied.

Anton wirft sich auf die Bank hinter dem Ofen, eine Wehmut kommt über ihn, die ihm unerklärlich ist, die er dennoch nicht bewältigen kann, und kaum vermag er die Tränen zurückzuhalten, die ihm das Herz schwellen.

Die Wirtin tritt ein. O, wie ist sie alt geworden, wie häßlich, wie nachlässig in ihrer Kleidung. Es sind ihre sechs Kinder, die draußen im Staube des Weges spielen. Sie hat vom Hausknecht gehört, daß ein fremder Herr zu Pferde gekommen, bei ihr eingekehrt. Sie fragt, womit sie ihm dienen könne. Anton bittet sich einen Kaffee aus. Die Wirtin stutzt; sie entschuldigt sich, daß es langsam damit gehen werde, weil das Mittagsmahl längst vorüber und kein Feuer auf dem Herde brennt. Anton erklärt, er wolle gern warten und hier weilen. Die Frau sieht ihn mehrmals fragend an und geht sinnend hinaus, dreht sich aber in der Tür noch einmal nach ihrem rätselhaften Gaste um.

Wie sie in ihrer Vorratskammer Kaffee und Zucker zusammensucht, erblickt sie durchs Fenster einen wandernden Scherenschleifer, der, von Schweiß triefend, auf seiner Karre sitzend, mit dem Hausknecht Worte wechselt über das Pferd, das dieser herumführt, und sie hört deutlich, wie der Schleifer sagt: »Dem gnädigen Herrn von Liebenau drüben; ich habe ihn vorgestern selbst darauf reiten sehen.« –

»Hm, wie kommt der zu uns? Da muß ich schon ein Lot Kaffee mehr nehmen, daß er stark wird!«

Anton ist bereits aus Wehmut in unruhige Aufregung übergegangen. Er durchläuft die Schenkstube, wie im Kampfe mit seinen widerstrebenden, sich selbst widersprechenden Empfindungen. Zum erstenmal, seitdem er Hedwig Gattin nennt, will sich ein Zweifel bei ihm geltend machen, ob er recht getan, sich zu verheiraten; ob sein ganzes Wesen überhaupt für den notwendigen Zwang des Ehestandes passe; ob er nicht gar durch sein Vagabundenleben für häusliches Glück, für friedliche Ruhe verdorben sei; ebenso unfähig dabei auszuharren, wie der Riese Schkramprl, der unmittelbar nach des Rittmeisters Tode wieder den Ranzen auf den Rücken nahm. Und der Anblick dieser Schenkstube führt ihn der Vergangenheit zu, die er jetzt noch in seinem Gedächtnis mit so lebhaften Farben erblickt, als ob sie Gegenwart wäre. Er besteigt noch einmal den Wagen des Fleischhauers, er tritt in die Menagerie der Simonelli, er sieht Laura, er liebt sie; ... er sucht neue Abenteuer; als wohlhabender Reisender, nicht mehr als armer Vagabund, zieht er durch die Welt, knüpft andere Bekanntschaften, genießt jetzt erst sein Leben! ... Er vergißt, welch heilige, welch süße Bande ihn an seine Heimat fesseln, er verrät in diesem Augenblicke schon seine Frau, indem er ihrer nicht gedenkt. –

Die Wirtin bringt den bestellten Kaffee. Der gnädige Herr soll verzeihen, daß es so lange dauerte, bis er bedient wurde!

»Kennt Ihr mich, gute Frau?«

»Ei freilich, Sie sind der gnädige Herr von Liebenau.«

»Und wo habt Ihr mich kennen gelernt?«

»Der Schleifer hat's dem Hausknecht gesagt, sonst wüßte ich's nicht.«

»Und Ihr selbst habt mich niemals gesehen?«

»Bin mein Leben nicht nach Liebenau gekommen.«

»Besinnt Euch nicht auf mich?«

»Es ist mir wohl so, – gleich, wie ich den Herrn habe hinter dem Ofen sitzen sehen, hatte ich einen Gedanken, es könnte einer sein, – unmöglich!«

»Was für einer?«

»Nu, halt einer, der vor vielen Jahren einmal hier durchwanderte. Ein hübsches, junges Blut. Habe oft an ihn gedacht.«

»Mit einem Papagei auf dem Rücken?«

»Weiß Gott, der Herr weiß es! Sollte doch ... ja, meiner Seele, es ist die nämliche Person – – so seid Ihr nicht der Herr von Liebenau? So seid Ihr mein armer, hübscher Wanderbursch, an den ich so oft gedacht habe!? Nein, was doch alles auf Erden vorgeht, 's ist entsetzlich! Muß ich Euch noch wiedersehen! Freilich, dazumal war ich eine leidliche Frau, noch nicht lange unter der Haube. Jetzt bin ich ein altes Weib geworden, das machen die vielen Kinder, die schwere Arbeit. Aber Ihr seid desto schöner, nur ein bissel blaß im Angesicht, aber das läßt vornehm. Und zu Pferde seid Ihr gar! Treibt Ihr Euch noch immer so herum?«

»Nein, nicht mehr, das hat ein Ende, ich bin verheiratet.«

»O weh, da habt Ihr also Euer Kreuz auch schon auf dem Rücken. Da heißt's – Gute Nacht, Freiheit! Und noch so jung ... Na, Gott gnade der armen Frau!«

Anton sagte ein Lebewohl und wollte fort. Zu rechter Zeit fiel ihm ein, daß er den Kaffee nicht bezahlt habe. Er kehrte um.

»Ihr habt ihn ja nicht einmal gekostet.«

»Gleichviel, habe ich ihn doch bestellt und Euch die Mühe gemacht, wir müssen rechnen!«

»Ja, Herr, das müssen wir! Wartet nur.«

Die Wirtin entfernte sich.

Anton verwünschte, daß er sich zu erkennen gegeben und dadurch ein Gespräch herbeigeführt habe, das den Sturm seines Innern vermehrte. Er wollte um jeden Preis die unheimliche Schenkstube verlassen und der Wirtin, ohne ihr langweilige Berechnung abzuwarten, ein paar Taler auf den Tisch werfen! – Siehe da, seine Taschen fanden sich leer, die Feldarbeiter hatten alles empfangen, was er bei sich getragen.

»So muß ich mich mit meiner Uhr auslösen«, rief er, und begab sich hinaus, die Wirtin aufzusuchen; diese trat im Hausflur ihm entgegen und reichte ihm ein schweres Ledersäckchen hin. Auf den ersten Blick erkannte er die kleine Reisekasse, die er aus seiner Großmutter Verlassenschaft zusammengestellt und hier vergessen hatte; deren Verlust ihn zum Diener in einer Menagerie gemacht, folglich seinem Lebenslauf die erste, entscheidende Richtung gegeben.

»Wir haben die Münzsorten auseinandergeklaubt, gezählt und berechnet, Gold wie Silber, mein Mann und ich. Es ist alles aufgeschrieben auf dem Zettelchen, wie viel darin steckt, und macht neununddreißig Taler dreizehn Groschen. Ihr werdet's finden bei Heller und Pfennig. Es war wohl eine harte Versuchung, denn manchmal geht's hier schmal zu, wenn keine Einkehr ist und kein Verdienst; vollends jetzt, seitdem sie drüben eine Chaussee gebaut haben und alles Fuhrwerk drüben geht. Aber ich bin standhaft geblieben, und hier habt Ihr Euer Eigentum.«

Anton bestieg sein Pferd. Dann gab er dem alten gebeugten Hausknecht, der es gehalten, einen harten Taler. Den ledernen Beutel aber samt seinem Inhalt warf er den spielenden Kindern zu. »Kauft eurer Mutter einen Jahrmarkt«, sprach er.

»Herr, Herr, was tut Ihr?« – –

Er war längst hinter einer Staubwolke verschwunden.


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