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Dreißigstes Kapitel

Die Linden standen in vollster Blüte. – Doch meine ich diesmal nicht jene Linden zu Liebenau, in deren Dufte vor zwei Jahren unsere Erzählung begann. Es sind die Linden der Residenz, von denen ich rede, unter denen, in Staubwolken gehüllt, Scharen schaulustiger Städter nach dem Zirkus des Herrn Guillaume wandern, woselbst heute, den an vielen Baumstämmen klebenden Anschlagzetteln zufolge, »Herr Antoine aus Paris« zum erstenmal auftreten und sich »zu Pferd als Virtuose mit einem Violinsolo produzieren« soll.

Vor der Kasse war der Andrang ziemlich stark. Bekannte grüßten sich und tauschten im voraus Mutmaßungen über den Debütanten. »Ob er jung ist?« fragte eine ältere Dame. »Zu wünschen wäre es«, erwiderte eine noch ältere, »daß Herr Guillaume daran dächte, seine Truppe aufzufrischen. Seine besseren Reiter sind sämtlich über die Jahre hinaus, und seine jüngeren sind Kinder.« »Dieser Antoine kommt aus Paris?« äußerte eine dritte; »nous verrons!«

Ehe wir ihn selbst erscheinen lassen, müssen wir doch erfahren, was mit ihm geschah, seitdem wir uns von ihm und Laura in M. getrennt haben.

Sie hatten Guillaume bald in D. erreicht, wo er »brillante Geschäfte« machte und in bester Laune lebte. Anton wurde freundlich empfangen, und als er mit seinem Plane herausrückte, dem er durch Violinbegleitung melodramatische Wirkung einhauchte, ging der Direktor gern darauf ein, doch konnte er die Bemerkung nicht unterdrücken, daß der junge Herr nicht so rasch zum Ziele gelangen werde, als er sich's einbilde. »Ihr seid wohl jung, mein lieber Antoine«, sprach er, »doch seid Ihr eben ein junger Mann, kein Knabe mehr. In Eurem Alter, bei Eurer Größe, bei Eurer Kraft, Eigenschaften, die Euch trefflich zustatten kommen, ein guter Stallmeister zu werden, dürfte es Euch schwer genug fallen, als Kunstreiter nachzuholen, was unsere kleinen Jungen im zehnten Jahre spielend machen. Doch Wille und Mut besiegen diese Schwierigkeiten, und ich nehme Euch als Eleven an. Auch will ich eine Ausnahme mit Euch machen, Ihr sollt nur drei Jahre lang Eleve sein. Während dieser Zeit erhaltet Ihr nichts mehr von mir als Unterricht, Kost und Kleidung; – für die beiden letzteren Artikel wird Madame Amelot Sorge tragen, nach allem, was ich höre«, fügte er lächelnd bei. »Ihr habt Euch aber, gleich allen übrigen Lehrburschen, jedem Befehle zu fügen und mitzumachen, was verlangt und angeordnet wird. Auf Gage dürft Ihr erst nach Ablauf des zweiten Jahres rechnen, und dies nur dann, wenn Ihr alle Erwartungen übertrefft.«

Anton sah sich durch diese Grundzüge des Vertrages in seinen eitlen Erwartungen gar sehr getäuscht, doch ging er ihn ein, ohne zu zeigen, wie schwer ihm dies wurde. Was auch hätte er tun sollen? Ein Rückschritt war in seinen Verhältnissen schon Lauras wegen nicht möglich. Er murmelte nur, während er seinen (?!) Namen unterschrieb: »Aller Anfang ist halt schwer!« Und sich zu Laura wendend, sagte er ihr leise: »Jetzt hast du einen Lehrjungen zum Liebhaber!« Worauf diese mit der lieblichsten Frivolität erwiderte: »Das bemerke ich bisweilen; doch ohne Sorgen, wir wollen schon einen Meister aus ihm machen!«

Das erste, was diese in derlei Treiben und Verkehr eingeweihte Dame veranlaßte, war, natürlich von ihrem Gelde, – der Ankauf eines guten, sicheren Pferdes, auf welchem der Scholar, als auf seinem ausschließlichen Eigentum, üben könne, wann und so oft er wolle, mit welchem er sich gleichsam einlebe.

Der Furioso besaß ein solches, um so passender für Anton, den Anfänger, als es jenem zu seinen eigenen Rasereien nicht wild und feurig genug erschien. Er gab es auch willig und billig her, und Anton begann seine Studien.

Nachdem er nur die notwendigsten Andeutungen für die ersten Hand- und Kunstgriffe durch Guillaume erhalten und so viel Routine gewonnen hatte, fest auf dem Sattel zu stehen, während sein Fuchs galoppierte, begab er sich an jedem Morgen, lange bevor die gewöhnlichen Übungsstunden der jüngeren Mitglieder schlugen, allein nach der Manege, wo ein von ihm bezahlter, im Dienste eingeübter Garçon bereit war, die Peitsche des Stallmeisters zu führen. Nicht selten fand auch Laura sich ein, den entschlossenen, nie verzagten Liebling durch ihren Zuruf immer feuriger anspornend oder ihn tadelnd, sobald er im Eifer die graziöse Haltung verlor, die sie ihm als Hauptbedingung der Schule und als höchstes zu erreichendes Ziel aufgestellt hatte. Häufig fiel er vom Pferde, doch jedesmal so glücklich oder so geschickt, daß er keinen Schaden nahm. Leichte Kontusionen, an denen es nicht fehlte, wußte Laura bald zu heilen. In dem Grade, wie seine Fertigkeit stieg, wuchs ihre Leidenschaft für ihn. Sie war ungeduldiger auf sein erstes öffentliches Erscheinen, als er selbst es je sein konnte; dabei aber wiederholte sie täglich, er dürfe nicht auftreten, bis er seiner Sache sicher wäre.

Ihr beiderseitiges Verhältnis zu den übrigen Mitgliedern war ein höflich kaltes. Sie kamen mit jenen wenig in Berührung. Madame Adelaide hatte zurzeit nur Augen für – es ist schrecklich zu sagen – ihren Bajazzo, der allerdings, wenn die entwürdigenden Flecken seiner Narrenschminke abgewaschen, ein hübscher Mann und in jeder Beziehung zuverlässig genannt werden durfte. Die übrigen Weiber oder Mädchen der Truppe hüteten sich wohl, mit einer Schönheit wie Laura auch nur scheinbar in die Schranken zu treten, und Adele Jartour, die zu solchem Wagestück berechtigt gewesen wäre, ging dem jungen Zögling entweder aus dem Wege oder zeigte sich durchaus gleichgültig. Die Männer jedoch vermieden, der Direktor nicht ausgenommen, Antons Umgang deshalb, weil sie den Anfänger als ihresgleichen nicht anerkennen und ihn doch auch als einen Lehrjungen nicht behandeln wollten; teils wegen seines Verhältnisses zu Madame Amelot, teils in Anbetracht seines anständigen Benehmens.

Diese Zurückgezogenheit hatte für ihn den Vorteil, daß er nicht genötigt wurde, rohe und gemeine Genossenschaft zu hegen. Er las viel, auch mit Laura, die er so weit brachte, sogar deutsche Bücher zu versuchen.

Guillaume schonte ihn möglichst, ließ ihn vom Paradereiten frei, sowie vom Dienst bei Auflockerung der Reitbahn. Dagegen ergriff Anton selbst mit Eifer jede Gelegenheit, sich bei Spektakeldarstellungen zu beteiligen, wobei er im dicksten Pulverdampf lustig um sich her schlug, Barrieren sprang und sich, wenn auch durch Tracht, Bart und Schminke unkenntlich, als tapferster Gesell bewährte. Auch die Voltige unterließ er niemals mitzumachen und machte sie bewundernswürdig leicht, daß er nicht weit hinter Bajazzo, dem Hauptvoltigeur, zurückblieb.

Die Monate vergingen schnell genug.

Als D. bis auf den Grund erschöpft war, wand sich der Knäuel der Zentauren nach St., und endlich erschallten ihre Fanfaren in der Residenz, woselbst der große Tag anbrechen sollte, an welchem unser Held, – nicht mehr künstlich entstellt und seine Persönlichkeit verleugnend, – vielmehr im ganzen Zauber derselben vor dem Publikum erscheinen darf, um in doppelter Eigenschaft, als Reiter und Virtuose, Augen, Ohren, wer weiß, ob nicht auch Herzen zu gewinnen.

Ich muß nur den Leser bitten, zu erwägen, daß eine Reihe von dreißig Jahren verflossen ist, seitdem sich begab, was ich zu erzählen versuchte. Heutzutage, wo dreijährige Kinder als Reiter und vierjährige als Tonkünstler erscheinen, dürfte es nur unbedeutendes Aufsehen machen, wenn zwei Pferde ein Fortepiano trügen, das dritte einen Wunderbalg, der auf dem Fortepiano mit allen vieren spielte, während die drei Rosse auf allen vieren liefen. Ja, es ist möglich, unser blasierte Zuschauerschaft wäre damit noch nicht zufrieden, weil ihr die Pferde zu langsam laufen, im Vergleich mit dem Dampfwagen.

Damals waren die Ansprüche noch bescheidener.

Anton erschien in dem spanischen Kostüm, so einfach, daß man genau acht geben mußte, um an der Gediegenheit der Stoffe den Wert derselben zu erkennen. Wie er nur in den Zirkus trat und seine Verbeugung machte, die gewöhnlich im weichen, aufgewühlten Boden schlecht gelingt, die ihm aber durch Laura besonders sorgfältig einstudiert war, ging ein »Ah!« des Wohlgefallens durch alle Räume. Er schwang sich keck aufs Pferd, so zwar, daß er gleich zu stehen kam, ließ sich die Violine reichen, gab der Kapelle einen Wink, das Musikstück begann, der Fuchs ging in richtigem Tempo. Laura hatte sich aufs Orchester gezogen; ihr sonst so frisches, blühendes Gesicht schaute leichenblaß, wie vor des Tigers Käfig, zwischen Trompete und Baß-Posaune hernieder. Als Anton sie erblickte, mußte er an die Menagerie denken; an Brandipus ursinus, den verbrannten Indianer, an Apfel und Sonnenschirm, ... diese Bilder, und in ihrem Gefolge noch unzählige andere zogen vor seines Rosses Kopfe daher; ein Schwindel überfiel ihn, er verlor den Haltepunkt, er wankte, noch ein Haar breit, und er fiel! Da vernahm er durch Trompeten- und Posaunengeschmetter ein lautes: »Courage, mon ami!« – und er hielt sich. Nicht vergebens hatte Lauras Kennerblick seine Haltung geregelt, hatte sie ihm eine Reihe edler Stellungen einstudiert, wie sie solche als junges Mädchen bei Franconis und Astleys besten Mitgliedern gesehen. In dem Verfolge dieser Stellungen lag Berechnung und Zusammenhang. Während Anton mit der Rechten den Bogen, mit der Linken die Violine hielt, nahm er abwechselnd bald mit einem, bald mit dem anderen Fuße die Spitze des Sattels, wobei der Oberkörper sich in den zierlichsten Wendungen nach dieser oder jener Seite neigte, ohne doch jemals die männliche Kraft aufzugeben. Jede neu veränderte Stellung wollte immer nur für einen Versuch gelten, den richtigeren und bequemeren Platz zu erringen, der für das Geigenspiel passend sei. Man konnte nichts Anmutigeres sehen, als dieses Spiel mit dem Spiele, dieses Ringen nach einem Nichts. Von Verzagtheit des Schülers blieb keine Spur.

Die Kunstreiter, groß und klein, zusammengedrängt bei der Tür, welche zu den Pferdeställen führt, konnten nicht umhin seinen Mut zu loben, und der Furioso, den schwarzen Bart streichelnd, sagte laut genug, damit die zunächst sitzenden Zuschauer es vernehmen vermochten: »Bei all dem hat der Bursche Aplomb und Geschick; ich hätte ihm das nicht zugetraut!«

Nun verstummte die Introduktion des Orchesters. Anton stand nun unbeweglich wie eine Bildsäule, Geige und Bogen bereit haltend, um eben zu beginnen. Der Fuchs durchlief einmal ohne Musik den Zirkus. Im ganzen Raume herrschte die Stille der Erwartung. Schon beim ersten Strich zeigte sich, daß der junge Mann seiner Sache gewiß sei. Der Ton klang rein und voll, und ob es gleich eine getragene Melodie war, die er spielte, bemerkte man durchaus keine störende Wirkung durch die Bewegung des Pferdes hervorgebracht.

Der Beifall, der sich während des zarten Musikstückes zurückgehalten, brach am Schlusse desselben mit desto stärkerer Kraft hervor; der Debütant wurde sozusagen davon überschüttet, ja, selbst vornehme Damen bewegten ihre schönen Hände. Als er den Schauplatz verließ, beglückwünschten ihn sämtliche Mitglieder der Truppe, und wie er wahrzunehmen wähnte, mit Herzlichkeit. Nur Adele Jartour, ihm die liebste von allen, wegen ihrer düsteren und doch milden Zurückgezogenheit, blieb auch heute konsequent und hielt sich fern von ihm, was ihn beinahe schmerzte. Als sie ihn auf seine Garderobe zueilen sah, wandte sie den Rücken, sich in die ihrige zu verlieren. Sonderbar, sagte er beim Umkleiden zu sich selbst, dies Mädchen ist nicht mehr gar jung; auch schön ist sie nicht, mit Laura verglichen wenigstens nicht, dennoch übt sie auf mich einen geheimnisvollen Reiz. Je abstoßender sie sich gegen mich benimmt, desto mehr fühle ich mich zu ihr hingezogen. Trüg' ich nicht süße Bande – diese könnte mir gefährlich werden. Aber was hat sie gegen mich? sie vermeidet mich recht absichtlich. Ich bin so artig und aufmerksam für sie, wie sonst keiner. Und sie ... ich muß sie doch einmal ganz ehrlich fragen, was ich ihr zuleide getan. Draußen fing der Lärm der Musik wieder an. Die große Pauke dröhnte durch die hölzernen Wände. Andere trieben ihre Künste.

Anton hatte seinen Spanier an den Nagel gehängt. Er saß wie träumend davor, schaute den Putz an, als ob er staunen müßte, daß er solche Tracht getragen, und seine anderen Kleidungsstücke in Händen haltend, zögerte er noch, dieselben wieder anzulegen. Das geräuschvolle Toben aus dem Zirkus kontrastierte so wunderlich mit der leeren Ankleidekammer, die selten und nur ausnahmsweise für einen allein offen stand. Er betrachtete sein Kostüm, wie das eines Fremden: Bin ich es denn, der also aufgeputzt vor Tausenden jetzt eben sein Probestück ablegte? – Mein Gott, wenn sie das zu Hause wüßten! – Oder wenn die Großmutter das erlebt hätte? – Und das würde Ottilie ...

Die Garderobentür knarrte. Anton vermutete, Laura eintreten zu sehen. Er sah Madame Adelaide.

Erst jetzt, aus seiner träumerischen Zerstreuung aufgeweckt, bemerkte er, daß er, ohne es zu wissen, seine bürgerliche Kleidung noch nicht angelegt.

»Bravo, Antoine«, rief die Eintretende, die nicht im mindesten über den befremdenden Anblick erstaunt und noch weniger durch denselben erschreckt schien. »Bravo, mein Junge, du versprichst!«

»Und was er verspricht, pflegt er zu halten, deshalb ziemt es sich, mit Versprechungen sparsam zu sein. Nicht wahr, mein Freund?« Mit diesen Worten hatte sich Laura zwischen die Direktrice und ihn gepflanzt, ehe die letztere den Eintritt der Gegnerin geahnt.

»Madame«, fuhr die Amelot fort, »wenn mich nicht alles täuscht, kommt die Reihe, sowie diese Nummer vorbei ist, an Sie. Für den Augenblick arbeitet Bajazzo auf der Leiter, und er wird trostlos werden, wenn Sie ihn nicht bewundern.«

»Merci, ma chère!« entgegnete die junonische Dame, die mit einem zornsprühenden Blick auf beide das Kämmerlein verließ.

Madame Laura höhnte laut lachend hinter ihr her. »Jetzt, mein Kleiner, ziehe dich an und laß uns gehen, übrigens wirst du nie mehr mit diesem Weibe reden! Nie mehr.«

Anton besaß von nun an eine erklärte Feindin an der Frau seines Prinzipals.


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