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Madame Laura Amelot scheint denn doch keine gewöhnliche Frau zu sein. Nachdem die Eifersucht ausgetobt, hat sie wieder weibliche Fassung und Würde gewonnen. Sie benimmt sich, als wäre zwischen Anton und ihr weiter nichts vorgefallen, und er weiß abermals nicht, woran er ist. Wir finden sie auf der Reise durch einige kleinere Städte, in welchen ihr Weilen von ganz kurzer Dauer ist, und holen sie, nach Verlauf eines Monats etwa, in K. ein, wo sie sich des breiteren festgesetzt haben, ohne daß im Verhältnis der Liebenden irgend ein bemerkenswerter äußerlicher Wechsel eingetreten wäre, wobei allerdings nicht zu verhehlen, daß sich Anton innerlich bedeutend verändert hat. Seine Träume sind Wünsche geworden, seine Wünsche Begierden. Sie waren einige Tage hindurch Hoffnungen. Diesen letzteren hat Lauras Zurückhaltung die Flügel gestutzt, und nun kriechen sie, ohne Aufschwung, fast erbittert am Boden umher, wo ihr Anblick ihm die Heiterkeit raubt. Er fühlt sich wieder Diener, nachdem er einen Augenblick lang gewähnt hatte, Herr zu werden.
Sein Geschäft, – die Tiere, – die übelriechende Bude, das Publikum, – der Gesang, – die Musik, – alles widert ihn an. Seine Einbildungskraft weist ihn auf Guillaumes lustige Bande zurück. Er schwebt in wachen Träumen mit dem kecken Volk auf wieherndem Renner die Bahn entlang; seine seidenen Gewänder flattern rauschend beim tobenden Schalle der Musik. Er möchte die Flucht ergreifen, möchte den schnöden Affen, großen Katzen, Bären und Hyänen Valet sagen! Aber Laura lächelt ihn, wie aus Zerstreuung, einmal an, und es ist aus.
Eines noch hält ihn aufrecht: das Bedürfnis zu lesen, zu lernen, wie sonst. Nur daß er es jetzt in Städten leichter befriedigen kann, als während seines Landlebens, französische Bücher wechselten mit deutschen, was die Leihbibliotheken besitzen, stöbert er auf. Unter anderen sind ihm auch Goethes Gedichte zugekommen. Viele hat er ausgeschrieben, manche auswendig gelernt. Eins rezitiert er, wo er geht und steht. Doch den Titel hat er umgeändert. Nicht Lilis, – nein »Lauras Park« nennt er's. Oft, wenn eine weichere Stimmung über ihn kommt, wiederholt er:
»Denn so hat sie aus des Waldes Nacht
Einen Bären, ungeleckt und ungezogen,
Unter ihren Beschluß herein betrogen,
Unter die zahme Kompanie gebracht
Und mit den andern zahm gemacht!
Bis auf einen gewissen Punkt, versteht sich!
Wie schön und ach! wie gut
Schien sie zu sein. Ich hätte mein Blut
Gegeben, um ihre Blumen zu begießen!«
Und dann fühlt er sich versucht, den indischen Bären herauszulassen aus seinem Käfig, an dessen Statt sich hinein zu begeben. Plötzlich aber ruft er sich den Schluß des Gedichtes wieder ins Gedächtnis und spricht mit Goethe:
»– Götter, ist's in euren Händen,
Dieses dumpfe Zauberwerk zu enden,
Wie dank' ich, wenn ihr mir die Freiheit schafft:
Doch sendet Ihr mir keine Hilfe nieder, –
Nicht ganz umsonst reck' ich so meine Glieder:
Ich fühl's! Ich schwör's! Noch hab' ich Kraft.«
Wie er es aber auch sprechen, durchdenken, durchfühlen, drehen und wenden mochte, fruchtlos blieb doch jede seiner Bemühungen, die eigentliche Poesie ins Französische zu übertragen, um etwa den Inhalt derselben seiner Lili-Laura einigermaßen begreiflich und zugänglich zu machen. Anton wußte doch jetzt recht gut Französisch, sprach es so geläufig, beinahe wie Deutsch, und sprach es besser als jene, die eine fremde Sprache aus den Regeln der Schule erlernen, weil er es von lebendigen Lippen – und was für Lippen! – entnommen. Aber an diesem Versuche scheiterte jegliches Bestreben. Sinn und Worte und Form fand er für die meisten Strophen – dennoch fehlte ihm etwas, – und ohne dieses Etwas gerade wurde es eben etwas ganz anderes. Solche eigensinnige, unbesiegliche Sonderung zweier Sprachen fühlte unseren Freund auf mancherlei Betrachtungen über den Geist der Sprache im allgemeinen. Betrachtungen, welche man ebensowenig bei einem Menageriewärter suchen, als Goethe geahnt haben dürfte, daß ein solcher sich üben, ärgern und wiederum kräftigen werde an einem Gedichte, das er im Unmut unbefriedigter Leidenschaften einstmals hinwarf. Aber so geht es:
»Der Urgeist streut den Samen in die Winde,
Daß manch ein Körnlein Grund wie Boden finde!«
Anton hatte niemand, dem er sich mitteilen konnte. Weder Schwarz- noch Rotbart, abgesehen von der verzeihlichen Roheit ihres Herkommens und Berufes, wären die Menschen gewesen, nur zu ahnen, geschweige denn zu begreifen, wie ein Jüngling von Antons einnehmender Persönlichkeit noch schmachten, zweifeln wolle nach Vorgängen, deren er zwei erlebt. Sie verließen so leicht keine Stadt und kein Städtchen, ohne Bande zu schlingen, die gleich anfänglich durch derbe, aber leicht lösliche Knoten gefestigt wurden. Doch waren sie praktische Leute und richteten die leichtere oder festere Verknotung ihrer Bündnisse schon im voraus danach ein, ob sie auf längeren oder kürzeren Aufenthalt am Orte zu rechnen hatten.
K. war eine sogenannte »große Station«. Hier entsprachen dauernde Verhältnisse. Beide knüpften dergleichen mit gewohnter Leichtigkeit und Übung an. Aber beide versahen sich diesmal trotz ihrer Übung im Gegenstande der Wahl. Sie hatten die Herzen zweier Schwestern erobert, – Töchter eines Nachtwächters – die jedoch, vom strengen Vater mürrisch gehütet und besser bewacht, als das seinen Schlummerstunden anvertraute Stadtviertel, bis dahin ziemlich vorwurfsfrei gelebt und die Huldigungen der Tiermänner nur unter sehr bürgerlichen Absichten auf Ehestand angenommen hatten. Ja, was noch mehr, Pierre wie Jean, Schwarz wie Rot, fühlten sich wider Gewohnheit diesmal auch durch ernstere Neigung gefesselt, so daß bereits von »Anlegung des Ersparten, von Eintreten ins solide Leben, von Zurückziehen aus dem Geschäft usw.«, kurz von Dingen die Rede war, hinter denen die Heirat herzuziehen pflegt wie der Finnfisch hinter wandernden Heringen und aus ähnlichen Gründen.
Der Herr Nachtwächter befand sich, mit höchst seltenen Ausnahmen, den ganzen Tag über daheim. Er trieb die sehr edle Flickschneiderkunst, die in Anbetracht ihrer oft erschwerten Kompositionen wohl eher unter Künste aufgenommen zu werden Anspruch hat, als jene Schneiderei aus dem Vollen, Ganzen. Seine Töchter waren mitwirkende Künstlerinnen. Da konnte weder von schwarz- noch rotbärtiger Liebe die Rede sein. Zwar gestattete der Zwillingsvater – denn Zwillinge waren die Nachtwächterstöchter – beiden Bärten, daß sie sich samt denen an sie befestigten Ausländern »auf Besuch« einfinden dürften; doch weder Pierre noch Jean waren Meister darin, während der langen Sitzungen die Fäden harmlosen Gesprächs spinnen zu helfen. Ihr Kauderwelsch war wilden Bestien verständlich, ihrem Kollegen Antoine, zur Not auch der Madame Simonelli. – Für andere Bewohner des Landes von der Düna bis zum Rhein bedienten sie sich gern der Zeichensprache, und für ihnen wohlgefällige Bewohnerinnen einer ganz entschieden ausgebildeten. Weil nun aber der flickschneidernde Nachtwächter die Eigenschaft besaß, in seiner Wohnung und als Familienvater ungleich schärfer zu vigilieren und ein besserer Stubentagwächter zu sein, wie er jemals ein Stadtnachtwächter gewesen, so blieb diesen Liebenden für den Austausch pantomimischer Symbole nur die »heilige Nacht mit blauem Sternenmantel«; diese gewissenlose Beschützerin so vieler Eltern betrügender Pläne gelobte ihren Schutz desto zuverlässiger, weil die durch den Schneider zu bewachenden Gefilde weitab lagen vom fernen Gäßchen, in welchem seine Zwillinge zurückblieben. Es kam nur darauf an, daß Antoine ins Vertrauen gezogen wurde, daß er so gefällig war, einmal die Nachtinspektion der Tierwelt zu übernehmen, denn ohne Aufsicht durften Bude und Inhalt nicht verbleiben. Dazu fand er sich willig und bereit. Nicht allein um der viel geplagten Knechte willen, die auch ihm stets dienlich sein mochten, mehr fast noch, um eine Veranlassung zu ergreifen, die sich ihm bei seiner gegenwärtigen Stimmung kaum erwünschter darbieten konnte. Ihn reizte die Aussicht auf eine Nacht unter wilden Tieren, allen Menschen fern, einsam und ungestört mit den Träumen, die etwa kommen würden, ihn zu besuchen. Deshalb machte er zu Hause förmliche Anzeige, daß Pierre und Jean Urlaub wünschten, und unterstützte ihr Gesuch durch sein Anerbieten, sie pflichtgetreu zu vertreten. Madame Simonelli fand nichts einzuwenden. Laura verriet Unruhe und gab ein mißfälliges Erstaunen kund, welches der Bittsteller scheinbar nicht zu merken den Mut besaß.
So nimm den Spieß und Horn, frühergrauter – Schultze. Ich muß eingestehen, daß ich des Nachwächters Namen nicht kenne. Um einigermaßen sicher zu gehen, ergreife ich in der Not einen von jenen Hauptnamen, auf die mehr oder weniger alle Deutschen hören! – Geh' deines Weges, Schultze, nach dem abgelegenen Stadtviertel, Stunden abzusingen, welche dir unendlich dünken. Deinen Töchtern, fürchte ich, werden sie zu rasch vorüberfliehen.
»Der Klock« hat zehn geschlagen, und »Gott der Herr war gelobt!« Pierre und Jean schlichen davon, die Tür nur lose anlegend, fest überzeugt, daß kein Taschendieb sich einschleichen werde, Wölfe und Hyänen heimlich davonzutragen.
Anton ging im Dunkel auf und ab. Er wollte sich gar nicht zum Schlafen niederlegen. Müde war er wohl, doch nicht schläfrig. Wandelnd, sinnend wachte er Mitternacht heran.
Die Augen der Tiere leuchteten wie glühende Kohlen. Man vernahm kein Geräusch in ihren Kasten, so leise traten sie auf. Wie es zwölf Uhr schlug, – der letzte Ton der großen Turmglocke verhallte, eben wendete sich Anton auf seinem gleichförmigen Wege um, – da war es ihm, als ob am hinteren Ende der Bude die Vorhänge, welche leere Käfige, Kasten und anderes ungebrauchtes Gerät verhüllten, zu flattern begönnen und sich öffneten, als ob ein Lichtschimmer daraus hervordränge. Sein erster Gedanke galt einer Nachlässigkeit der beurlaubten Knechte, einer vielleicht nicht sorgfältig gelöschten Lampe. Er schritt eilig vor, ... doch mitten im öden Raume blieb er unbeweglich stehen, ... sein Atem stockte, ... Eiseskälte durchrieselte ihn, er sah die alte Frau Goksch, seine selige Großmutter! Sie war gekleidet, wie bei Lebzeiten sie gewöhnlich einhergegangen. Aber größer schien sie ihm, hielt sich mehr aufgerichtet. Sie sah ihn bittend an.
»Was bedeutet mir das?« stammelte er.
Die Erscheinung hob ihre Rechte empor und deutete damit nach dem Ausgange hin. Kaum aber hatte sie einige Sekunden lang angedauert, als ihre Umrisse unsicher wurden, sich nach und nach verwischten und bald in einen grauen Nebel aufzulösen schienen, der sich wie dünner Rauch verzog. Die Stelle ward wieder dunkel, wie sie vorher gewesen. Anton untersuchte die Vorhänge, schob sie auseinander, ... alles leer und still. Sogar die Hunde unter dem Reisewagen schliefen ruhig, daß man das regelmäßige Schnarchen ihrer Kehlen vernahm.
Antons Haupt wurde wieder frei, der Andrang des Blutes zog sich zurück. Da rieb er sich die Augen und sprach zu sich selbst: es war nicht außer mir! die Erscheinung kam aus meinem Innern. Deshalb hat sie doch etwas zu bedeuten, ich soll diesen Ort meiden ... Jetzt kann ich das nicht, ich darf es nicht. Ich glaube an Ahnungen, aber ich darf dennoch nicht davonlaufen. Es wäre elende Feigheit. Bleiben muß ich, geschehe, was da wolle, ich hab's einmal übernommen.
Rascheren Schrittes ging er nun auf und nieder, machte sich mit den Tieren zu schaffen, reichte seinem alten Feinde, dem Tiger, einige wohlangebrachte Peitschenhiebe, liebkoste seinen alten Freund, den indischen., kindischen Bären, schüttelte dem großen Löwen die Mähne; – kurz er vertrieb sich die Zeit so anmutig, als es in solchem Kreise gehen will.
Jedesmal, wenn er sich der Aus- und Eingangstür näherte, verspürte er einen unbestimmten Antrieb, nachzuforschen, ob sie offen stehe. Es kam ihm vor, wie wenn ein nächtlicher Luftzug durch die Gardinen eindringe, mit denen Kasse und Vorhalle drapiert waren. Jedesmal nahm er einen Anlauf dazu – und unterließ es wieder, ohne zu wissen, warum.
Da fuhr ihm plötzlich durch den Sinn, daß er in P. belauscht worden und doch eigentlich nie zur Gewißheit gelangt sei, durch wen; daß er damals Laura beargwöhnt und diese Vermutung nachher halb und halb wieder aufgegeben habe, daß seitdem ... »Und wie, wenn sie – jetzt? ...«
Als wäre er unter wilden Geschöpfen selbst zum reißenden Tiere geworden, das auf seinen Raub springen will, so stürzte er heftig hinaus und ergriff, ehe sie noch zu entfliehen vermochte, eine warme Beute. »Wer ist hier«, schrie er mit erkünsteltem Erstaunen, um dahinter die Furcht zu verbergen, die mit der Kühnheit solches Angriffs im Widerspruch stand; »wer dringt bei Nacht hier ein?«
»Gott, wie Sie mich erschrecken!« flüsterte Laura, wirklich vor Schreck bebend. Aber sie setzte nicht hinzu: »Lassen Sie mich los.«
»Sie sind es, Madame? Ich bitte tausendmal um Verzeihung.«
»Wer denn sollte es sein, außer mir? Wer sonst hätte hier etwas zu suchen?«
»Ja, mein Gott, was denn Sie?«
»Das wissen Sie nicht? Das ahnst du nicht, Mensch ohne Herz? Was ich hier zu suchen habe? Er weiß es nicht, ha, er weiß es nicht? Erforschen wollte ich, ob es Wahrheit ist, daß Pierre und Jean Urlaub genommen; daß du an ihrer Statt hier bliebst. Überzeugen wollte ich mich, ob du wirklich hier bist!«
»Aber wo sollte ich denn sein?«
»Weiß ich's? Bei einer Geliebten!«
»Ich? da müßte ich doch erst eine haben; erst eine wollen, Madame. Und überhaupt, Ihnen wäre das doch vollkommen gleichgültig. Warum fragen Sie danach?«
»Weil ich dich liebe! Weil du keine andere lieben darfst! Weil du mein bist! Mein! Und weil ich dich diesen Tieren vorwerfe, wenn du dies Geständnis nicht erwiderst.«
Jetzt war die Reihe zu zittern an ihm.
Wie nach langem, schwülem Sommer, wo in trockener Glut alles verschmachten will, endlich ein gewaltiges Wetter losbricht und rast, so machte sich Lauras zurückgehaltene Leidenschaft in diesen wilden Worten Luft, die den, welchem sie galten, im ersten Augenblicke mehr entsetzten, als beglückten. Die Tiere, wie wenn sie verstanden hätten, daß davon die Rede war, ihnen einen blühenden Jüngling zum Zerreißen preiszugeben, fingen an mächtig zu brüllen. Der Löwe namentlich, der große Verehrung für Madame Amelot und deren Schönheit zur Schau trug, sich auch gar zu gern von ihr liebkosen ließ, wurde höchst aufgeregt, wobei er förmlich Donnertöne ausstieß.
Laura zerrte den noch ganz verstörten Anton vor des Brüllenden Käfig und, indem sie den Geliebten umarmte und feurig küßte, rief sie durch die eisernen Stangen hinein: »Du bist Zeuge, König der Tiere, daß ich mich ihm gebe! Du magst mich rächen, wenn er undankbar ist!«
Der Löwe begriff den Sinn dieser Herausforderung nicht. Sein bei Nacht sehendes Auge erblickte nur die Umarmung, die ihn noch zorniger machte. Er fing zu rasen an, daß er das Gitter beinahe sprengte. Bald stimmten sämtliche Tiere ein: auch die sonst friedlichen, jetzt aus ihrer Ruhe aufgestörten. Es war ein Höllenlärm! Und dieser schauerliche Chor bildete den Weihegesang beglückter Liebe. Denn wie nur Anton erst zur Besinnung gelangte, wie er nur erst zu fassen vermochte, daß er so heiß geliebt sei, da schwanden Rücksichten, Unterwürfigkeit, Zweifel und Zagen. Da fand auch er die rechten Worte, ihr kundzugeben, was er solange verschwiegen.
Der helle Tag erst verscheuchte das zärtliche Paar. Laura stahl sich nach ihrer Wohnung, und Anton folgte, nachdem er durch Pierre und Jean abgelöst worden.