Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Es wäre zu erzählen von fortgesetzter Auflehnung, von lieblosen Worten hüben und drüben, von Bitten und Klagen und fruchtlosen Vorstellungen und erbitterter Wechselrede und erbittertem Schweigen.

Und wie er flieht und zurückkehrt und wie träg er die Tage hingehen läßt und wie er durch die Landschaft stürmt und an den Wassertümpeln liegt, wo das Gras hochsteht, und wie er sich des nachts aus dem Schlaf erhebt und die Fenster öffnet und der Ruhe flucht und den Wolken ihre Bewegung neidet.

Und wie die Mutter ihm folgt, wenn er in die Kammer schleicht und das Ohr an die Tür preßt und hineintritt und die Kerze brennen sieht und zu ihm geht, an sein Bett geht und vor seinen glänzenden Augen erschrickt, die sich bei ihrem Nahen verfinstern. Und wie sie voll Erinnerung an ihre ersten Sorgen um ihn, erwartend, daß der Abend und der Anblick ihrer Schwäche ihn willfährig machen wird, noch einmal bittet und fleht. Und wie er sie dann anschaut und gleichsam innerlich zusammenstürzt und zu tun verspricht, was sie fordert.

Wie er dann in Ansbach beim Lederhändler Hamecher auf den Warenballen sitzt, im langen öden Tor, oder auf den Stufen einer Kellertreppe, oder auf dem Speicher und träumt, träumt, träumt. Und wie sich Herrn Hamechers nachsichtige Verwunderung in Befremdung und dann in Entrüstung verwandelt und er dem Unbrauchbaren nach einem halben Jahr den Laufpaß gibt.

Wie dann Jason Philipp noch einmal Gnade für Recht ergehen läßt und einen neuen Schauplatz mit neuen Menschen für pädagogisch ersprießlich hält, schon um Kantor Spindlers verhängnisvollen Einfluß zu mindern. Wie von Bayreuth gesprochen wird und wie niemand Daniels feuriges Erschauern bemerkt, weil ihnen der Name Richard Wagners fremd ist und der Name des dortigen Weinhändlers Maier vertraut. Wie er nach Bayreuth kommt, dem Jerusalem seiner Sehnsucht, und sich zum Scheinfleiß zwingt, um nur bleiben zu dürfen, wo Sonne, Luft und Erde, die Tiere, der Kehricht und die Steine jene Musik aushauchen, von der Kantor Spindler gesagt, daß er sie wohl ahne, aber zu alt sei, um sie zu fassen oder zu lieben.

Und wie er ungeachtet seiner Bemühung, den Nützlichen zu spielen, Notenköpfe unter die Fakturen malt und in verlassenen Gewölben sonderbare Gesänge vor sich hinbrüllt und ein ganzes Faß mit Wein auslaufen läßt, weil auf seinen Knien aufgeschlagen die englischen Suiten liegen.

Und wie er sich ins Festspielhaus zu einer Probe stiehlt, durch einen beflissenen Wächter hinausgewiesen wird und dabei die Bekanntschaft von Andreas Döderlein macht, der Professor an der Musikschule in Nürnberg ist und unermüdlicher Apostel des neuen Heilandes. Und wie Döderlein zu verstehen und zu helfen nicht ungewillt scheint und viel Vergnügen über den urwüchsigen Enthusiasmus und die flammende Hingabe seines Schützlings äußert. Und wie Daniel, berauscht von der allgemeinen und unverbindlichen Verheißung einer Freistelle an der Schule des Professors bei Nacht und Nebel der Stadt den Rücken kehrt und sich aufmacht, um zu Fuß nach Eschenbach zu wandern; vor die Mutter hinstürzt; sich förmlich hinwühlt vor ihr; bettelt; beschwört; fast irre redet; sie zu bewegen sucht, Jason Philipps Sinn zu ändern, ihr zu erklären sucht, daß sein Leben, seine Seligkeit, sein Blut und Herz an diesem einen Einzigen hängt, und wie sie nun hart wird, die ehedem Gütige, steinhart und eiskalt, und nichts versteht, nichts spürt, nichts glaubt, nur das Schreckliche seiner unheilbaren Verstörung, so nennt sie es, empfindet.

Von alledem wäre zu erzählen, aber es sind Ereignisse, so selbstverständlich in ihrer Folge wie daß Funken und Rauch Produkte des Feuers sind; bestimmbar jedenfalls, oft dagewesen und immer wieder in gleicher Weise wirkend.

Es sind althergebrachte Vorurteile von Zigeunerhaftigkeit und Vagabundentum, die in Mariannes Seele nisten, denn all ihre Vorfahren und ihres Mannes Vorfahren haben sich im Handwerk redlich ihr Brot verdient. Sie sieht nicht ein, was durch die Freistelle an Döderleins Anstalt gewonnen sein soll, da Daniel ja nichts besitzt, um sein Leben zu fristen. Er hat beim Kantor Klavierspielen gelernt, will sich auf dem Instrument vervollkommnen und mit dieser Fertigkeit seinen Unterhalt erwerben. Sie schüttelt den Kopf. Er spricht von der Größe der Kunst, von der Beglückung, die ein Künstler geben, der Unsterblichkeit, die er erringen könne, und daß es ihm vielleicht vergönnt sei, etwas zu machen, was nur Einer einmal zu machen imstande sei. Sie hält es für anmaßenden Wahn und lächelt verächtlich. Da wendet er sich in seinem Innern von ihr ab, und sie ist ihm keine Mutter mehr.

Als Jason Philipp Schimmelweis vernahm, was im Werke war, scheute er die umständliche Reise nicht und erschien in Mariannes Laden wie ein Racheengel. Daniel fürchtete ihn nicht mehr, weil er nichts mehr von ihm hoffte. Insgeheim mußte er lachen, als er den kurzen und kurzhalsigen Mann in seinem Grimm sah. Dabei flackerten immer noch listige und spöttische Lichter über Jason Philipps rotwangiges Gesicht, denn er hatte eine zu hohe Meinung von sich, um den nichtswürdigen Schwärmereien eines Neunzehnjährigen mit dem ganzen Gewicht seiner Persönlichkeit entgegenzutreten.

Während er mit funkelnden Äuglein sprach und das rote Zünglein einige widerspenstige Schnurrbarthaare von den beredten Lippen wischte, stand Daniel an den Türpfosten gelehnt, hatte die Arme über der Brust verschränkt und betrachtete bald seine Mutter, die stumm und altgeworden in der Sofaecke saß, bald das Ölporträt seines Vaters, das ihm gegenüber an der Wand hing. Ein Jugendfreund Gottfried Nothaffts, ein Maler, der verschollen war wie seine übrigen Bilder, hatte es verfertigt; es zeigte einen Mann von ernster Haltung und erinnerte an einen der fürstlich aussehenden Zunftmeister des Mittelalters. Da erkannte Daniel den Weg, der ihn durch die Geschlechterreihe dorthin geführt hatte, wo er war.

Und als er nun in Jason Philipps Gesicht schaute, glaubte er die Unruhe des schlechten Gewissens darin wahrzunehmen. Der Mann handelte nicht aus einer Überzeugung, so schien es ihm, der Mann war von vornherein entschlossen, nicht zu wollen. Und ferner schien es ihm, daß nicht bloß der eine Mann und sein zufällig begründeter Zorn, sondern daß eine ganze Welt gegen ihn in Waffen stand und zu seiner Verfolgung verschworen war. Er hatte keine Lust mehr, das Ende von Jason Philipps oratorischer Leistung abzuwarten und verließ die Stube.

Jason Philipp erblaßte. »Täuschen wir uns nicht, Marianne, du hast eine Schlange an deinem Busen genährt,« sagte er.

Daniel stand vor dem Wolframs-Brunnen auf dem Platz und ließ sich vom Purpur der untergehenden Sonne bestrahlen. Ringsum glühten die Steine sowie die gekreuzten Balken in den Häusermauern, und die Mägde, die mit Wassereimern kamen, blickten verwundert in die Lichtfülle des Himmels. In dieser Stunde wurde ihm die Heimat teuer. Als Jason Philipp den Platz betrat, an dessen Ecke die Postkutsche harrte, war er bestrebt, von Daniel nicht gesehen zu werden und machte hinter ihm einen Bogen. Aber Daniel drehte sich um und heftete seine Augen fest auf den eilig schreitenden und verbissen zur Seite schauenden Mann.

So begibt es sich immer wieder. Und daran, daß der Flüchtling sich wendet und dem Verfolger Schrecken einjagt, ist auch nicht viel Wunderbares.


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