Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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13

Lenore hatte Eberhard von Auffenberg schon einige Wochen nicht gesehen, da schickte er ihr ein Kärtchen und bat um eine Zusammenkunft. Der Ort war ein für allemal derselbe, die Brücke am Tiergärtnertor, und als die Dämmerung eingebrochen war, begab sie sich dorthin. Es war ein lauer Märzabend, die Luft war ohne Wind, der Himmel bedeckt.

Sie wanderten den Burgberg hinauf und als sie oben an der Brüstung standen, sagte Lenore mit leisem Lachen: »Jetzt weiß ich vom Ungeredeten genug, nun reden Sie was.«

»Es tut wohl, mit Ihnen zu schweigen,« erwiderte Eberhard gedrückt.

Voll unbehaglicher Ahnung suchte sich Lenore eines der vielen hundert Lichter aus, die in der Tiefe neblig flimmerten und hielt den Blick hartnäckig darauf gerichtet.

»Wenn ich mich in dieser Stunde an Sie wende,« begann endlich der junge Freiherr, »so geschieht es gewissermaßen wie ein Appell an die letzte und höchste Instanz. Meine Erwartungen vom Leben sind vernichtet bis auf eine einzige. Es steht bei Ihnen, Lenore, ob ich ein unnützer Parasit der menschlichen Gesellschaft sein soll oder ein Mann, der sein Quantum Glück durch ein gleichwertiges Quantum Arbeit zu bezahlen entschlossen ist. Ich biete Ihnen alles, was ich zu bieten habe. Es ist wenig, aber ich biete es ohne zu feilschen und für immer. Nur Sie allein können mich noch retten. Dies wollte ich Ihnen sagen.«

Er schaute in die Wolken und lehnte sich auf seinen Spazierstock, den er hinter dem Rücken hielt.

»Ich habe Ihnen verboten, davon zu sprechen,« flüsterte Lenore in tiefem Schrecken; »Sie haben mir Ihr Wort gegeben.«

»Ich gab das Wort aus Liebe, ich brech es aus Liebe,« entgegnete Eberhard. »Ich sage mir, daß solch ein Wort eine Kinderei ist, wenn es sich um den Aufbau oder um den Einsturz einer Existenz handelt. Sind Sie hierüber anderer Ansicht, so verzeihen Sie mir. Ich hätte mich eben dann geirrt.«

Lenore schüttelte traurig den Kopf.

»Mein Plan war, daß wir nach England reisten und uns dort trauen ließen,« fuhr Eberhard fort; »es ist für mich unmöglich, hier zu heiraten, weil mir vor dieser Stadt ekelt; es ist unmöglich, weil meine Familie sich vielleicht Rechte anmaßen würde, die ihr nicht mehr zukommen und die ich bekämpfen müßte, wovor mir gleichfalls ekelt; und es ist unmöglich, weil –« hier stockte er und preßte die Lippen aufeinander.

Lenore sah ihn neugierig an. Seine pedantische Aufzählung der Hindernisse wie auch die unerwartete Romantik seines Vorhabens belustigte sie. Als sie aber den Ausdruck des Grams in seinen Zügen gewahrte, empfand sie Mitleid. Sie trat einen Schritt auf ihn zu; da ergriff er ihre Hand, beugte sich hastig herab und drückte seinen Mund auf ihre Finger. Mit jäher Bewegung zog sie die Hand zurück.

»Fatale Umstände haben mich in eine äußerst demütigende Abhängigkeit gebracht, die ich von mir schütteln muß, wenn ich nicht darunter erliegen soll,« sagte Eberhard gepreßt. »Ich war unerfahren. Ich bin getäuscht worden. Es ist eine Person im Spiel, die den Namen eines Menschen kaum verdient; ein Ungeheuer im Gewand eines honetten Bürgers. Ich weiß nicht mehr ein noch aus, Lenore. Ich muß fort von hier. In einem andern Land finde ich vielleicht Kraft und geistige Klarheit wieder. Mit Ihnen würde ich allem trotzen können. Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.«

Lenore ließ den Kopf sinken. Die Verzweiflung des sonst so zurückhaltenden Freundes ging ihr nah. Um ihren Mund zuckte es, als sie mühsam Worte fand.

»Ich kann nicht heiraten, Eberhard,« hauchte sie; »wahrhaftig, ich kann nicht. Ich habe Sie ja nicht an mich gelockt, Sie dürfen mir keinen Vorwurf machen, von allem Anfang an wollt ich jeden Zweifel darüber aus der Welt schaffen. Ich kann nicht, ich kann nicht.«

Fünf oder sechs Minuten verflossen in einem Schweigen, welches durch die gedämpften Geräusche von Menschenstimmen und Fahrzeugen, aus der Tiefe der Stadt empordringend, zerstückt wurde. In dem Erbarmen, das Lenore fühlte, ward sie sich der Härte erst bewußt, die in ihrer unbedingten Weigerung lag, und indem sie Eberhard mutig und fest anblickte, sagte sie: »Es ist nicht Eigensinn, Eberhard; auch keine dumme Angst und Einbildung, auch nicht, weil ich Sie nicht genug schätzte. Ich schätze Sie sehr hoch. Aber in mir muß etwas Unnatürliches sein, denn sehen Sie, mir graut vor der Ehe. Mir graut davor, mit einem Mann zu leben. So gern ich Sie habe, aber wenn Sie mich nur anrühren wie vorhin, als Sie meine Hand geküßt haben, schüttelt mich das Grauen von oben bis unten.«

Eberhard maß sie mit einem düster verwunderten Blick.

Sie aber fuhr fort: »Es ist in mir seit meiner Kindheit. Vielleicht bin ich damit geboren, so wie andere mit einem Körperfehler, vielleicht ist es seit einem bestimmten Tag, daß ich so bin. Es war im Herbst, an einem Abend. In Pappenheim war es, wo damals meine Tante Kupferschmied wohnte. Meine Schwester Gertrud und ich gingen in einem großen Obstgarten spazieren, da kamen wir zu einer Dornenhecke und an der Dornenhecke saß eine alte Frau. Mein Vater und meine Tante waren weit von uns weg und da sagte die alte Frau zu meiner Schwester, die etwa sieben Jahre zählte: nimm dich in acht vor dem, was singt und klingt. Und zu mir sagte sie: hüte dich vor Leibesfrucht. Am andern Tag wurde die Frau tot unter der Hecke gefunden; sie war über neunzig Jahre alt und fünfzig Jahre lang war sie als Kräuterweib im Altmühltal herumgezogen. Ich hab natürlich damals keine Ahnung gehabt, was das ist, eine Leibesfrucht; aber das Wort ist mir im Herzen steckengeblieben wie ein Pfeil. Es ist mit mir aufgewachsen und als ich einmal wußte, was damit gemeint ist, war es ein Bild neben dem Bild des Todes. Nun dürfen Sie nicht glauben, daß ich deswegen in einer häßlichen Furcht herumgehe. O nein. Mich gelüstet's eben nicht. Es zwingt mich nicht. Zwingt's mich, was frag ich dann nach Tod und Sterben! Dann lach ich über die Alte unter der Hecke und tu, was ich muß.«

Bei den letzten Worten hatte ihr Gesicht einen wunderbar reinen und phantasievollen Ausdruck angenommen und Eberhard vermochte kein Auge von ihr zu wenden. Es gibt Märchenwesen auf dieser widerlich platten Erde, dachte er, verwunschene Prinzessinnen, geheimnisvolle Melusinen. In gewohnheitsmäßigem Unglauben kräuselte er die Lippen, doch verwandelte sich die offene, werbende Zuneigung für das Mädchen von nun ab in eine verheerende Leidenschaft.

Er war stolz, und Mann genug, sich zu verschließen; um so quälender war ihm das dunkle Wissen von dem Dasein der gläsernen Kugel, dieses Geistergehäuses, in welchem, so nah, so fern, das liebliche Geschöpf unangreifbar wohnte und wohin keine Flamme der Liebe dringen zu können schien.

»Sie geben mir also den Laufpaß?« fragte er.

»Jedenfalls ist es ratsam, daß wir uns vorläufig nicht mehr sehen.«

»Ratsam für mich, meinen Sie. Und vorläufig? Wie soll ich das deuten?«

»Sagen wir, fünf Jahre.«

»Warum gerade fünf Jahre? Warum nicht zwanzig? Warum nicht fünfzig? Es wäre dasselbe.«

»Es ist mir so, als ob fünf Jahre eine richtige Zeit wären, Eberhard.«

»Fünf Jahre! Und jedes hat zwölfmal dreißig, zweiundfünfzig mal sieben Tage. Da verliert man ja den Verstand mit lauter Arithmetik.«

»Es muß sein,« erwiderte Lenore sanft und bestimmt. »Verändert werd' ich mich ja nicht haben nach den fünf Jahren. Und eben, wenn ich noch die gleiche bin, wollen wir wieder darüber sprechen. Ich darf mich ja nicht aus der Menschenwelt hinausstellen für alle Zeit. Mein Vater sagt oft: was zu Ostern wie ein Verhängnis aussieht, ist zu Pfingsten Grillenfängerei. Da will ich denn auf Pfingsten warten und meinen Freund nicht vergessen.«

Sie streckte ihm lächelnd die Hand hin.

Er schüttelte den Kopf. »Die Hand nehm ich nicht,« sagte er, »damit Ihnen nicht wieder graut. Leben Sie wohl, Lenore.«

»Auch Sie, Eberhard, leben Sie wohl.«

Eberhard schritt der abschüssigen Straße zu. Plötzlich drehte er sich um und sagte: »Noch eins, Lenore, jener Musikus, Nothafft heißt er doch? er ist mit Ihrer Schwester verlobt, wie?«

»Ja; Gertrud und Daniel, die werden über Jahr und Tag heiraten. Aber daß davon irgend jemand weiß –?«

»Der Musikus war so unvorsichtig, während einer Kneiperei sein Glas zu erheben und wie ein betrunkener Tambur sich selbst den Namen Gertrud zuzurufen. Eine Zeit lang hat man Ihren Namen mit seinem genannt. Nun, es ist besser so. Ich liebe die Künstler nicht. Ich kann sie nicht einmal achten, diese indiskreten Heißblüter. Gute Nacht, Lenore.«

Damit verschwand er in der Dunkelheit.


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