Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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Im Wirtshaus zum Krokodil hatte Herr Carovius seinen Stammtisch. An diesem fanden sich zu Mittag regelmäßig ein: der Fiskalrat Korn, der Magistratsadjunkt Hesselberger, der Postassistent Kitzler, der Apotheker Pflaum, der Uhrmacher Gründlich und der Zuckerbäcker Degen. Als Ehrengast erschien von Zeit zu Zeit der Assessor Kleinlein.

Es wurde über die Nachbarn, die Bekannten, die Freunde und die Berufsgenossen geklatscht. Der Klatsch durchlief die ganze Stufenleiter von der harmlosen Anekdote bis zur giftigen Verleumdung. Kein Verhältnis war vor übler Nachrede sicher, kein Ruf vor der Besudelung, an jedem Charakter war etwas auszusetzen, jedes Haus hatte seine vor der Welt verschlossene Kammer.

War das Mahl zu Ende, so entfernten sich die Herren, mit Ausnahme des Herrn Carovius, denn für ihn kam jetzt die wichtige Stunde der Zeitungslektüre, nach dem privaten Ohrenschmaus das Studium der Sünden, der Lächerlichkeiten und der Tragödien, die das Leben der Menschheit ausmachen.

Täglich las er drei Zeitungen, ein heimisches Blatt, ein Berliner und ein Hamburger Blatt. Täglich dieselben drei, und zwar von Anfang bis zu Ende, die politischen Nachrichten, das Feuilleton und sämtliche Inserate. Dadurch wurde er vertraut mit den Fortschritten der Kultur, den Veränderungen im Staatsleben und mit der Existenz der Aristokratie, der Bourgeoisie und des Proletariats.

Es entging ihm nichts; weder die Mordtat in einem pommerschen Dorf noch das auf dem Boulevard des Italiens verlorene Perlenhalsband; weder der Untergang eines Dampfers in der Südsee noch die vornehme Trauung in Westminster; weder die Glosse über neue Kleidermoden, noch die Niedermetzelung der von den Türken geknechteten Armenier; weder der Tod eines großen Herrn noch die Notiz über einen aufgegriffenen Landstreicher.

Doch ist anzumerken, daß seine eigentliche Teilnahme nur den unglücklichen Ereignissen galt. Denn er betrachtete die Welt bloß im Hinblick auf die Kriege, die Erdbeben, die Hagelschläge, die Orkane, die Überschwemmungen, die öffentlichen und häuslichen Unannehmlichkeiten der Menschen. Freudige Vorfälle, wie Geburten, Ordensauszeichnungen, heldenhafte Handlungen, die Kunde von einem Haupttreffer, einem erfolgreichen Werk, einer gelungenen Spekulation gingen ohne Eindruck an ihm vorüber, wenn sie ihn nicht gar verdrossen, hingegen haftete sein Geist mit Vergnügen an allem Üblen, Jämmerlichen, Traurigen und Beklagenswerten, das auf dem Erdball oder im Sternenraum passiert und zu seiner Kenntnis gelangt war.

Sein Kopf war ein Magazin wüster und schrecklicher Begebenheiten; von Krankheitsgeschichten, Entführungen, Diebstählen, Raubanfällen, Einbrüchen, Attentaten, Elementarkatastrophen, Seuchen, Lustmorden, Selbstmorden, Duellen, Bankrotten und Familienzwistigkeiten.

Hatte er seine Erfahrung um einige besonders kuriose und unerhörte Geschehnisse vermehrt, so zog er sein Taschenbuch, merkte das Datum an und schrieb: in Amberg hat ein Priester während der Predigt den Blutsturz bekommen; oder: in Kotschinchina hat ein Tiger vierzehn Kinder gefressen, ist in den Bungalo eines Ansiedlers gedrungen und hat der an der Seite des Gatten schlafenden Frau den Kopf abgebissen; oder: in Kopenhagen hat eine ehemalige Schauspielerin, eine neunzigjährige Greisin, mitten auf dem Marktplatz den Monolog der Lady Macbeth rezitiert, indem sie auf einen Gemüsekorb stieg; dies erregte solches Aufsehen, daß in dem Gedränge des Volks mehrere Personen zerquetscht wurden.

Dann ging er in froher Laune nach Hause und gab auf der Straße den Türstehern und Fensterguckern ihren Gruß leutselig zurück.

Bei jeder Feuersbrunst, die in der Stadt ausbrach, war er zugegen, und seine in die Flammen gerichteten Augen hatten etwas Ergriffenes und Trunkenes. Er summte leise vor sich hin, schaute verstohlen in die besorgten Gesichter der Leute, machte sich bei den geretteten Habseligkeiten zu schaffen und drängte dem Löschmeister seine Ratschläge auf.

War irgendein Mann von Bedeutung gestorben, so versäumte er nie, sich dem Leichenbegängnis anzuschließen. Er folgte dem Sarg bis ans Grab und verharrte bei der Rede des Pfarrers mit gesenktem Haupt. Aber um seinen Mund zuckte es sonderbar, als fühlte er sich verstanden und geschmeichelt.

Und in der Tat, es schmeichelte ihm. Der Tod der andern, die Niederlagen der andern, die Not der andern, die begangenen Verrätereien, die Übergriffe der Großen, die Bedrückung der Geringen, die Vergewaltigung des Rechts und die Leiden, die täglich Tausende ertragen mußten, alles dies schmeichelte ihm, beschäftigte ihn und wiegte ihn in eine süße Empfindung von Sicherheit.

Aber dann saß er zu Hause an seinem Klavier und spielte mit schwärmerischem Augenaufschlag ein Adagio von Beethoven oder ein Impromptu von Schubert. Wenn in einem Bachschen Oratorium die Chöre erschallten, wurde er vor Entzücken bleich, und er konnte Tränen vergießen beim Anhören eines kunstvoll gesungenen Liedes.

Er liebte die Musik bis zur Abgötterei.

Er war ein Kleinbürger mit entfesselten Instinkten. Er war ein Aufrührer von konservativer Haltung. Er war ein Nero ohne Diener, ohne Macht und ohne Land. Er war ein Musiker aus Verzweiflung und aus Eitelkeit. Er war ein Nero unserer Zeit.

Der Nero unserer Zeit, in drei Stuben hausend; einsamer Hagestolz und Bücherleser; mit dem Krämer Meinungen über das Wetter tauschend; mit dem Nachtwächter über magistratische Verordnungen räsonierend; Wüterich in jeder Faser, heimlicher Henker; dem Schicksal die unwahrscheinlichsten Verknüpfungen, die zerstörendsten Gewaltakte ablauernd; beständig auf dem Pirschgang nach Unheil, Zank und Schändlichkeit; frohlockend über alles Mißlingen und alle Bedrängnis nah und fern; auf den innig ausgedachten Trümmern jedes Zusammenbruchs, der sich ereignete, befriedigt verweilend und neben solcher stillen Grausamkeit und Blutgier von einer quälenden Leidenschaft für die Musik erfüllt, dieses war Herr Carovius, so war sein Leben.


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