Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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3

Im Sommer kam Daniel nach Aachen und in die Gegend von Lüttich, Löwen und Mecheln, von da an wanderte er zu Fuß weiter, nach Gent und nach Brügge.

An den Stellen, wo er Nachforschungen zu betreiben hatte, konnte er sich meist nur durch Briefe verständlich machen, die ihm das Verlagshaus geschickt hatte. Zur Stummheit verurteilt, lebte er fremd und allein.

Sehenswürdigkeiten lockten ihn nicht. Selten stand er vor einem alten Gemälde; nur wenn das Schöne seinen Weg versperrte, zwang es ihn zum Aufenthalt. Er ging immer wie zwischen zwei Mauern, immer der Nase nach, kehrte ungern um und spürte erst Müdigkeit, wenn er sich zum Schlafen hinlegte.

Auch in der Müdigkeit war noch ein nagendes Gefühl des Beraubtseins, Unruhe auch noch im Schlummer. Hast drückte sich aus in seinem Auge, in seinem Gang, in seinen Verrichtungen. Hastig nahm er die Mahlzeiten, hastig schrieb er seine Briefe, hastig redete er.

Die Blicke der Menschen auf sich gerichtet zu wissen war ihm eine Pein. Obwohl er sich in jedem Wirtshaus in die verborgenste Ecke begab und jeden Anlaß vermied, der ihn zum Zielpunkt der Neugier machen konnte, wurde er doch überall sofort gesehen, beobachtet und bestaunt. Denn alles an ihm war auffallend, die Energie seiner Mimik, seine heftigen Gesten, das Fletschen der Zähne, der eilige, hackende Schritt, mit dem er durch Gruppen schwatzender Leute ging.

Er hatte sich auf den Anblick des Meeres gefreut. Auf Ungeheures war er gefaßt gewesen, auf ein titanisch brodelndes Element, den Sturm der Apokalypse. Das friedliche Schwanken und harmlose Brausen enttäuschte ihn. Man sollte die Dinge, vor denen einem die Phantasie Ehrfurcht eingeimpft hat, nicht kennen lernen, dachte er.

Er konnte mit der Natur hadern wie mit einem Menschen; was er ihre Unvollkommenheit nannte, erregte seinen Groll. Doch liebte er eine bestimmte Stelle in einem Wald, wohin es ihn immer wieder trieb; oder einen Baum in der Ebene; oder die Abendstunde an einem Kanal.

Am meisten liebte er die engen Gassen der Städte, wenn aus offenen Fenstern Stimmengemurmel drang und aus geschlossenen das Licht der Lampen; wenn er an Höfen und Kellern, an Toren und Zäunen vorbeiging; eines alten Mannes Gesicht auftauchte, eines jungen Mädchens Gesicht, Arbeiter aus den Fabriken kamen, Soldaten aus den Kasernen, Seeleute vom Hafen. Da war für ihn Erzählung drinnen; da war er wie der Leser eines aufregenden Buches.

Einst ging er in Cleve bei Nacht durch dunkle Straßen. Da sah er vor einer Kirche einen Mann und eine Frau und fünf Kinder, armselig gekleidet alle; vor ihnen auf dem Pflaster lagen mehrere Bündel, die ihre Habe enthielten. Nach einer Weile kam ein Mensch und redete herrisch mit ihnen; sie hoben die Bündel auf und folgten ihm in traurigem Zug. Es waren Auswanderer, ihr Führer hatte vom Schiff gesprochen.

Daniel dünkte es, als spanne sich eine Saite in seiner Brust und schwinge tonlos. Die sich entfernenden Schritte der acht Menschen wurden zum rhythmischen Gefüge. Verworrenes teilte sich ab; finster Gewesenes schoß ins Licht. Voller Beklommenheit ging er seinen Weg, die Augen zu Boden geheftet, als suche er; und er sah nicht mehr, hörte nicht mehr, wußte die Stunde nicht.

Nach einer Erstarrung von anderthalb Jahren wehte Märzwind in seiner Seele.

Aber es war wie Krankheit. Ungeduld verzehrte ihn. Sein nächstes Ziel war Kloster Oesede bei Osnabrück, von dort wollte er nach Berlin. Er konnte das Stillsitzen in der Eisenbahn nicht aushalten; in Wesel gab er seinen Koffer als Fracht auf und wanderte mit Mantel und Rucksack weiter. Er marschierte acht bis zehn Stunden täglich, trotz des schlechten Wetters. Es war Ende Oktober, die Morgen und Abende waren kalt, die Straßen naß, die Quartiere elend. Nichts beirrte ihn; er ging und ging, suchte und suchte, oft bis in die späte Nacht, leidenschaftlich in sich versunken.

Als er ins Eisen- und Kohlenrevier kam, hob er immer öfter den Blick empor. Die Häuser waren schwarz, die Luft war schwarz, die Erde schwarz, geschwärzte Menschen begegneten ihm. Kupferdrähte sangen im Nebel, Hämmer dröhnten, gewaltige Räder surrten, Schlöte rauchten, Dampfpfeifen gellten, es war wie Traumvision, Landschaft eines unbekannten, verfluchten Sterns.

Eines Abends trat er aus einer Kantine, wo er in Eile etwas zu sich genommen hatte. Er war noch zehn Kilometer von Dortmund, wo er nächtigen wollte. Er hatte die Dorfstraße verlassen, da flammten ringsum die Feuer der Hochöfen durch den Nebel, der infolgedessen blutrot glühte. Bergleute kamen schweigend auf das Dorf zu, und ihre müden Gesichter sahen im Flammenschein wie dämonische Fratzen aus. Fern oder nah, man konnte es nicht unterscheiden, zog ein Pferd einen Karren über glitzernde Schienen; oben stand ein Mann und schwang die Peitsche. Tier, Karren und Mensch zeigten sich riesengroß, das Hühott klang wie ein wilder Geisterschrei, und die eisernen Laute aus den Werkstätten glichen dem Brüllen gequälter Kreaturen.

Da fand Daniel, was er gesucht. Da fand er die wehevolle Melodie, welche ihn von Lenore am Tag ihres Todes fortgetrieben hatte. Wohl hatte er sie damals aufs Papier gebracht, aber sie war ohne Folge geblieben, war mit Lenore ins Grab gegangen.

Jetzt war sie auferstanden, und alle Folge mit ihr, in wunderbarem Bogen hingedehnt, gegliedert wie ein Leib, erfüllt wie eine Welt.

Aus der Maschine war ihm die Musik wiedergeboren worden.


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