Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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9

Daniel hatte eine Arbeit vollendet, ein Orchesterwerk, Vineta betitelt, und er wünschte, daß Benda die Komposition kennen lerne. Eines Abends um sechs Uhr kam Benda zu Daniel. Alles war vorbereitet, Daniel setzte sich ans Klavier. Sein Gesicht war blaß, seine glatte Oberlippe zuckte.

»Denk dir das Meer, denk einen Sturm, denk ein Boot mit Menschen, denk ein wunderbares Nordlicht am Himmel und eine versunkene Stadt, die emporsteigt, und das Meer wird ruhig, und im Licht ist eine Erscheinung, denk dir so etwas oder vielleicht was anderes, es ist jedoch falsch. Es ist Unzucht, sich was zu denken. Cis-moll.«

Er wollte beginnen, als es an der Tür klopfte und Lenore eintrat. Sie huschte still in ihre Sofaecke.

Das Stück fing mit einem rhythmisch ruhigen und klagenden Satz an, der sich plötzlich in ein tobendes Presto verwandelte, und die kaum zur Sammlung gediehene melodische Figur wurde zerfetzt wie eine Blumengirlande in einem Wassersturz. Dann flossen die nach allen Richtungen des Erdkreises auseinandergestobenen Elemente zögernd und reuevoll wieder in eine Kette, es schien, als habe sie der tolle Wirbel reicher, reiner und beseelter entlassen, und bei langsam abschwellendem, bis zu choralartig feierlicher Dehnung gemäßigtem Tempo verschmolzen sie wieder in das lieblich ernste Hauptthema, das dann mit einem arpeggierten Akkord in die Unendlichkeit hinüberströmte.

Wo das Instrument versagte, half er mit seiner Krähstimme nach, und es war die unheimliche Energie des Ausdrucks, durch die er sie verhinderte, komisch zu wirken.

Bendas Augen waren in der Anstrengung des Zuhörens blicklos geworden. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob das Werk des Freundes ein gelungenes Werk sei. Was ihn überzeugte, war der Mensch, der vom Menschen ausstrahlende Magnetismus. Das Werk konnte er weder durchdringen, noch werten, es ergriff ihn aber in der Verbundenheit mit dem Phänomen des Menschen.

Daniel stand auf, taumelte gegen das Sofa, grub den Kopf in die Hände und ächzte: »Spürt ihr's denn? Spürt ihr's denn wirklich?« Er erhob sich wieder, stürzte mit zwei Schritten ans Klavier, packte die Notenblätter und warf sie auf den Boden. »Es ist ja nichts,« knirschte er, »eine elende Stümperei ist's.«

Damit warf er sich abermals hin. Lenore, in der andern Ecke des Sofas regungslos sitzend, schaute ihn mit den tiefstaunenden Augen eines Kindes an.

Benda hatte sich ans Fenster gestellt und sah in die blühenden Bäume und in den grauen Wolkenhimmel. Dann wandte er sich um. »Daß endlich etwas für dich und deine Sache geschehen muß, ist klar,« sagte er.

Lenore bewegte die Arme gegen Benda, als wollte sie ihm danken, und ihre Lippen öffneten sich halb. Als sie aber Daniel betrachtete, wagte sie es nicht, und auf einmal rief sie aus: »Mein Gott, da sind zwei Knöpfe an seiner Jacke, die hängen nur noch an einem Faden.« Und sie rannte aus dem Zimmer. Nach kurzer Weile kam sie mit Nadel und Zwirn zurück, die sie sich von Meta hatte geben lassen, setzte sich dicht an Daniels Seite und nähte die Knöpfe fest.

Benda mußte lächeln. Aber es lag in dem, was sie tat, eine wunderbare Beruhigung, als verhelfe sie dem Leben gegenüber allem Geisterspiel zu seinem Recht.


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