Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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11

Es war Faschingstag, und die Bürger waren wieder einmal lustig. Maskierte Knaben und Mädchen zogen in lärmenden Scharen umher.

Als Daniel durch die Füll ging, stutzte er; die Fenster in der Bendaschen Wohnung waren erleuchtet. Da erinnerte er sich, daß ihm der Provisor Seelenfromm gesagt, Frau Benda sei schon vor langer Zeit aus Worms zurückgekehrt; sie lebe mit einer Nichte, denn sie sei völlig erblindet.

Er stieg die Treppe hinauf und läutete. Eine grauhaarige, vergrämt aussehende Frau öffnete ihm; es mußte wohl die Nichte sein. Daniel sagte seinen Namen, die Frau hatte von ihm gehört.

»Sie wissen ja wahrscheinlich, daß Friedrich verschollen ist,« sagte sie in schläfrig singendem Ton. »Acht Jahre sind vergangen, seit er den letzten Brief aus Innerafrika geschickt hat. Wir haben schon auf alle Hoffnung verzichtet; auch in den Zeitungen ist es schon ganz still geworden.«

»Ich habe nie was gelesen,« murmelte Daniel. »Aber Friedrich kann nicht tot sein,« fuhr er kopfschüttelnd fort, »daran glaub ich nun und nimmer.« Er heftete seine Augen mit einem zugleich zerstreuten und intensiven Blick auf die Frau, die gebannt auf seine Brillengläser starrte.

»Wir haben alles versucht, was menschenmöglich ist,« erwiderte sie; »haben uns an die Konsulate, die militärischen Stationen und die Missionsvorstände gewandt, es hatte gar keinen Erfolg.« Nach einer Pause sagte sie ein wenig lebhafter: »Sie werden nicht wollen, daß ich Sie ins Zimmer führe. Es ist qualvoll für die Tante, wenn sie eine fremde Stimme hört, und daß Sie mit ihr reden, könnt ich nicht zulassen, da würde der ganze Schmerz von neuem in ihr aufgewühlt.«

Daniel nickte und ging. Vom Flur herauf drang ein übermütiges Gelächter, das peinigend in seine dunkle Stimmung fiel. Sein Herzschlag dünkte ihm matt; er empfand ein wehtuendes Verlangen nach etwas, wofür er keinen Namen wußte, nach etwas Süßem und Strahlendem.

Auf dem letzten Treppenabsatz blieb er verwundert stehen und schaute in den Flur hinunter.

Herr Carovius tänzelte wie ein Bajazzo vor seiner Wohnungstür herum. Er hatte eine silberpapierene Krone auf dem Kopf und suchte sich mit einem greisenhaften und zärtlichen Grinsen der mutwilligen Zudringlichkeit eines jungen Mädchens zu erwehren. Das Mädchen befand sich in einem Karnevalsaufzug. Das dunkelblaue Sammetkleid, welches die üppige Gestalt fast schlank erscheinen ließ, war über und über von Silberfäden behangen. Von ihren Schultern bis auf den Boden, wo es noch drei Schritte hinter ihr schleppte, hing ein schleierartiges, schwarzes Tuch herab, das mit glitzerndem Flitterwerk besät war. In der Hand hielt sie eine scheußliche Wachsmaske, das Gesicht eines Saufbolds mit einer roten Nase darstellend, und ihre Bemühungen zielten darauf hin, das Gesicht des Herrn Carovius mit der Maske zu bedecken.

Sie wollte, daß er sich ihr füge, sie versicherte, sie werde nicht eher vom Fleck gehen, als bis Herr Carovius die Maske aufgesetzt habe. Herr Carovius rüttelte an der Tür, die zugefallen war, er kramte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, aber das Mädchen gab ihm keine Ruhe.

»Komm, Butzi,« rief sie dabei, »komm, Onkelchen, sei nicht langweilig,« und näherte sich immer wieder mit der Maske.

»Wart, ich will dich lehren, Respektspersonen zum Narren zu halten,« gilfte Herr Carovius in wohlwollendem Ärger und glich einem alten Hund, der Sprünge macht, wenn sein Herr einen Spazierstock ins Wasser wirft. Da er aber in dem Eifer, das Attentat auf seine Würde zu verhindern, die Papierkrone auf seinem Haupt vergessen hatte und diese bei all seinen Bewegungen komisch wackelte, geriet das junge Mädchen vor Lachen völlig außer Atem.

Nun trat eine Magd ins Tor und brachte Schnee, den sie vom Hof geholt und in ihre Schürze getan hatte. Das Mädchen lief ihr entgegen, füllte die Hand mit Schnee und erhob sie scherzhaft drohend gegen Herrn Carovius. Herr Carovius winselte um Gnade, mit dem Schnee als wirksamem Zwangsmittel kam sie heran, und Herr Carovius hatte solche Furcht vor dem kalten Bombardement, daß er keinen Widerstand mehr leistete und sich die Larve umbinden ließ. Das Mädchen legte, erschöpft vom Lachen, die Stirn auf seine Schulter, und die Magd, es war Döderleins Magd, stieß vor Vergnügen Laute wie ein gackerndes Huhn aus.

Die Szene wurde vom dürftigen Licht eines an der Mauer hängenden Lämpchens beleuchtet und hätte deshalb auch ohne den Anblick des Herrn Carovius mit der Papierkrone und der Säufermaske etwas Phantastisches gehabt.

Daß das Mädchen Dorothea Döderlein war, wußte Daniel nicht, obwohl er es halb und halb erriet. Doch wer sie auch sein mochte, er war betroffen von dieser Fröhlichkeit, dieser Lachlust, dieser unbändigen Ausgelassenheit. Er kannte dergleichen nicht, und wenn er es jemals gekannt hatte, erinnerte er sich nicht mehr daran. Die jungen Züge, die leuchtenden Augen, die weißen Zähne, die behenden Gesten, das alles flößte ihm Ehrfurcht ein, und in seinen Augen malte sich ein erschüttertes Gemüt. Er fühlte sich so alt, so fremd; so ohne Sonne und ohne Blüte; ihm war, als zeige sich ihm das Leben mit einem Mal von einer neuen, freundlichen und verlockenden Seite.

Zögernd schritt er herab.

»Ist's die Möglichkeit!« schrie Herr Carovius und riß die Larve von seinem Gesicht; »was sehen meine Augen! Unser Maestro! Oder ist's sein Geist?«

»Er und sein Geist, beide,« entgegnete Daniel trocken.

»Geister haben hier nichts zu tun,« rief Dorothea und schleuderte einen Schneeball, der seine Schulter streifte.

Unter Daniels Blick errötete sie plötzlich und schaute Herrn Carovius fragend an. »Kennst du denn unsern Daniel Nothafft nicht, du ungebildete Katze?« sagte dieser; »weißt du nichts von unsrer Koryphäe? Wieder in der Heimat, Meister? Ruhmbedeckt zurückgekehrt?«

Zu anderer Zeit hätte der gallige Spott des Herrn Carovius Daniels Unwillen erweckt; jetzt bemerkte er ihn kaum. Wie jung sie ist, dachte er, indem er die befangen lächelnde Dorothea musterte, wie herrlich jung!

Dorothea ärgerte sich, daß sie nicht ihr rotes Kleid anhatte, das sie sich in München hatte machen lassen.

»Dorothea!« tönte eine gewaltige Stimme im ersten Stock.

»Och, der Vater!« flüsterte Dorothea erschrocken und lief auf den Fußspitzen, den langen Schleier raffend, die Treppe empor. Die Magd folgte ihr.

»Ein Teufel, ein wahrer Teufel, Maestro,« wandte sich Herr Carovius triumphierend zu Daniel. »Sie müssen einmal zu mir kommen und hören, wie sie den Fiedelbogen streicht. Ein Teufel, sag ich Ihnen.«

Daniel wünschte Herrn Carovius gute Nacht und trat gesenkten Hauptes auf die Straße.


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