Jakob Wassermann
Das Gänsemännchen
Jakob Wassermann

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6

Sein erster Gang galt dem Schwager seiner Schwester, dem pensionierten Oberstleutnant Kupferschmied. Seine Schwester war vor einem halben Jahr gestorben und hatte nichts hinterlassen, der Oberstleutnant jedoch war vermögend; er hatte in die Familie eines reichen Fabrikanten geheiratet. Jordans Beziehungen zu ihm waren stets angenehm gewesen, ja der alte Militär schien eine besondere Vorliebe für ihn gefaßt zu haben. Kaum vernahm er aber jetzt, was von ihm gefordert wurde, so zeigte er sich höchst aufgebracht. Er sagte, er habe das Unheil kommen gesehen; wer seine Kinder über die Verhältnisse erziehe, müsse sich nicht wundern, wenn schlechte Menschen aus ihnen würden, und nichts in der Welt könne ihn bestimmen, auch nur einen roten Heller herzugeben.

Jordan entfernte sich wortlos.

Der zweite Gang führte ihn zu seinem alten Bekannten, dem Notar Rübsam. Da vernahm er viel Bedauern, zahlreiche Ausrufe des Entsetzens, ein Ach übers andere, Klagen über die elenden Zeiten, Verwünschungen säumiger Zahler, endlose Trostsprüche und leere Ratschläge. Gestern noch sei das Geld annähernd beisammen gewesen; künftigen Monat fließe vielleicht wieder etwas ein, aber heute, gerade heute habe man die fälligen Steuern erlegen müssen, und so weiter, und so weiter.

Niedergedrückt von dem Gewicht der Demütigung, wanderte Jordan zum Dritten, einem Kaufmann namens Hornschuch, dem er einst wichtige Hilfe geleistet. Diese hatte Herr Hornschuch vergessen, nicht aber die Warnungen, die er dem Inspektor im Hinblick auf den zutage tretenden Leichtsinn des jungen Benno angeblich habe zufließen lassen. An Geld fehle es ihm selber; er habe ultimo vorigen Monats eine Hypothek kündigen müssen, und seine Frau habe sogar ihren Diamantschmuck verpfändet.

Und so ging es beim vierten, einem Baumeister, der einmal zu Jordan gesagt, er werde Hab und Gut für ihn opfern, wenn Not am Mann sei; und so beim fünften und beim sechsten und beim siebenten. Mit wehem Herzen tat Jordan schließlich das äußerste: er ging zu Diruf, um ihn zu bitten, die Frist auf drei Tage zu verlängern. Aber Herr Diruf saß unnahbar auf seinem Schreibsessel. Er rauchte eine knüppeldicke Havannazigarre, der Solitär warf ein blendendes Feuerwerk, er lächelte müd, kalt und erstaunt und schüttelte den Kopf.

Als Jordan gegen Abend nach Hause kam, befanden sich Daniel und Gertrud im Zimmer. Gertrud stützte den Wankenden und brachte ihm ein Glas Wein zur Stärkung. Er hatte seit dem Frühstück nichts zu sich genommen.

»Wo ist Lenore?« murmelte er, schien jedoch kein Interesse an der Antwort zu haben, sondern ließ sich auf einen Stuhl fallen und preßte den Kopf zwischen beide aufgestützte Arme.

Gertrud, die ihn erlöschen sah wie ein Licht verlischt, wurde es schwindlig vor Mitleid. Ihre letzte Hoffnung war auf Lenore gerichtet, die um fünf Uhr fortgegangen war, weil sie es unerträglich gefunden hatte, Stunde um Stunde nichtstuend auf den Vater zu warten. Bei jedem Geräusch, das im Hause erschallte, horchte sie begierig auf.

Daniel stand am Fenster und starrte in die violette Dämmerung über dem stillen Platz.

Es schlug sieben Uhr, es schlug halb acht, es schlug acht, Lenore kam nicht. Daniel fing an, erregt durch das Zimmer zu gehen. Wenn er mit dem Fuß an einen Sessel stieß, zuckte Gertrud zusammen.

Kurz nach acht Uhr ertönten Schritte auf der Stiege. Der Schlüssel kreischte im Gatterschloß, die Stubentür ging auf, und herein traten Lenore und Philippine Schimmelweis.


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