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Benda hätte Daniels Gesicht in der Finsternis zeichnen können: die runde Stirn, die spitzige, kleine, störrische Nase, den hart verkniffenen Mund, das eckige Musikantenkinn und die tiefen Gruben in den Wangen.
Er wußte nichts vom Musiker. Wie alle Gelehrten hatte er stets ein Mißtrauen gegen die übermächtigen Einflüsse der Kunst gehegt. Mit Ehrfurcht stand er vor den großen Werken, die im Gefühl der Generationen unantastbar und exemplarisch geworden sind, aber für die Schöpfungen der Mitlebenden fehlte ihm die Übung des Ohrs.
Daß es schwer war, zu verstehen und zu würdigen, war ihm bekannt; daß es bitter war, nicht verstanden und nicht gewürdigt zu werden, hatte er erfahren; daß alle Disziplinen menschlicher Geistesarbeit ihre besondere opfervolle Hingabe fordern, bedurfte keines Beweises für ihn.
Der Musiker war ihm neu. Wie sah er ihn? Als einen blinden Menschen, der innerlich verbrannte. Als einen berauschten Menschen, der auf alle andern Menschen den Eindruck abstoßender Nüchternheit machte. Als einen Besessenen von einer höchst schauerlichen Einsamkeit, deren er sich nicht recht bewußt war. Als einen ungeschlachten Bauern mit den Nerven eines Entarteten.
Der Mann der Wissenschaft wollte im Musiker das Gesetz finden; eine Aufgabe, um daran zu verzweifeln. Und der Freund überschaute das Leben des Freundes; ließ im Geist die Gestalten vieler Jünglinge vorüberziehen, die er kennen gelernt hatte. Spähte nach Merkmalen der Gemeinsamkeit; suchte ein Gesetz, auch hier.
In einer Dämmerstunde las er in den Schriften des Philosophen Mainländer. Er legte das Buch beiseite und sagte zu sich selbst: die jungen Leute meiner Zeit zerfleischen sich, verwüsten sich. Welch eine grauenvolle Zeit! Regel und Maß sind verloren gegangen; jedes Vorbild wird Zerrbild; der Mensch ist völlig auf sich zurückgewiesen; die Flamme ist ohne Gefäß und droht die Hand zu verkohlen, die sie bändigen soll.
Da fand er in Daniel den Schicksalsbruder. Da wurde ihm die Musik Bruderqual. Als er den Freund zerfleischt, verwüstet sah, zuckte ihm aus dem Auge der Gorgo selbst die tiefste Erkenntnis entgegen. Sein eigenes Herz offenbarte er nicht.
In einer Nacht, als unendliche Gespräche sie ins Schweigen geführt hatten wie Schiffe, die vorm Wind in einen Hafen treiben, sagte Benda, an einen zornig-gepeinigten Ausruf Daniels anknüpfend, der am anderen Ufer dieses Schweigens erschallt war: »Man muß uneitel sein. Man darf sich niemals aus seiner inneren Aufgabe ein Vorrecht erhandeln. Man darf niemals vor dem eigenen Bild stehen bleiben. Es scheint mir, daß ein Künstler von erhabener Bescheidenheit sein muß. Ohne diese Bescheidenheit, scheint mir, ist er nichts als ein mehr oder weniger wunderbares Luder.«
Daniel blickte rasch empor. Unter dem buschigen Schnurrbart Bendas waren die großen Zähne sichtbar. Er zog immer die Lippen auseinander, während er das eindringlichste Wort suchte.
Benda fuhr fort: »Schändlich ist zumeist alles, was ihr Talent nennt. Talent ist ein Flederwisch. Was von den Fingern ausgeht, ist vom Übel. Wer ein Ziel hat und dafür leiden kann, den brauchen wir. Und sonst, wie schön ist es doch! Droben ist der Himmel, unten ist die Erde, in der Mitte steht der unsterbliche Mensch.«
Daniel stand auf und reichte Benda die Hand. Es gab nichts Bezwingenderes als Bendas Händedruck. Seine Hand wurde zum Schraubstock, in dem er die fremde Hand schüttelte, bis sie kraftlos wurde. Dabei strahlten seine grauen Augen ein freudiges Wohlwollen aus.
Und sie tauschten das brüderliche Du.