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Die erste Unterredung mit ihm verlief ohne Resultat. Er wich ihren mutigen Worten aus und überhörte, was er nicht hören wollte. Er war zugeknöpft, höflich und verdrossen. Voll Ärger berichtete Agathe ihrer Tochter von der Enttäuschung, die sie erlitten, da äußerte Sylvia den Wunsch, ihre Mutter zu begleiten, wenn sie wieder zu Eberhard ging. Agathe schüttelte den Kopf, doch war sie keineswegs gesonnen, ihre Absicht aufzugeben.
Im freiherrlichen Hause änderte sich nichts. Baronin Clotilde befand sich dauernd in einer Erregung, die sie und alle, die um sie waren, quälte, und der Baron bildete ein beunruhigendes Rätsel für seine Umgebung. Er verließ seine Zimmer nie, in denen er viele Stunden lang mit gleichmäßigen Schritten, die Hände auf dem Rücken, hin und her wanderte.
Agathe kam ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal zu ihrem Neffen. Wenn auch Eberhards Kälte unüberwindlich schien und er sich um nichts nachgiebiger zeigte, so gelang es ihr allmählich doch, ihn aus seinen Hinterhalten zu reißen, und als sie dann Sylvia mitbrachte, die bei der Mutter wie gewöhnlich ihren Willen durchgesetzt hatte, eröffnete er sich plötzlich ganz unerwartet, und man sah, wie es in seinem Innern kämpfte.
Stockend und in seiner nicht selten gespreizten und schnörkelhaften Redeweise erzählte er von seiner Jugend, dem ewigen Unfrieden zwischen Vater und Mutter, dem häßlichen Gezänke; daß die Mutter, kaum hatte sie einen Befehl erteilt, stets Gegenbefehl vom Vater erfahren; wie die Kinder bald gemerkt, daß der Vater seine eigenen Wege ging und die Mutter ihre eigenen; daß sie einander mißtraut, einander Fallen gelegt; daß die Mutter bei all ihrer liebenswürdigen Sanftmut doch in dem einen Punkt von geradezu teuflisch zu nennendem Drang besessen gewesen sei, den Mann immer wieder dort zu reizen, zu stacheln und zu verwunden, wo sie ihn schon tausendmal gereizt, gestachelt und verwundet hatte; daß dieser Mangel an Vernunft und Überlegenheit auf der einen und von Güte und Offenheit auf der andern Seite das Haus allmählich zu einer Hölle gemacht, die Herzen der aufwachsenden Kinder zerrissen und in der Zerrissenheit verhärtet habe und sie keine freundliche Miene irgend eines Menschen für aufrichtig genommen, jede Hand, die sich ihnen entgegengestreckt, gemieden hätten. Wie dann in dieser liebeleeren Ödnis sich Bruder und Schwester leidenschaftlich aneinander geklammert und diese Beziehung sowohl in Eberhards wie in Emiliens Innern heiligster, unantastbarer Besitz geworden und sie förmlich einen Bund gegen alle übrige Welt geschlossen, sich alles mitgeteilt, stets beraten, jedes Buch gemeinsam gelesen, Glück und Unglück gemeinsam getragen hätten; wie dann eines Tages der Vater vor Emilie hingetreten, um ihr zu sagen, daß Graf Urlich um ihre Hand angehalten und daß er sie ihm versprochen hätte.
Hier schwieg Eberhard, preßte die Lippen zusammen und sein fahler Blick, der Agathe nie so sehr wie jetzt an den des alten Freiherrn erinnert hatte, bekundete einen unheilbaren Schmerz.
In groben Zügen kannte Agathe diese Geschichte; so aber, wie sie sie jetzt gehört hatte, regte sie ihr tiefstes Gefühl auf. »Man muß vergessen können,« sagte sie.
»Vergessen? Nein, das kann ich nicht, hab ich nie gekonnt. Mag's ein Laster sein oder eine Tugend, vergessen kann ich nicht. Emilie, die noch ein halbes Kind war, wurde mit der Zeit gefügig gemacht. Aber daß meine Mutter damals nicht alles aufgeboten hat, um diese Greueltat zu verhindern, daß sie darüber in ihre wehselige Schwäche versunken ist, das war die furchtbarste Erfahrung meines Lebens.«
»Es ist deine Mutter, Eberhard. Nie und nimmer hat ein Sohn das Recht, die Mutter zu verurteilen.«
»Nicht daß ich wüßte,« antwortete Eberhard frostig. »Auch Mütter sind Menschen. Auch Mütter können sündigen, wenn sie uns den Wurmfraß des Zweifels und des Lebensekels als Mitgift geben. Vater und Mutter, Eltern; sie sind ein Symbol, ein herrliches, wenn sie über uns schweben, verehrungswert. Sie sind nur Begriffe, Schemen nur, wenn nichts als Pflicht mich an sie bindet. Es gibt keine andere Pflicht als die Liebe.«
Sylvia hatte nichts gesprochen. Unbewußt befolgte sie das schönste Gesetz harmonischer Seelen, nicht durch Worte und Gründe, sondern durch reines Sein zu wirken. Zustimmung und Abwehr lagen wie Licht und Schatten auf ihrer Stirn.
Dadurch erinnerte sie Eberhard immer mehr und mehr an Lenore.
Vielleicht war es die Macht dieser Erinnerung, die ihn im Lauf des Abends endlich zu dem Versprechen bewog, am nächsten Tag mit Agathe zu seiner Mutter zu gehen. Die einzige Bedingung, die er stellte, war, daß man ihn vor einem Zusammentreffen mit seinem Vater sicherte.
Als Frau von Erfft ihn hierin unerbittlich sah, gab sie sich zufrieden, hatte aber die vertrauensvolle Vorahnung, daß die Ereignisse und die Stunde stärker sein würden als Wille und Absicht.