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Seit dem Tage, an welchem Philippine ihren Bruder Markus zum Krüppel gemacht hatte, war sie eine Geächtete im Haus ihrer Eltern gewesen.
Schwerlich hatte sie jemals Anlagen zur Güte und Heiterkeit besessen, aber die barbarische Züchtigung ihres Vaters hatte ihre Seele für immer verdunkelt und befleckt. Von ihrem zwölften Jahr an wurde ihr Geist ausschließlich vom Haß regiert.
Der Haß erweckte sie, zeugte Gedanken und Pläne in ihr, verlieh ihr Willenskraft und Kühnheit und gab ihr eine frühzeitige Reife.
Sie haßte ihren Vater, ihre Mutter und ihre Brüder.
Sie haßte das Haus und seine Stuben, das Bett, in dem sie schlief, den Tisch, an dem sie aß. Sie haßte die Leute, die in die Wohnung, die Kunden, die in den Laden kamen, die Müßigsteher am Schaufenster, den langen Zwanziger, die Bücher und die Zeitschriften.
Aber an jenem Mittag, als sie das Gespräch zwischen Vater und Mutter belauscht, hatte sich in ihrem finsteren und verwahrlosten Gemüt dem Haß eine zweite Macht beigesellt. Mit brennendem Kopf hinter der Tür stehend, hatte sie gehört, daß sie mit Daniel sollte verheiratet werden. Dieses Wort hatte sich die Dreizehnjährige mit der ganzen Wildheit einer Gefesselten, mit der ganzen Verbissenheit einer Phantasielosen zu eigen gemacht.
Sie hatte darin nicht einen mehr oder weniger aussichtsvollen Plan des Vaters, sondern eine Schicksalsbotschaft hatte sie vernommen und lebte von nun an einer Idee, die Licht und Zweck in ihr Dasein brachte.
Kurz nach seiner Ankunft in Nürnberg hatte sie Daniel unter den Meßbuden auf der Insel Schütt zum erstenmal gesehen; der Vater hatte ihn ihr gezeigt. Sie wußte, daß er Musiker werden wollte; sie empfand dabei nichts. Sie wußte, daß es ihm schlecht ging; sie spürte weder Mitleid noch Bedauern. Als sie ihn später im Konzertsaal erblickte, war er ihr schon der Versprochene; er gehörte ihr; ihn zu erringen, ihn in ihre Gewalt zu bekommen, gleichviel auf welche Art, war ihr unveränderliches Trachten, ein Gefühl, in welchem sich Tierisches und Wahnsinn seltsam mischte.
Die Diebstähle, die sie entschlossen und regelmäßig verübte, häuften sich im Laufe der Jahre zu einer stattlichen Summe. Nicht frech wie Diebe sonst, wurde Philippine mit der Zeit immer vorsichtiger. Darin, eine ehrliche Miene zur Schau zu tragen, erreichte sie eine solche Meisterschaft, daß selbst Jason Philipps Argwohn, als es einmal doch zu einer strengen Untersuchung kam, durch ihr Benehmen zerstreut wurde.
Sie hoffte wohl, sich mit dem gestohlenen Geld eine gewisse Unabhängigkeit zu sichern. Denn stets war sie darauf gefaßt, daß ihr die Eltern eines Tages das Haus verbieten würden. Sie war überzeugt, Vater und Mutter warteten nur auf die Gelegenheit, sich ihrer unter einem Schein von Recht zu entledigen.
Ferner hatte sie zwei Leidenschaften: eine für Süßigkeiten und eine für bunte Bänder.
Die Süßigkeiten kaufte sie am Abend; da schlich sie heimlich in den Laden des Zuckerbäckers Degen und verlangte mit lüstern aufgerissenen Augen für zwanzig Pfennige gefüllte Pralinees, an denen sie bis zum Schlafengehen schleckte.
Die Bänder nähte sie zu Schleifen, um sie entweder auf dem Hut oder am Hals oder am Kleid zu tragen. Je greller eine Farbe war, je mehr gefiel sie ihr. Fragte die Mutter, woher hast du das Band? so mußte sie lügen, und obwohl sie keine Freundin hatte, überhaupt keinen Verkehr, sagte sie, dies oder jenes Mädchen schenke ihr bisweilen Bänder. Wenn der Reichtum gar zu auffällig schien, zierte sie das Kleid erst nach dem Verlassen des Hauses in irgendeinem dunklen Torweg mit dem Band.
Den Gang auf den Dachboden wagte sie höchstens einmal in der Woche. Da mußten die Brüder in der Schule und die Eltern im Laden sein. Die Angst, man könne sie ihres Schatzes berauben, machte sie von Jahr zu Jahr unsteter und drückte sich in ihrem Gesicht als ein bösartiges Mißtrauen aus.
Zitternd stieg sie die dreizehn Stufen vom Vorplatz der Wohnung zum Bodenraum empor. Daß es gerade dreizehn Stufen waren, gab den ersten Anstoß zu dem Aberglauben, dem sie sich in späterer Zeit mit wollüstigem Schaudern überließ. Hatte sie die unterste Stufe mit dem linken Fuß betreten und merkte es in der Mitte der Treppe, so kehrte sie um und verzichtete für diesen Tag auf den Anblick ihres Reichtums.
Sie fürchtete sich vor Gespenstern, Hexen und Zauberern und wurde kreideweiß, wenn eine Katze vor ihr über die Straße lief.
Therese hielt keine Magd mehr, und durch die Arbeit in der Küche wurde Philippines Teint rauh und an ihren Händen sprang die Haut. Oft entzog sie sich dem Geschirrwaschen und Tellerspülen durch die Flucht, dann keifte und schrie Therese, daß die Nachbarinnen die Köpfe zu den Fenstern herausstreckten. Da rächte sich Philippine, indem sie Bettüberzüge, Hemden und Handtücher, die im Flickkorb lagen, absichtlich beschädigte und zerriß. Sie bediente sich hierbei einer Verwünschungsformel, die sie sich erdacht hatte, und die aus bedeutungsvoll klingenden, aber völlig sinnlosen Worten zusammengesetzt war.
Sie hegte den absonderlichen Wahn, daß es ihr gegeben sei, Unglück über die Menschen zu bringen. Um die Zeit, als Jason Philipp anfing, über schlechten Geschäftsgang zu klagen, verspürte Philippine eine teuflische Genugtuung. Sein Gesinnungswechsel hatte die ehemaligen Parteigenossen vertrieben und die neuen glaubten ihm nicht. Er mußte wieder zu zweideutigen Druckwerken greifen, um Geld zu verdienen, und bald war es üblich, daß die Leute verächtlich lächelten, wenn von der Schimmelweisschen Buchhandlung die Rede war. Die Arbeiter-Assekuranz warf lange nicht mehr so viel ab wie am Anfang, denn der Kredit der Prudentia und ihrer Werber war untergraben.
Es gibt ein Gesetz beim Fallen und Steigen bürgerlicher Existenzen. Von heute zu morgen veralten des einen Redlichkeit und Fleiß, veralten die Schliche und Winkelzüge des andern. So fiel der Inspektor Jordan, so ging es mit Jason Philipp Schimmelweis bergab.
Philippine schrieb dies ihrem stillen, verderblichen Wirken zu. Jedes Mißgeschick, das den Vater traf, lockerte die Kette, die sie an freier Bewegung hemmte. In verruchten Stunden träumte sie von Not und Hunger, Bankrott und Verzweiflung der Ihren. Dann brauchte sie nicht länger das Aschenbrödel zu sein, früh aufzustehen, um Holz zu spalten und den Brüdern die Stiefel zu putzen; dann war offener Weg zwischen ihr und Daniel.