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Um zehn Uhr vormittags erschien Philippine vor dem Wohnungsgatter. In der einen Hand schleppte sie ihr Bündel, an der andern führte sie die ängstlich dreinblickende Agnes.
Dorothea öffnete die Tür. Sie war sauber und adrett angezogen, trug ein blaugeblümtes Kattunkleid, darüber eine weiße Schürze mit Spitzenumsäumung, und um den Hals ein goldenes Kettchen, an welchem ein Medaillon hing.
»Och, die Kinder!« rief sie lustig, »die Philippine und die Agnes! Grüß Gott, Kinder, seid ihr endlich da?« Sie wollte Agnes umarmen, die aber wich ebenso scheu zurück, wie sie es gestern vor ihrem Vater getan.
Philippine verzerrte hämisch die Lippen, als sie von der um zehn Jahre Jüngeren ein Kind genannt wurde und maß Dorothea von oben bis unten.
Dorothea bemerkte es kaum. »Die Kochfrau, denken Sie bloß, Philippin', ist heut nicht gekommen, und da wollt ich's selber probieren,« erzählte sie mit zungenfertiger Wichtigkeit, »aber ich weiß nicht, das Suppenfleisch ist noch immer steinhart. Schauen Sie einmal nach.« Sie zog Philippine in die Küche.
»Der Topf muß einen Deckel haben,« urteilte Philippine mit geringschätziger Miene, »und außerdem brennt das Feuer nicht or'ntlich.«
Aber Dorothea war bereits bei einer andern Sache. Sie hatte ein Glas mit eingemachten Früchten entdeckt, öffnete es, nahm einen langstieligen Holzlöffel, brachte ihn gefüllt an ihren Mund und naschte vorsichtig. »Das schmeckt gut,« sagte sie, »das schmeckt wie Zitronat. Versuchen Sie's doch, Philippin'.« Sie hielt Philippine den Löffel an die Lippen, damit sie kosten solle. Philippine stieß den Löffel unwirsch beiseite.
»Das gibt's nicht, Sie müssen versuchen, ich will's, ich will's,« beharrte Dorothea und hielt den Löffel eigensinnig dicht vor Philippines Nase. »Ich will's, ich will's,« wieder holte sie, halb bittend, halb befehlend, so daß Philippine, die diesem Wesen gegenüber den rechten Widerstand nicht gleich zu finden wußte, um Ruhe zu haben, sich den Löffel in den Mund schieben ließ.
Da kam der alte Jordan auf den Flur und hinter ihm der Schlotfeger, der den Kamin putzen sollte.
»Herr Inspektor! Herr Inspektor!« rief Dorothea lachend, und als der Alte ihrem Ruf folgte, reichte sie ihm ebenfalls einen vollen Löffel, und dann mußte auch der Schlotfeger einen nehmen, und zuletzt kam Agnes an die Reihe.
Jetzt lachten alle, sogar über Agnes' blasses Gesicht flog ein heller Schimmer, und Daniel, durch den Lärm aus seinem Zimmer gescheucht, stand in der Küchentür und lachte mit.
»Siehst du, Daniel, siehst du!« sprach Dorothea befriedigt. »Alle fressen mir aus der Hand. So hab ich's gern. Laßt's euch nur schmecken, Leutlein.«