Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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6

Hauptsächlich muß er ihr die Überzeugung einflößen, daß er Zeit für sie hat, unbeschränkt viel Zeit. Er sagt seine Ordinationen ab, läßt mitteilen, er sei krank, läßt Arbeit Arbeit sein, antwortet widerwillig auf Telegramme und Telephonalarm, kurz, was ihm noch vor wenigen Tagen als undurchführbar erschienen wäre, ist selbstverständlich geworden: er hat für nichts und niemand mehr Interesse als für Marie; wenn er sich in einem dringenden Fall entschließt, einem Ruf zu folgen und nach Berlin zu fahren, ist er nach zwei Stunden wieder zurück.

Vom Morgen bis in die Nacht ist er bei ihr. Verläßt er das Zimmer, so bekommt sie Anfälle von Schwindel, Übelkeit und Frost, und zwar in einem Grad, daß ihr die Zähne im Mund klappern wie Steine in einer Schachtel und die Eingeweide sich winden wie Würmer. Nur nicht allein sein; laß mich nicht allein, bettelt sie mit aufgehobenen Händen, und folgt ihm in sein Schlafzimmer, sein Bücherzimmer, in den Garten, obwohl sich beim Gehen alles um sie dreht. Wenn er sie beschwört, zu Bett zu gehen, tut sie es erst, nachdem er versprochen hat, bei ihr zu bleiben. Auch des Nachts will sie nicht allein sein. Sie läßt sein Bett neben ihres stellen. Sie hängt mit den Blicken an ihm. Ihr ist als dürfe sie ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen verlieren. Nur so lang sie ihn im Auge behält, dünkt ihr, kann er nicht etwas tun oder denken oder empfinden, was ihn von ihr entfernt. Am meisten bangt ihr vor seinen heimlichen Gedanken.

Ohne Schlafmittel kann sie nicht schlafen. Der Schrecken der Schrecken ist das Erwachen am Morgen. Mit dem Erwachen kommt die Angst. Angst ist ein Wort, das den Menschen locker auf der Zunge sitzt, aber wenige kennen sie wirklich. Man muß zu grellen Bildern greifen, um sie zu malen. Der Leib wird von Krötenfüßen bekrochen, aus der Haut schwitzen schleimige Bänder, die sich ins Gehirn schlingen, das Herz ist ein wild hinrasendes Tier, der Magen ein quälender Fremdkörper, der Kopf eine gallertige verkrampfte Masse, Licht tut weh, Riechen und Schmecken ist ein Abscheu, das liebkosende Flüstern und Fragen der Kinder eine Marter, und wenn eines Menschen Fußspitze an den Pfosten des Bettes stößt, möchte man aufschreien vor Schmerz.

Kerkhoven weiß, was es mit dieser Angst auf sich hat. Sie ist sein spezielles Studium gewesen, und er hat ihr viele Namen in allen ihren Abstufungen verliehen. Die Erfahrungen, die er gewonnen, hier sind sie kein Behelf, sie lähmen ihn. Sie lassen ihn etwas erkennen, was er nicht in sein Bewußtsein aufnehmen möchte und doch aufnehmen muß: sinnliche Verstrickungen und Bindungen, Abgründe sinnlicher Aufgelöstheit, von denen die erschöpften Nerven Kunde geben, denn in ihnen wohnt noch die Erinnerung wie in einem künstlich zum Schlagen gebrachten Herzen auf dem Seziertisch die Erinnerung an das ehemalige Leben. Es ist der Pendelausschlag nach der andern Seite, die Zuckungen der Glut rückwirkend in die Kälte, das Grauen als Metamorphose der Lust. Diese ärztlich-analytische Einsicht wird für ihn zum zentralen Unheil. Sie treibt seine Phantasie in die Richtung der Selbstzerfleischung. Sie erzeugt zwanghaft jene Folge von Bildern, die ihn besessen machen von dem Wunsch, zu morden, dem Menschen das Messer in die Brust zu stoßen, den er nicht mehr anders sehen und denken kann als in der Umarmung mit Marie. Nur das eine könnte ihn befreien und ihm die innere Ruhe wiedergeben: wenn er den Menschen morden könnte. Bestialische Anwandlung; verächtlicher Trieb; aber was soll er dagegen tun? Es ist ein Gefühl wie Heißhunger, er kann nicht Herr darüber werden, es macht ihn verrückt, er wird zu einer mitleidswürdigen Kreatur.

Und Marie schickt sich darein, ihm in allem Rede zu stehen, was er zu wissen begehrt. Es ist das nie versagende Mittel, ihn in ihrer Nähe zu halten. So lange er bei ihr ist, kommt die Angst nicht ganz an sie heran. Deshalb nimmt sie die Pein auf sich, die ihr die unablässige Inquisition bereitet. Auch ist in der Pein ein tiefer verhohlener Reiz. Sie spürt instinktiv, daß er nicht geschont sein will, folglich schont sie ihn auch nicht. Wenn sie sich genügend mit Worten gezüchtigt hat, irren ihre Träume und ihr Verlangen hinüber in den Bereich des gewesenen Glücks, und sie spricht davon mit den Zeichen der Euphorie und Trunkenheit. Ihre verworrenen Erzählungen bewegen sich in Fieberkurven. Bald schildert sie ihre moralischen und seelischen Leiden unter dem Zwang zur Lüge und Verstellung und unter der tyrannischen Herrschsucht ihres Geliebten, bald will sie von keiner Schuld und Verfehlung hören und verficht trotzig die sogenannten Rechte der Persönlichkeit. Hat sie eben noch Haß und Bitterkeit auf den Namen des Menschen gehäuft, dem sie sich in unbändiger Verschwendung geschenkt, und damit dem beklommen lauschenden Kerkhoven die Seele noch tiefer zerwühlt, so redet sie einen Atemzug später mit einer geradezu schaurigen Zärtlichkeit von ihm wie von einem vergötterten Toten.

Es ist eine völlig fremde Marie. Es ist nicht mehr die Frau, die ihm zwei Kinder geboren und ihn auf seinem schweren Weg als Kamerad begleitet hat. Er entsinnt sich, vor sechzehn Jahren hat sich etwas Ähnliches zugetragen, damals, als er sie kennen gelernt, als sie sich, ihres Körper- und Seelengesetzes nicht achtend, an einen gewissenlosen Abenteurer hingegeben hatte. Aber damals hatte er begriffen, denn er hatte eben angefangen, sich selbst zu begreifen und zu erleben. Jetzt steht ein Mensch mit einem unzugänglichen Geheimnis vor ihm. Und vor dem Geheimnis hängt ein schwarzer Vorhang, die Angst. Und er, Kerkhoven, soll der Wächter des schwarzen Vorhangs sein. Während ihn die Begierde verbrennt, zu erfahren, was dahinter ist, soll er um jeden Preis verhüten, daß der Vorhang sich hebe und das Geheimnis enthülle. Dabei soll er so tun als kenne er es, denn es hat ja immerfort den Anschein als erschließe ihm Marie die verborgensten Winkel ihres Innern.

Eine unmögliche Situation. Er ist nicht mehr Arzt, nicht mehr Heiler, nicht mehr Beichtiger, nicht mehr Retter. Die Ungeduld, den Vorhang zu zerreißen, macht ihn seinem Wächteramt abspenstig. Er wird zum Unarzt, zum Widerarzt, zum Wundenaufreißer. Das Geschlecht in ihm ist beleidigt, der Mann ist gedemütigt, das Männchen wehrt sich und tobt. Eine Stufe der Erniedrigung, auf der er Gestalt und Wesen einbüßt. Man kann sich also nicht wundern, daß er mit Marie gemeinsam in die Tiefe stürzt.


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