Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Die Sitzung fand in Kerkhovens Arbeitszimmer statt, das unter dem Dach des Hauses lag und das unverkleidete Gebälk als Decke hatte, ein Raum von zwanzig Schritt Länge und elf Breite. Fünf oder sechs hohe Stehlampen beleuchteten ihn, außerdem eine Anzahl Glühbirnen, die hinter den Balken versteckt waren. Die verhängten Fenster waren hoch in der Mauer angebracht. Marie und Else Wys-Wiggers saßen nebeneinander auf einer geschnitzten Bank; Agnes Mordann, die sich nach einigem Zaudern bereit erklärt hatte, die Protokollführung zu übernehmen, hatte sich an einem mit Büchern beladenen Tisch in der Mitte niedergelassen, Schreibpapier und ein halbes Dutzend gespitzte Bleistifte vor sich; Emilie Thirriot kauerte mit ängstlichen Mienen auf dem Rand eines breiten Lederfauteuils, und Kerkhoven, nachdem er eine Weile auf- und abmarschiert war, nahm ihr gegenüber Platz auf einer Wandbank beim Kamin.

»Wir möchten, Frau Thirriot, daß Sie uns etwas über gewisse Vorgänge erzählen, die uns nahe angehen, am nächsten die Schwester Else,« begann er mit leiser Stimme, die die Frau zu größter Aufmerksamkeit nötigte; »Sie müssen jetzt vergessen, wo Sie sind und sich zurückversetzen in ein bestimmtes Haus. Können Sie das Haus finden? Es leben drei Leute darin, eigentlich vier. Der Mann heißt Karl, die Frau Selma, noch eine Frau, ein Fräulein vielmehr, namens Jeanne, und eine Magd. Was geht eigentlich vor in dem Haus, Frau Thirriot? Die Frau scheint krank zu sein, es ist ein Tag im Dezember... die Frau hat sich zu Bett gelegt... können Sie uns sagen, was mit ihr ist?« – Der Blick der Thirriot wandte sich langsam gegen Schwester Else und gegen Marie, um dann erschrocken ins Leere zu fallen. Wieder nahmen die Züge den verwischten Ausdruck an als sei ein Pinsel mit grauer Farbe darüber gefahren; wieder erschien in den bernsteingelben Augen das dumpfe, tiefe Licht. Sie seufzte und nickte ein paarmal bedächtig vor sich hin. »Och, das ist ein langes Übel,« sagte sie in schläfrigem Ton, »die haben schlecht mit einander gelebt. Ein miserables Leben war das. Warum hat sie denn der Mann wieder geheiratet, wo er sie doch endlich los war? Es tut ja kein gut. Ließe er wenigstens die Jeanne nicht im Haus. Die Frau ist ganz rabiat darüber, wenn mans ihr auch nicht anmerken kann; wenn sies auch selber so gewollt hat. Aber das war nur zum Schein. So ist es immer bei ihr. Sie denkt sich was Arges aus, und wenn die Folgen kommen, hat der andere Schuld. Och, mit der ist nicht gut Kirschen essen.« – »Was hat es denn zwischen den Eheleuten gegeben, bevor sich die Frau ins Bett gelegt hat?« fragte Kerkhoven. – »Och, da hat es bösen Streit gegeben. Ja... warten Sie mal... was die ihm alles sagt... und er nimmt sich auch kein Blatt vor den Mund... wie die Verrückten gehen sie aufeinander los. Die Jeanne will Frieden stiften, der Karl will ja gern abbitten, aber die Selma faucht ihn böse an und draußen sagt die Jeanne zu ihm: bereust du jetzt, was du getan hast? siehst dus ein? Da packt er ihre Hände und schüttelt sie und schaut zum Himmel hinauf. Derweil sitzt die Selma... ja, warten Sie mal... da hat sie ein Schreibheft... da schreibt sie immer auf, was geschehen ist. Und ihre Gedanken schreibt sie auch hinein. Aber wie ist denn das? sie schreibt ja lauter falsche Sachen... sie lügt ja... och, was ist denn das für eine... das sind ja lauter Lügen... warum macht sie denn das?« Sie hielt inne und rieb sich mit den Fingern über die Stirn. Schwester Else gab es einen Ruck. Mit bebenden Wimpern schaute sie der Thirriot ins Gesicht und wollte etwas sagen. Kerkhoven winkte ihr zu, still zu sein. »Sprechen Sie nur weiter, Frau Thirriot,« sagte er, »wir sind ganz im Bilde. Die Frau, die Selma, macht also lügenhafte Angaben in ihrem Tagebuch. Sehr interessant. Was bezweckt sie denn damit?« – Die Thirriot rieb immer noch mit den Fingern über die Stirn. »Sie hat einen Plan... einen niederträchtigen Plan... ich kanns noch nicht recht sehen... nein, ich weiß noch nicht... kann sein, sie weiß es selber nicht genau... es ist ihr zumut als müßte sie alles um sich in Stücke reißen... am liebsten möchte sie das Haus anzünden. Alles fiebert nur so an ihr. Sie hat schon einmal den Versuch gemacht, sich und das Kind umzubringen. Das war im Juni. Dann ist sie wieder davon abgestanden. Sie hat gehofft, dadurch wird sie den Mann klein kriegen, er hatte es immer gleich mit dem Mitleid. Und einmal hat sie auch ihn vergiften wollen. Fortwährend sind Mordgedanken in ihrer Seele. Och, eine Zerrissene ist das, eine Heillose...«

Ihr Gesicht krampfte sich zusammen. Es schien sie eine qualvolle Anstrengung zu kosten, die innerlich erschauten Vorgänge festzuhalten. Marie und Schwester Else getrauten sich kaum zu atmen. Sogar Agnes Mordann warf die Zigarette weg und blickte die Thirriot gespannt an. »Bleiben wir vorläufig bei dem Abend, an dem der furchtbare Streit stattgefunden hatte, Frau Thirriot,« sagte Kerkhoven ruhig; »ich möchte, daß wir Stunde für Stunde verfolgen, was hernach geschah. Hoffentlich fällt es Ihnen nicht zu schwer.« – »Ich will mal sehen. Warten Sie mal...« Bei dieser ständig wiederkehrenden Phrase sank ihr Kopf gegen die Brust, und die Augen fielen ihr halb zu. – »Welche Zeit mag es gewesen sein, als der Mann nachhause kam? Halb zehn vorüber, scheint mir...« – »Nein, früher, sieben Minuten vor halb.« – »Ist eine Uhr im Zimmer?« – »Ja, auf der Kommode steht eine alte französische Uhr.« – »Und wie der Streit vorüber ist, wieviel zeigt die Uhr da?« – »Viertel elf.« – »Ist es das Schlafzimmer der Selma?« – »Ihr Bett steht drin, ja.« – »Und nachdem der Karl und Jeanne das Zimmer verlassen haben, legt sie sich nieder?« – »Ja, sie zieht sich aus. Sie hat eine weiße Nachtjacke an mit Perlmutterknöpfen.« – »Sie können das ganz genau sehen?« – »Ja, ganz genau.« – »Dann können Sie gewiß auch beschreiben, was sie von da an vornimmt, und wie überhaupt die Nacht verläuft?« Alle warteten erregt auf die Antwort; am Morgen nach dieser Nacht hatte ja die Todeskrankheit der Selma Imst begonnen.

Etwa anderthalb Minuten lispelte Frau Thirriot unhörbar vor sich hin, und alle neigten den Kopf vor, um sie zu verstehen. Allmählich wurden die Worte deutlich. Durch die Suggestion, die von ihnen ausgeht, befindet man sich im Schlafzimmer der Selma Imst. Auf dem Nachttisch brennt das elektrische Licht. Im Haus ist es vollkommen still. Selma horcht und horcht. Plötzlich verzerren sich ihre knochigen Züge, und sie gebärdet sich wie rasend. Sie schlägt mit den Fäusten um sich, dreht den Kopf hin und her und beißt ins Kissen. Dabei schluchzt und stöhnt sie ununterbrochen, alles in der Absicht, dadurch den Mann aufmerksam zu machen und ihn zu zwingen, daß er zu ihr komme. Aber es rührt sich nichts. Gegen Mitternacht dreht sie das Licht ab. Sie findet keinen Schlaf. Gegen halb zwei macht sie wieder Licht, steht auf, setzt sich an den Tisch und schreibt ein paar Zeilen in ihr Tagebuch. Sie schreibt: es wird ihm heimgezahlt werden, was ich leiden muß, das Schicksal wird ihn schon strafen. (Das war die wirkliche Fassung der betreffenden Stelle im Tagebuch, Frau Thirriot hatte davon unmöglich wissen können.) Dann kriecht sie wieder ins Bett und wälzt sich bis halb fünf Uhr schlaflos herum. Dann steht sie abermals auf, geht in die Küche und stellt Wasser auf den Spiritusbrenner, um Tee zu kochen. Mit der gefüllten Tasse kehrt sie ins Schlafzimmer zurück. Sie stellt die Tasse auf den Nachttisch und wandert in ihren Pantoffeln ruhelos im Zimmer auf und ab. Bisweilen wühlt sie alle zehn Finger in die Haare und heult leise vor sich hin. Einmal bleibt sie vor dem Spiegel stehen und betrachtet ihr übernächtiges Gesicht. Es ist jetzt dreiviertel sechs. Sie geht zur Kommode hin und rüttelt an der zweiten Lade. Die Lade ist versperrt, sie sucht den Schlüssel. Sie ringt verzweifelt die Hände, endlich findet sie den Schlüssel, er liegt hinter der französischen Uhr. Sie sperrt die Lade auf, beginnt wieder hastig zu suchen, wirft Strümpfe und Taschentücher durcheinander, bis sie auf eine längliche Schachtel stößt, die mit einem Seidentuch umwickelt ist. Sie öffnet die Schachtel, ein weißes Pulver ist drin, sie geht zum Nachttisch, schüttet von dem Pulver mehr als auf einen Eßlöffel geht in die Teetasse, rührt herum, murmelt etwas mit zuckenden Lippen und trinkt die Tasse in einem Zug leer. Dann schüttet sie von dem weißen Pulver nocheinmal so viel wie sie schon genommen hat auf ein Blatt Papier, dreht es an den Enden zusammen, daß es wie ein Säckchen aussieht und versteckt es in der Nachttischlade unter einen Bausch Watte. Hierauf geht sie mit der Schachtel hinaus auf den Abort, schüttet das ganze Pulver in die Schale und läßt es mit der Wasserspülung ablaufen. Sie beugt sich sogar noch herunter, um nachzusehen, ob kein Rest von dem Pulver an der Schale kleben geblieben ist. Dann überlegt sie, wo sie die Schachtel verstecken kann. Die Schachtel muß sie um jeden Preis aus dem Weg räumen. Sie möchte sie verbrennen, aber im Herd ist noch kein Feuer, die Magd ist noch nicht aufgestanden. Sie hat Eile, jeden Augenblick können die Schmerzen beginnen. Wenn die Magd das Frühstück bringt, will sie die zweite Portion von dem Gift nehmen. Vielleicht aber erst Mittag oder Nachmittag, je nachdem die Wirkung ist. Jedenfalls will sie sicher gehen, und von dem Pulver im Nachttisch darf nichts übrig bleiben. Sie steht schlotternd im kalten Flur und denkt nach. Da fällt ihr Blick auf das eiserne Kamintürchen. Schnell hebt sie den Riegel, öffnet das Türchen und wirft die Schachtel in das russige Loch hinein. Dann geht sie in ihr Zimmer, schlüpft ins Bett und streckt sich lang aus, die Arme auf der Decke, und so um halb sieben herum fangen ihre Eingeweide an zu brennen, und es wird ihr gräßlich übel; da läutet sie nach der Magd, die jetzt schon in der Küche ist...


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