Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es waren zum Teil recht schwierige Gedankengänge, die er ihr entwickelte, und es dauerte ziemlich lang, bis er sich dazu entschloß, wie wenn er erst ihre Aufnahmefähigkeit, die Kapazität ihres Gehirns hätte prüfen wollen. Alles Werdende ist in seinen Uranfängen einfach, führte er aus. In der Keimzelle herrscht zunächst der formbildende Instinkt, der nach einem festen Bauprogramm arbeitet. Was er schematisch erzeugt, das Gerüst gleichsam, birgt weitere Gliederungen in sich, die sich immer verfeinerter differenzieren. Es treten nacheinander auf den Plan die morphologischen Kräfte für die dringliche Selbsterhaltung, hernach die Organe für die Erhaltung der Art. Dann folgen, wie bei einer Präzisionsmaschine, die Träger der Welt der Bewegung und Empfindung, der Orientierung und der Kausalität. In den weiteren genetischen Vorgängen sind die schöpferischen biologischen Kräfte zu suchen für die seelischen Entfaltungsmöglichkeiten der Kreatur. Die Ouvertüre des vitalen Dramas setzt schon früh ein, freilich nur mit wenigen Instrumenten und im Piano, sozusagen mit kleinem Orchester.

Die untersten Wurzeln der Religion liegen nicht, wie Wissenschaft und Seelenforschung immer annehmen, im Gefühlsbereich; nicht in den Gedanken an die Unsicherheit des Schicksals, in der Furcht vor dem Untergang, im Bestreben nach Sicherung, in der Sucht nach Macht und Erfolg, sondern viel tiefer, in weit zurückreichenden Entwicklungszuständen, wo von Bewußtsein noch nicht die Rede sein kann, dort, wo die für das Lebensprogramm tätigen Urkräfte das seelische Wachstum des Menschen bestimmend vorbereiten.

Nicht nur ist also das Protoplasma, das einzellige und durch Abschnürung sich vermehrende Lebewesen, unsterblich, sondern es ist auch in der Gesamtreihe auf die Ewigkeit eingestellt. Ewigkeit ist aber die absolute Zeitlichkeit, die alle denkbaren zeitlichen Schichten und Strukturen in sich schließt. Der Anspruch auf vitale Behauptung wird nicht so sehr vom Einzel-Ich repräsentiert, er liegt vielmehr in der Fortsetzung des Ichs gegen die ihm innewohnende Unendlichkeit. Dieses unbekannte Treibende in uns, die individuelle Horme und ihre ausgeprägteste Form, das biologische Gewissen, leiten mit sicherer Hand unsere Lebensaufgaben und Geschicke, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, das heißt nicht derart, daß uns das Wesen ihrer Energien verständlich wird; im Gegenteil, die unmittelbaren Begierden und Forderungen des Ichs blenden uns gewöhnlich so, daß wir unsere wahren Zukunftsinteressen überhaupt nicht ins Auge fassen können; (eine Geistesverfassung, die in dem Buch über den Wahn als »reziproke Anastole« bezeichnet war). Jedoch arbeitet jenes Treibende schlummernd und verborgen und kommt im entscheidenden Augenblick an die Oberfläche, nämlich sobald unsere höheren seelischen Güter angetastet oder in Frage gestellt werden.

Was man gemeinhin psychisches Gefühl nennt, beruht auf dem Begriff des Lebens, es ist in jedem organisierten Protoplasma miteingeschlossen und verrichtet eine Spiegelfunktion. Mit ihm beginnt die Persönlichkeit, es ist gewissermaßen eine stete Momentaufnahme der vitalen Bilanz, es löst im Zentralnervensystem blitzartig das Bewußtsein von Vergangenheit und Zukunft aus und spielt endlich in unseren Beziehungen zum Gesamtkosmos die bestimmende Rolle als religiöser Instinkt.

Aber von der Welt der Gefühle zur religiösen Welt ist ein gewaltiger Sprung, wenn auch die Religion durchaus der Welt der Gefühle und Instinkte angehört und nicht der Welt der Empfindung und Bewegung. Dieser ist allerdings aufgegeben, aus den archaischen Gefühlen ein hohes seelisches Gebilde zu formen, indem sie auf der Basis unzähliger sich wiederholender Konflikte Klärung und Reinigung in unsere Handlungsnormen bringt und somit zur Krone der gesamten psychischen Entwicklung wird.

Der Forscher oder Wissenschaftler, der vor dem Problem der Religion Halt macht, verdient diesen Namen nicht mehr. Doch darf er nicht außer acht lassen, daß auf religiösem Gebiet die gebräuchlichen Worte rohe Behelfe sind, mit denen er nicht weiter kommt. Er muß neue Begriffe bilden, sich neuer Anschauungsformen bedienen, muß seherische Gaben besitzen und mit vorurteilslosem Geist in die Tiefe gehen. Das religiöse Gefühl gibt in letzter Linie den harmonischen Zusammenhang aller veredelnden seelischen Faktoren unseres Daseins wieder. Religion unterscheidet sich von Wissenschaft durch die beherrschende Rolle des Persönlichen, durch das Element des Glaubens. Der Glaube stellt die mächtigste Urform des inneren Geschehens dar. Die exakteste Forschung ist nicht lückenlos. Keine logische Schärfe rettet wissenschaftliche Annahmen vor dem Zusammenbruch, wenn dabei die Seelenkräfte vernachlässigt wurden, die bei noch genauerer Untersuchung und vor einem noch unbestechlicheren Auge plötzlich eine vorher nicht geahnte Bedeutung erlangen.

Unmöglich, zu verkennen, daß die Geschichte der Nationen und der Völker, ja der ganzen Menschheit von einer Welthorme gelenkt und geordnet wird, die selbst wieder gewaltigen Erschütterungen und Schwankungen unterworfen ist. (Er zitierte das Wort von Quinet: l'histoire n'est au fond qu'un itinéraire des peuples vers Dieu.) Ein unnennbares Wesen jedenfalls, gleichviel welchen Namen man ihm verleiht. Ein das Universum umfassendes und durchdringendes, geheimnisvolles, alle Lebensvorgänge potenzierendes Gut. Der Gedanke nun, daß ein solches, der Anschauung unzugängliches, der Seele gleichwohl innewohnendes höchstes Wesen ebenso erschütterbar und wandelbar sein könne wie das niederste der Geschöpfe, daß es sich selber im Wandel neu erschaffe, sterblich-unsterblich, dieser Gedanke war es, der den Arzt und Denker Kerkhoven unmittelbar zum Glauben führte, denn die Vorstellung eines schicksalsbeteiligten, schicksalsergriffenen Gottes war eine menschliche Erreichbarkeit, der Sinneserfahrung noch nah. Nur so konnte das ungeheure Leiden der Welt ertragen werden. Was sich als unausdenklich dem Vernunftschluß entzog, wurde Bild, ungefähr wie wenn sich ein Sternennebel durch einen kosmischen Krampf zu einem erhabenen kraftspendenden Kristall verdichtet. Es war trotzdem ein Irrweg. An seiner letzten Station deckte er das Grundgesetz allen Wahns auf. Es war der Surrogat-Glaube, in den er geflüchtet war, der Wahn, wenn auch in seiner äußersten, verdünntesten Schicht, Wahn an der Grenzscheide des Glaubens, im Endlichen und Zeitlichen noch. Wahn ist erdverhaftet und anthropomorph; Glaube hat die Gestalt geopfert: der Sieg der Horme über das Protoplasma...


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