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Das Befinden Aleids machte gute Fortschritte. Am andern Mittag, nach einem längeren Besuch im Spital, fuhr Kerkhoven nach Seeblick. Er bat Marie in sein Zimmer und teilte ihr das Vorgefallene mit, ohne sich mit Verhehlungen und Beschönigungen aufzuhalten. Er wußte, daß Marie eine furchtbare Wahrheit, die sie mit einem Schlag erfuhr, leichter ertrug und verwand als eine hingezogene Verteilung, die den inneren Aufruhr nur verstärkte. Sie blieb ganz still. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, aber sie sagte kein Wort. Als sie aufstand, um die Vorbereitungen zur Fahrt nach Zürich zu treffen, schleppte sie sich schwer zur Tür. Kerkhoven ging ihr nach und umarmte sie. Widerstandslos ließ sie sich an seine Brust sinken. Mit geschlossenen Augen und zuckenden Lippen lehnte sie den Kopf an seine Schulter. »Dank dir,« flüsterte sie, »dank dir, daß du gut zu mir bist.« – »Fühlst du dich fähig, allein zu fahren?« fragte er. – »Ich versuchs,« antwortete sie, »wenns mir schlecht geht in der Stadt, ruf ich dich.«
Sie rief ihn nicht. Am Donnerstag Abend fuhr sie, am Sonntag kam sie mit Aleid zurück. Obwohl keineswegs hergestellt, war diese doch außer Gefahr. Man hatte sie der Mutter übergeben, da man voraussetzen durfte, daß sie im Haus Seeblick in sachgemäße Pflege kam. Die kurze Reise hatte schon einen Rückfall bewirkt. Die Sprache war lallend, der Kornealreflex fehlte. Kerkhoven verordnete strenge Bettruhe.
Am selben Tag gelang es ihm zum ersten Mal, die seelische Verkrampfung Jeanne Mallerys zu lockern. Im Verlauf eines anderthalbstündigen Gesprächs brachte er sie mit unbeschreiblicher Geduld dahin, daß sie ihm eingestand oder wenigstens andeutete, was ihr Gewissen bedrückte. Natürlich war er sich von vornherein darüber klar; sie durfte es nur nicht länger unenthüllt mit sich herumtragen. Es war die Frage, ob ein Wunschmord möglich sei, die sie quälte. Nicht als hätte sie sich dieses Wortes bedient; der Begriff als solcher war ihr fremd, aber dem Sinn und der Tat nach war es Wunschmord, Phantasiemord, dessen sie sich schuldig gemacht. Dem lag alter Volksglaube, finsterer Hexenwahn zugrunde. Ist man einmal an diesem Wahn erkrankt, so kann es ja geschehen, die Erfahrung beweist es, daß man sich selber Hexen- und Zauberkünste andichtet, wenn sich ein Geschehnis vollzieht, das mit einem geheimen Verlangen übereinstimmt, so als ob die Natur wirke, was die Seele sündhaft erträumt hat. Das Urböse in einer Gestalt wie der Selma Imst hatte wie durch giftigen Anhauch alles um sich herum zersetzt, wobei das Merkwürdige war, daß dieses Böse nur selten in seiner Nacktheit hervortrat, sondern meist in niedrigen Verkleidungen, als Verleumdungssucht oder Gier oder Lügenhaftigkeit. Bei der Imst spielte hauptsächlich der kleine vulgäre Geiz eine Rolle. Jeanne erzählte zum Beispiel, daß sie im Anfang ihrer Beziehung zu den Imsts in deren Haus als Kostgängerin gelebt habe. Eines Tages hatte sie das Mittagessen zu spät abgesagt, d. h. erst gegen elf Uhr. Es war noch nichts gekocht, nur ein Topf mit Wasser stand auf dem Herd. Selma war wütend über die Absage und verrechnete Jeanne Mallery zehn Centimes, nämlich für das Salz, das sie in den Topf getan und die Kohlenmenge, die beim Kochen des Wassers auf sie fiel. Aus solchen Einzelheiten und einer ganzen Reihe anderer, die er kannte oder nach Analogieschlüssen zusammenfügte, baute Kerkhoven vor der entsetzt lauschenden Jeanne ein Charakterbild auf, das sie ohne weiteres zu der Anschauung führte, wie sich die Dinge in Wahrheit zugetragen. Ein Kind mußte es begreifen, und Jeanne, mit ihrem einfachen Verstand und nüchternen Tatsachensinn, sah auf einmal völlig klar. Es machte ihr einen gewaltigen Eindruck. Indem er die abgefeimte Planung der Frau, den Selbstmord als Mord zu arrangieren, Zug für Zug auseinanderfädelte, fiel es wie Schuppen von Jeannes Augen; schließlich schrie sie auf: »Großer Gott, ich habs ja immer geahnt! ich hab mich nur nicht getraut, es zu glauben. Also das!« – »So war es, so muß es gewesen sein,« sagte Kerkhoven; »dem Gericht hat der Beweis des Freitods genügt, auf den Zweck, der noch damit verbunden war, brauchte es sich nicht einzulassen. Man darf auch nicht darüber nachdenken. Sie wissen es jetzt, vergessen Sie es.« – »Aber kann man so jemand noch einen Menschen heißen?« fragte Jeanne mit gefalteten Händen. – »Ach ja, ach doch,« erwiderte Kerkhoven freundlich, »in der Hinsicht darf man nicht knausern. Sehen Sie, meine Liebe, jeder von uns ist in jedem Augenblick gleich fähig zum Guten und zum Schlechten. Wir wissen nicht einmal immer, ob es gut oder schlecht war, was wir getan haben.« Jeanne Mallery sah ihn sinnend an. Plötzlich packte sie seine Hand mit einer Bewegung als wolle sie ihre Lippen darauf drücken. Er konnte es noch rechtzeitig verhindern.