Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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15

Von der Stehuhr im Nebenzimmer schlug es eins. Marie stand auf, trat ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und sah in die Nacht hinaus. Ihr Gefühl war heillos verwirrt. Das Vernommene dünkte sie so abenteuerlich, so drohend und finster überraschend, daß sie Mühe hatte, an die Worte zu glauben. Der Mann, der hinter ihr noch immer in gleichmäßigem Rhythmus auf- und abging, erschien ihr als ein anderer denn der, den sie kannte. Einer, der nie brüderlich und liebend ihr Leben geteilt, der so fremd, so streng, so ungeahnt entschlossen war, daß sie auf einmal schmerzliche Sehnsucht nach ihm verspürte wie wenn er bereits Abschied genommen und unerreichbar weit weg wäre. Konnte sie ertragen, was er ihr auferlegen wollte? Das war die Frage. Und wenn sie der Prüfung nicht standhielt und zerbrach? Wenn die innere Aufgabe, die sie auch ihrerseits sich gestellt und die sie bis jetzt nur in allgemeinen Umrissen sah, bloß ein Wunschtraum war? Wenn sie gar nicht fähig war, als Frau allein ihr Leben zu gestalten? wenn die schmeichelhaften Stimmen, die ihr eine Eigenentfaltung versprachen, selbstverliebte Täuschung waren? wenn sie die Kraft, die sie sich zugetraut, gar nicht besaß? auch nicht die Kraft, zu warten? Und wo war die Gewähr dafür, daß er nicht stürzte und an sich und seinem Ziel endgiltig verzweifelte? Konnte sie wissen, ob er je zu ihr zurückkehrte? Wissen, wohin es ihn verschlug? Eine ungeheure Natur, ja, ein Baum, aber gerade solche werden oft jäh gefällt, und was dann?

Während sie die Stirn an die kühle Scheibe drückte, irrte ihr Blick zur Höhe, und sie sah einen Stern fallen. Es war wie das Aufblitzen einer feurigen Lanze. Sie fuhr zusammen. Sie dachte an ihren Traum. Sie neigte den Kopf: war das Gottes Blick? Da spürte sie Kerkhovens Hände auf ihren Schultern. Sie lehnte sich gegen ihn zurück. Sie tastete nach seinen Händen, und als er ihre Gelenke umgriff, sagte sie leise, im Ton der Gelobung: »Ja, Joseph, ja.«


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